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Vor fünfzig Jahren ging das Zweite Vatikanische Konzil zu Ende

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Als sich im Herbst 1962 rund 2.540 Bischöfe, Äbte, Theologen zum Zweiten Vatikanischen Konzil versammelten, da war zum ersten Mal in der Geschichte tatsächlich die Weltkirche in Rom zugegen: Afrikaner, Asiaten, Lateinamerikaner aus den jungen Kirchen der Dritten Welt, nicht bloß die importierten Missionsbischöfe aus dem alten Europa. Mit ihnen zogen die Probleme der gegenwärtigen Welt in die Konzilsaula ein, die Ängste und Sehnsüchte moderner Menschen, die Schwierigkeiten, die sie mit der alten Dame „Kirche“ haben, und die leise Hoffnung auf ein Wort, das die Welt verändern könnte.

Als das Konzil nach vier Sitzungsperioden am 8. Dezember 1965, vor genau einem halben Jahrhundert, zu Ende ging, da hatte die uralte Mutter Kirche tatsächlich Mauern eingerissen, Türen und Fenster geöffnet. Die Anerkennung anderer christlicher Gemeinschaften als Kirchen, das Bekenntnis zur Religionsfreiheit, die neue Hochachtung anderen Religionen gegenüber, die Betonung der Mitverantwortung der Bischöfe in der Kirchenleitung, die Hochschätzung eigenständiger Laienaktivitäten, die Solidarität mit Sehnsüchten und Leiden der Zeit – das ist heute selbstverständlich, musste damals in Rom jedoch erst unter harten Kämpfen durchgesetzt werden.

„Es ist damals in Rom die Mär gegangen“, erzählt einer der ältesten noch lebenden Konzilsbeobachter – der 84-jährige emeritierte Wiener Weihbischof Helmut Krätzl gehörte als Student zu den Konzilsstenografen –, „das Konzil werde sehr kurz dauern. Die Vorbereitungsarbeiten haben die Kurialtheologen gemacht, die zum Teil sehr konservativ waren. Man hat gedacht, die Bischöfe werden in Ehrfurcht diese Dokumente lesen, abstimmen, und in vierzehn Tagen ist alles vorbei.“

Doch schon am dritten Tag kommt es zum Aufstand: Statt die von der Kurie vorgelegten Kandidatenlisten für die einzelnen Kommissionen einfach abzunicken, melden sich selbstbewusste Kardinäle wie Liénart aus Lyon oder der greise, fast blinde Frings aus Köln zu Wort – obwohl sie eigentlich gar nicht hätten reden dürfen – und erklären, man kenne diese Personen doch gar nicht, und fordern mehr Zeit und die Aufstellung weiterer Kandidaten. Es gibt donnernden Applaus in der Konzilsaula – was auch untersagt war –, und in der Folgezeit werden sämtliche Vorlagen der Kurie gründlich diskutiert und umgearbeitet. Die „Rheinische Allianz“, wie man die fortschrittlichen Kräfte aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und dem deutschen Sprachraum nennt (unter ihnen die Kardinäle León-Joseph Suenens, Bernard Jan Alfrink, Franz König, Julius Döpfner und die „Startheologen“ Karl Rahner, Hans Küng und Joseph Ratzinger), leistet ganze Arbeit.

 

Betagter Papst mit Löwenmut

„Die Bischöfe hatten diesen Mut“, ist Krätzl überzeugt, „weil sie den Papst hinter sich wussten.“ Johannes XXIII. (1958 bis 1963), der geistige Vater der Konzilsidee, sprach gern von einer plötzlichen Inspiration, von einer Eingebung des Heiligen Geistes. Aber der Konzilsplan war kein spontaner Einfall, er erörterte ihn bereits kurz nach seiner Wahl zum Papst – da war er 78 Jahre alt – mit den Wortführern der verschiedenen Fraktionen unter den Kardinälen. Wenn einer den Plan zu verwirklichen vermochte, von dem seine Vorgänger immer nur vage geträumt hatten, dann war es Papst Johannes XXIII.

Denn die uralte, im Westen im Lauf der Geschichte verschüttete, im Osten aber kraftvoll lebendig gebliebene Tradition der kollegialen Kirchenleitung kannte wohl kein Papst des 20. Jahrhunderts, kein Kardinal jener-Jahre besser als der einstige Balkan-Diplomat Angelo Roncalli. Aus der Kirchengeschichte hatte er – ein leidenschaftliche Historiker – gelernt, dass eine Christenversammlung eher etwas mit Erneuerung, Selbstreinigung, Rückkehr zu den Wurzeln zu tun hatte als mit der gebündelten Verdammung zeitgenössischer Ideen. „Wir sind nicht auf der Erde, um ein Museum zu hüten“, pflegte er über die Kirche zu sagen, „sondern um einen blühenden Garten voller Leben zu pflegen.“

Genau dieses Programm gab er seinen Bischofskollegen mit, als er das Konzil eröffnete: Aufgabe der Kirche sei es nicht, den kostbaren Schatz der überlieferten Lehre nur zu hüten und Aussagen der Kirchenväter und Theologen zu wiederholen, „sondern wir wollen uns mit Eifer, furchtlos, den Forderungen unseres Zeitalters stellen“.

Als Johannes XXIII. am 3. Juni 1963 starb, war erst eine Sitzungsperiode des Konzils vorüber. Aber die Bischofsversammlung hatte exakt den Weg eingeschlagen, auf den sie „Johannes der Gute“ geführt hatte – und der auch dem Denken und der religiösen Sehnsucht seines Nachfolgers Paul VI. entsprach. Der hatte als Giovanni Battista Kardinal Montini bei den Konzilsvorbereitungen eine wichtige Rolle gespielt. Experten wie Peter Hebblethwaite sehen in ihm den eigentlichen Kopf der Bischofsversammlung.

Als sich die Debatten festgefahren hatten und die Fülle der vorgeschlagenen Themen in ein Chaos zu münden drohte, legte er ein ebenso nüchternes wie weitblickendes Straffungsprogramm vor: Konzentration auf ein Hauptthema, das Wesen der Kirche, aber nicht in stolzer Selbstbespiegelung, sondern unter dem Gesichtspunkt des Dienstes an den Menschen: „In dieser Welt ist die Kirche nicht Selbstzweck, sie dient allen Menschen“ (Papst Paul VI.). Die Geschichtsforscher sollten einmal über die Kirche der modernen Epoche sagen können: „Sie hat geliebt.“

Es ist tatsächlich eine erneuerte, verjüngte Kirche, die aus dem Zweiten Vatikanum hervorgegangen ist und neuen Schwung gefunden hat, indem sie zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt ist. Diese Kirche will nicht mehr im Getto leben, sondern sich mitten in der Welt engagieren. Sie will keine Insel der Seligen mehr sein, sondern Sauerteig der Erde, Ferment der menschlichen Entwicklung. Gemeinschaft des Gottesvolkes statt Machtpyramide. Pilgerndes Gottesvolk, in der Geschichte unterwegs, lernend und sich entwickelnd, heilig und sündig, statt einer perfekt durchorganisierten Truppe, die sich gern mit dem Reich Gottes verwechselte. Verpflichtung zum Zeugnis statt des Rechts, zu herrschen. Begegnung statt Polemik, Gespräch statt Kampf, Zusammenarbeit statt Abschottung.

Von einer „fundamentalen Zäsur in der Geschichte des Christentums“ sprach der deutsche Theologe Karl Rahner, von einer innerlich angenommenen neuen Haltung gegenüber anderen Christen und gegenüber den nicht-christlichen Weltreligionen. Es sei „etwas Neues geschehen, das irreversibel ist, das bleibt. Ob wir in der dumpfen Bürgerlichkeit unseres kirchlichen Betriebs hier und jetzt dieses Neue ergreifen und leben, das ist eine andere Frage.“

 

Demut und Verdrängung

Rahner, der Prophet, hatte recht: Die Begeisterung des neuen Anfangs ist im Lauf der-Jahre, im mühsamen kirchlichen Alltagsgeschäft verflogen. Die moderne Gesellschaft hat der Kirche ihre Dialogfähigkeit nicht immer geglaubt, die offenen Arme wurden nicht erwidert. Vielleicht hat die Konzilskirche bei ihrem begeisterten Ja zur Welt und zum Fortschritt damals auch zu wenig bedacht, dass das Selbstgefühl der Moderne bereits zu kriseln und zu bröckeln begann. Als die Kirche dann vom weltweiten Missbrauchsskandal erschüttert wurde, der in einem kaum vorstellbaren Ausmaß Vertrauen kostete, brachte er aber auch bei vielen kirchlichen Repräsentanten eine Demut und kritische Reflexion hervor, die man ihnen nicht zugetraut hatte.

Andere flüchteten sich in die alte Wagenburg-Mentalität. Die kürzlich zu Ende gegangene Familiensynode im Vatikan scheint dafür ein Beispiel zu sein. Statt sich ernsthaft auf die gesellschaftliche Realität mit ihren verschiedenen Lebensentwürfen einzulassen und den gescheiterten Ehepaaren, den Alleinerziehenden, den Homosexuellen eine echte Perspektive innerhalb der Kirche anzubieten, wie es der Papst gewollt hatte, blieb es hauptsächlich bei unverbindlichen Freundlichkeiten.

Ist das Konzil nach einem halben Jahrhundert endgültig gescheitert, sind die offenen Fenster, die Johannes XXIII. gefordert hatte, mit lautem Knall wieder zugefallen? Das Jubiläum solle man eher mit einem Bußgottesdienst feiern, meint der widerborstige Konzilstheologe Hans Küng: „Man nutzt die Informationen über die Welt nur, um sich selbst bestätigen zu lassen.“ Alt-Weihbischof Krätzl antwortet auf die Frage, ob ein Drittes Vatikanisches Konzil nötig sei: Bloß nicht! „So wie die Großwetterlage in der Kirche heute ist, würde ein Drittes Vatikanum wahrscheinlich versuchen, eine Korrektur des Zweiten vorzunehmen. Man sollte aber die Potenziale heben. Die heißen Eisen darf man nicht abkühlen lassen.“

Die gemäßigt liberale Katholikin Annette Schavan, ehemals Bundesbildungsministerin und heute deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl, gibt zu bedenken, dass der in Europa abgeflaute konziliare Aufbruch in anderen Teilen der katholischen Welt durchaus noch lebendig sei. Die Kirche stehe immer noch in einem schwierigen Lernprozess.

Genau wie Schavan beharrt Hans Maier – einst bayerischer Kultusminister und Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken – darauf, die Kirche könne nicht hinter die im Konzil formulierten Positionen zurück, und hofft auf einen „gelegentlichen kleinen Aufstand beim Kirchenvolk“. Der renommierte Konzilsforscher Günther Wassilowsky, Kirchenhistoriker in Linz, rät zur nüchternen Geduld: Statt der vom Konzil intendierten Stärkung der Bischöfe und der Laienverantwortung sei zwar ein römischer Zentralismus zu beobachten, „wie es ihn nie zuvor in der Kirchengeschichte gegeben hat“. Aber „hätte es dieses Konzil nicht gegeben, wären die Schwierigkeiten der katholischen Kirche noch viel größer“.

Die Texte seien keineswegs beliebig interpretierbar und von konservativen Gruppen umzufunktionieren. Denn viele scheinbar mögliche Interpretationen seien „im Ereignis des Konzils ausdrücklich zurückgewiesen“ worden. Zum Beispiel habe allein schon die Einberufung des Konzils mit dem vom unvollendeten Ersten Vatikanum suggerierten Irrglauben Schluss gemacht, der Papst könne ohnehin alles entscheiden und Bischofsversammlungen seien in Zukunft überflüssig. Wassilowsky: „Deshalb spielt die Rede vom ‚Geist des Konzils‘ sehr wohl eine Rolle.“

 

Christian Feldmann, geboren 1950 in Regensburg, Journalist, Rundfunk- und Buchautor, mehr als fünfzig Buchveröffentlichungen, in siebzehn Sprachen übersetzt.

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