Deutschland ist nach wie vor die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Manchmal erweckt die aktuelle öffentliche Diskussion den Eindruck, wir seien gänzlich abgehängt und hätten keinerlei Zukunft. Das stimmt nicht, und in dieser Diskussion werden die vielen gut ausgebildeten, klugen, fleißigen und hart arbeitenden Beschäftigten, die das Land am Laufen halten und das auch in Zukunft tun wollen, vergessen.
Stefan Wolf: Es hilft nichts, die Lage schöner zu reden, als sie ist. Und sie ist dramatisch. Wir sind im dritten Rezessionsjahr, das gab es seit Gründung der Bundesrepublik noch nie. In der deutschen Industrie gehen aktuell jeden Monat bis zu 10.000 Arbeitsplätze verloren. Die Produktion in der Metall- und Elektroindustrie liegt fünfzehn Prozent unter dem Vorkrisenniveau von 2018 – also vor der Industrierezession 2019, vor der Corona-Pandemie 2020 und vor Beginn des Ukraine-Krieges 2022. Das liegt daran, dass die Produktion in Deutschland so teuer geworden ist und daher die Produkte nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähig sind. Der Standort hat ein massives Kostenproblem.
Dabei sind die hohen Löhne allein nicht das größte Problem – es sind die vergleichsweise wenigen Stunden, die dafür gearbeitet werden, und es sind vor allem die Sozialversicherungsabgaben, die die Arbeit immer noch mehr verteuern. Steuern, Energiekosten und eine kafkaeske Bürokratie kommen noch hinzu. Die Folge ist, dass Unternehmen in der Summe keinen einzigen Standortfaktor mehr positiv bewerten und deshalb an Standorten im Ausland investieren. Noch haben wir genug Substanz, um das umzukehren. Die gute Nachricht ist, dass die Probleme hausgemacht sind, also können wir sie auch selbst in Deutschland lösen. Aber die Politik muss schnell handeln und Reformen umsetzen, die die Wettbewerbsfähigkeit wieder steigern.
Welche Veränderung müsste an erster Stelle stehen, um die Lage der deutschen Industrieunternehmen und ihrer Arbeitskräfte zu verbessern?
Christiane Benner: Zwei neuralgische Punkte mahnen wir als IG Metall seit längerer Zeit an, die jetzt dringend umgesetzt werden müssen. Erstens: Wir brauchen für die Industrie, besonders die energieintensiven Betriebe, aber auch für die Verbraucher schnell niedrigere Energiekosten. Viele denken in diesem Zusammenhang nur an die großen Stahlkonzerne, die von den hohen Energiekosten natürlich erheblich betroffen sind. Aber daran schließt vieles Weitere an: Kleine Gießereien und Aluminiumbetriebe, die auf wettbewerbsfähige Energiekosten angewiesen sind, brauchen schnellstmöglich Entlastung. Es geht hier um Wertschöpfungsketten und Strukturen in Industrie und Handwerk, die nicht verloren gehen dürfen. Zweitens: Die Automobilindustrie und ihre Beschäftigten müssen durch Förderung zum Hochlauf der Elektromobilität schnell Planungssicherheit und langfristige Perspektiven erhalten. Auch hier muss sich der Blick von den großen Herstellern auf die Zulieferer weiten. Wir haben in Deutschland eine verzweigte, aber eng vernetzte Struktur in der Automobilindustrie, von der die gesamte Wirtschaft profitiert. Vor allem ist es wichtig, dass Deutschland und Europa in diesen für die Wirtschaft existenziellen Fragen zusammenarbeiten.
Stefan Wolf: Wir benötigen einen sofortigen und tiefgreifenden Politikwechsel in der Wirtschafts-, Steuer-, Arbeits- und Energiepolitik. Das fängt bei Entlastungen der Unternehmen an, muss jedoch auch eine drastische Reform der Sozialsysteme beinhalten. Wir müssen die Sozialversicherungsbeiträge wieder unter vierzig Prozent senken; aktuell liegen sie bei 41,9 Prozent, Tendenz stark steigend. Es ist nicht vermittelbar, dass den Arbeitnehmern immer weniger Nettoverdienst bleibt.
Absolut richtig ist der im Koalitionsvertrag festgelegte „Investitionsbooster“ in Form einer degressiven Abschreibung in Verbindung mit der Absenkung der Körperschaftssteuer. Das muss so schnell wie möglich in ein Gesetz gegossen werden, damit die Unternehmen wieder Planungssicherheit haben und Vertrauen in den Standort zurückgewinnen.
Das allein reicht aber noch nicht aus. Darüber hinaus benötigen wir einen massiven Bürokratieabbau, vor allem auch auf europäischer Ebene, und eine Abschaffung unsinniger Berichtspflichten, wie sie die Lieferkettengesetzgebung mit sich bringt. Wir brauchen echte Technologieoffenheit. Wir brauchen sofort günstigere Energie, und zwar sowohl für Unternehmen als auch für alle Bürger.
Was wollen Sie als Arbeitnehmer-/Arbeitgebervertretung einbringen, um selbst zu einer verbesserten Situation beizutragen, und welche Erwartungen haben Sie an Ihren jeweiligen Tarifpartner?
Christiane Benner: Wir als IG Metall sehen uns in der Verantwortung, Aufmerksamkeit für die Situation in Industrie und Handwerk zu schaffen, damit die Politik schnell handelt. Dafür haben wir im März 2025 in fünf deutschen Städten zeitgleich einen Aktionstag unter dem Motto „Zukunft statt Kahlschlag“ veranstaltet. Mehr als 80.000 Kolleginnen und Kollegen gingen an diesem Tag für ihre Arbeitsplätze, ihre Zukunft und ein schnelles Agieren von Politik und Arbeitgebern auf die Straße.
Gleichermaßen gilt es, zu betonen, dass die Beschäftigten in vielen betrieblichen Konflikten schon jetzt erhebliche Zugeständnisse gemacht haben, um für die Sicherung von Arbeitsplätzen zu sorgen. Absenkung von Arbeitszeit, Verzicht auf Sonderzahlungen und die Bereitschaft, sich einzubringen, um langfristig Perspektiven zu schaffen, müssen gewürdigt werden! Wir vereinbaren Zukunftstarifverträge und initiieren Perspektivprozesse. Wir erwarten, dass die Arbeitgeberseite jetzt klar signalisiert, dass sie diese Schritte sieht und ihrerseits genauso konsequent handelt, statt zu taktieren und abzuwarten. Sie muss Strategien entwickeln, zukunftsfeste Strukturen und Produkte schaffen, Arbeitsplatzsicherung vor Verlagerung stellen. Sie muss beweisen, dass ihr wirklich etwas am Standort Deutschland liegt und wir diesen gemeinsam nicht nur erhalten, sondern stärken und weiterentwickeln wollen.
Stefan Wolf: Zunächst: Uns liegt viel an diesem Land und dem Industriestandort. Deutschlands Bedeutung hängt von seiner Wirtschaftskraft ab. Wir wollen, dass die Deindustrialisierung gestoppt wird und wir den wirtschaftlichen Wiederaufstieg gemeinsam schaffen. Auf unserer Seite sind die Voraussetzungen gegeben. Wir haben eine unglaublich starke industrielle Basis, die aus flexiblen Unternehmen, hervorragender Berufsbildung, exzellenter Forschung und nachhaltiger Finanzierung besteht. Wir haben hochspezialisierte Fachkräfte, die fit für die Entwicklung und Anwendung jeglicher Art von Zukunftstechnologie sind. Aber, das muss ich so klar sagen, der Ball liegt jetzt im Feld der Politik.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass das unser Sozialpartner, die IG Metall, sehr ähnlich sieht. Wir haben oft unterschiedliche Vorstellungen und sind in den Tarifverhandlungen naturgemäß Gegenspieler. Aber wir wissen auch, dass der Gewerkschaft und ihren Mitgliedern genauso viel an ihren Unternehmen liegt wie uns. Und was die Lage der Unternehmen angeht, teilen wir eine ähnliche Einschätzung und haben teilweise auch ähnliche Lösungsvorschläge. Deshalb müssen wir das gegenüber der Politik gemeinsam noch stärker kommunizieren.
Was muss die deutsche und die europäische Politik leisten?
Christiane Benner: Nicht nur die neue Bundesregierung, sondern auch die europäische Politik steht vor großen Herausforderungen. Die Dringlichkeit der Lage wurde erkannt. Das sehen wir am Sondervermögen für die Infrastruktur, das ein sehr richtiger und wichtiger Schritt ist, auf den die IG Metall lange gedrängt hat. Das sehen wir auch an der Lockerung der Schuldenbremse, auch das ist eine richtige Entscheidung. Jetzt ist eine schnelle Umsetzung der Vorhaben von zentraler Wichtigkeit.
Wir befinden uns als Europäische Union in einer nie da gewesenen geopolitischen Lage. Konfrontiert mit Krieg und Konflikten auf unserem Kontinent, aber auch weltweit, herausgefordert durch autokratische, neofaschistische Mächte und in wirtschaftlich angespannten Zeiten. Nur wenn wir eng zusammenstehen, uns abstimmen und gemeinsam handeln, können wir diese Herausforderungen meistern. Ein geeintes, starkes Europa ist als Handlungsmacht und in seiner Symbolwirkung nicht zu unterschätzen.
Stefan Wolf: Neben den bereits angesprochenen konkreten Maßnahmen ist, glaube ich, ein grundlegender Mentalitätswandel sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene notwendig. Damit meine ich eine Rückkehr zum Leistungsgedanken und eine generell positivere Einstellung zum Unternehmertum. Es sollten wieder alle verstehen, dass jede Sozialleistung zunächst einmal erwirtschaftet werden muss.
Ich möchte, dass wir zu den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zurückkehren. Die Soziale Marktwirtschaft verbindet die Freiheit des Marktes mit einem sozialen Ausgleich.
Ich wünsche mir, dass die Institutionen der Europäischen Union und die nationalen Regierungen stärker an einem Strang ziehen. Einige Akteure in Brüssel sollten langsam verstanden haben, dass, wenn das Herz der deutschen Wirtschaft, die Industrie, aufhört zu schlagen, das wirtschaftliche Powerhouse der Europäischen Union zusammenbricht. Ich glaube nicht, dass die Europäische Union das überleben würde. Also: weniger ideologische Regulierungswut und weniger Bürokratie. Dafür mehr an einem Strang ziehen, um den kommenden geopolitischen Herausforderungen gewachsen zu sein.
Wie bewerten Sie die Absichten zur Re-Industrialisierung in den USA, und wie äußern sich dortige Gewerkschaften respektive Arbeitgeber dazu?
Christiane Benner: Die USA haben unter Joe Biden eine erfolgreiche Industriepolitik gemacht; mit dem „Inflation Reduction Act“ wurden gezielt Unternehmungen und Ansiedlungen gestärkt, die für eine klimaneutrale, zukunftsgerichtete Industrie standen. Die Pläne der Regierung Trump haben einen anderen Fokus. Donald Trump will mit Zöllen dafür sorgen, dass in den USA neue Industriearbeitsplätze entstehen. Die (Wieder-)Ansiedelung von Industrie in den USA ist mit Blick auf die Resilienz von Lieferketten sogar nachzuvollziehen. Allerdings wird dies konterkariert von den bisweilen erratisch wirkenden Entscheidungen hinsichtlich der US-amerikanischen Zollpolitik.
US-amerikanische Gewerkschaften begrüßen eine Re-Industrialisierung in den USA an vielen Stellen, da sie über Jahre oft erfolglos gegen den Abbau von gut bezahlten und sozial abgesicherten Arbeitsplätzen gekämpft haben. Die US-amerikanische Politik hat diese Probleme jahrelang vernachlässigt. Mit Blick auf die Beschäftigungssituation ihrer Mitglieder ist also ihre Position nachzuvollziehen.
Schauen wir auf die Gewerkschaften in den USA, gilt unser Fokus leider aktuell vor allem der gewerkschafts- und beschäftigtenfeindlichen Politik der Trump-Regierung. Die Schwächung von Arbeits- und Umweltschutzauflagen, die teils rechtswidrigen Kündigungswellen durch das von Elon Musk gesteuerte „Department of Government Efficiency“ (DOGE), der Rausschmiss der Vorsitzenden des „National Labor Relations Board“ (NLRB), das Verbot für über eine Million staatliche Angestellte, Tarifverträge zu schließen – die Liste ließe sich endlos fortführen. Angesichts dieser Schwächung der Gewerkschaften bleibt es fraglich, ob die neuen Industriearbeitsplätze, wenn sie denn entstehen, tatsächlich gute Bedingungen bieten werden. Freihandel ohne die Absicherung sozialer Standards ist nicht sozial nachhaltig.
Stefan Wolf: Wir erinnern uns sehr genau daran, wie man uns in der Hochphase der „New Economy“ in der City of London und der Wall Street als „Old Economy“ belächelt hat. Als die Finanzblase dann platzte, waren wir sehr froh darüber, dass wir an unserer Struktur festgehalten haben. Insofern bestärkt uns der Wunsch der Re-Industrialisierung anderer Länder. Grundsätzlich ist eine Strategie zur Stärkung der Industriebasis etwas Positives. Aber nicht in der Form, wie Donald Trump es mit seiner aggressiven Zollpolitik versucht. Die Globalisierung lässt sich nicht zurückdrehen, und es wird keine massenhafte Rückverlagerung von Produktion nach Amerika geben. Die Folge der falschen Zollpolitik ist ein globaler Wohlstandsverlust.
Inwiefern verändert die US-Zollpolitik die Strategien der deutschen Industrie – mit Blick auf den Welthandel und speziell auf den US-Rivalen China?
Christiane Benner: Die Risiken der US-amerikanischen Zollpolitik sind aufgrund des unvorhersehbaren Kurses des US-Präsidenten kaum zu kalkulieren. Die letzten Wochen haben zwar gezeigt, dass ungünstige Entwicklungen auf den Finanzmärkten und ein Gegenlenken betroffener Handelspartner durchaus zu einem Umdenken führen können. Trotzdem: Die exportorientierten Betriebe und Branchen im Organisationsbereich der IG Metall leiden unter den wachsenden geopolitischen Spannungen und Handelskonflikten.
In der Betriebsrätebefragung der IG Metall im Frühjahr 2025 unter Arbeitnehmervertretungen aus 2.321 Betrieben, die insgesamt über eine Million Beschäftigte repräsentieren, sehen 42 Prozent aller befragten Betriebsräte für ihren Betrieb ein hohes Risiko durch einen eskalierenden Zollkonflikt mit den USA; besonders hoch ist die Zahl in der Stahlbranche mit über sechzig Prozent. Nur drei von zehn Betriebsräten sehen sich durch den Zollkonflikt nicht oder kaum berührt. Risiken bei wachsender Konfrontation der großen Handelsblöcke ergeben sich auch über eine oftmals enge Anbindung an China. 59 Prozent der befragten Betriebsräte bestätigen, dass China eine besonders herausragende Bedeutung hat.
Stefan Wolf: Es ist schwer, das realistisch zu beurteilen, wenn sich der Inhalt der konkreten Zollpolitik im Stundenrhythmus ändert. Sicher ist aber: Wir sind ein Land mit hochspezialisierter Industrie. Ohne Handel kann das nicht funktionieren, dazu sind der deutsche und sogar der europäische Binnenmarkt für die meisten Produkte schlicht viel zu klein. Im Gegenzug beziehen wir Vorprodukte von unseren Handelspartnern und kaufen von ihnen das, was sie besser machen als wir. Das Grundprinzip der komparativen Kostenvorteile hat der britische Wirtschaftswissenschaftler David Ricardo schon vor mehr als 200 Jahren beschrieben. Eine Welt, in der sich die großen Blöcke abtrennen, macht alle ärmer und verschärft die wirtschaftlichen Konflikte. Und dies verschärft wiederum die politischen Konflikte bis hin zu Kriegen.
Am wichtigsten ist für mich aber die Erkenntnis, dass wir uns nicht darauf verlassen können, dass uns ein höheres Wesen rettet – uns aus dem Elend zu erlösen, können nur wir selbst tun. Unsere wirtschaftliche Stärke darf nicht von den innenpolitisch bestimmten Zufällen der Politik anderer Länder abhängen. Wir müssen unsere Hausaufgaben selbst erledigen.
Die Fragen stellte Ralf Thomas Baus am 22. April 2025.