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von Philip Rosin

Eine ambivalente Überblicksdarstellung zur Bedeutung von Religion im „Dritten Reich“

Manfred Gailus: Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2021, 224 Seiten, 20,00 Euro.

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Im Jahr der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ gehörten rund 95 Prozent der deutschen Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen an. Darüber hinaus war 1933 ein Aufflammen religiöser Gefühle zu beobachten. Vor diesem Hintergrund entwickelt der an der Technischen Universität Berlin lehrende Historiker Manfred Gailus in seiner Überblicksdarstellung über Religion und Glaube in Deutschland zwischen 1933 und 1945 die These, die Jahre des Nationalsozialismus „war[en] nicht eine Zeit beschleunigter Säkularisierung […], sondern vielmehr eine Epoche, die im Zeichen einer Rückkehr des Religiösen stand“ (S. 165).

Das „Wendejahr 1933“ (S. 18) – keine glückliche Formulierung – spielt in Gailus’ Argumentation eine Schlüsselrolle. Vom „Tag von Potsdam“ über eine Trendumkehr bei den Kirchenmitgliedschaften bis hin zu einer Konjunktur nationalreligiöser Schriften spannt der Autor das Panorama eines „religious revival“. Seine Erklärungen sind plausibel: Es gab nach der Vielzahl der Krisen und Umbrüche zwischen 1914 und 1933 ein Bedürfnis nach – auch religiöser – Orientierung und Führung; die pluralistischen, teils auch atheistischen Denkströmungen der Weimarer Jahre waren in religiös-konservativen Bevölkerungsteilen auf Unverständnis und Widerwillen gestoßen. Zudem lebte bei den Protestanten die Erinnerung an die enge historische Bindung zwischen Thron und Altar, zwischen Kirche und Staat, fort.

Gailus’ Erläuterungen zur Auseinandersetzung zwischen den „Deutschen Christen“ und den Anhängern der „Bekennenden Kirche“ im vielstimmigen Chor der Protestanten einerseits und den Bemühungen um Ausgleich mit den neuen Machthabern im Deutschen Reich durch den Vatikan mit dem Abschluss des Konkordats vom 20. Juli 1933 andererseits bewegen sich in bekannten Bahnen. Allerdings fasst er seine Vorstellung von dem, was unter „Glaube“ und „gläubig“ zu verstehen ist, sehr weit und bezieht – anschaulich geschildert – mehr oder weniger obskure religiöse Praktiken mit ein. Doch nicht jeder Aberglaube darf als Glaube gelten.

 

„Vagierende Religiosität“

 

Gailus spricht von einer außerkirchlichen, „vagierende[n] Religiosität“ (S. 53) und lehnt sich damit an eine Formulierung des Historikers Thomas Nipperdey an, die dieser freilich allein auf das Kaiserreich bezogen hatte. Darunter subsumiert der Autor völkische Ideologien wie die „Deutsche Glaubensbewegung“, die einen nordisch-germanisch zentrierten „Deutsch-Glauben“ an die Stelle des traditionellen Christentums setzen wollte. Protagonisten dieser „Bewegung“, die – wie Gailus einschränkt – ein Randphänomen blieb, waren der Tübinger Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer und der frühere Schriftleiter der Alldeutschen Blätter Ernst Graf zu Reventlow. Einer ähnlich mythisch-deutschvölkischen Denkrichtung hing der Kreis um den früheren Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff und dessen Ehefrau Mathilde an; die von ihnen herausgegebene Halbmonatsschrift Am Heiligen Quell Deutscher Kraft erreichte immerhin eine Auflage von bis zu 86.000 Exemplaren. Dennoch blieb auch die Breitenwirkung der „Ludendorffer“ begrenzt, selbst wenn Adolf Hitler den „deutschgläubigen“ General kurz nach der Veröffentlichung der päpstlichen Enzyklika Mit brennender Sorge im Frühjahr 1937 – gewollt symbolträchtig – zu einem Gespräch empfing.

Als weitere Gruppe nennt Gailus die „Gottgläubigen“, die die NSDAP beziehungsweise die SS zum Kern ihrer Religion erhoben. Seit 1936 galt „gottgläubig“ neben „evangelisch“ und „katholisch“ im Deutschen Reich als offizielle Religionsbezeichnung und wurde von überzeugten, jüngeren Nationalsozialisten und SS-Angehörigen als Selbstcharakterisierung gewählt. So erhob Reinhard Heydrich, SS-Obergruppenführer, den Anspruch einer „kirchenfreien deutschen Religiosität“. Damit sollte eine Alternative zu den vorhandenen Konfessionsbezeichnungen geschaffen und dem kirchlichen Vorwurf der Gottlosigkeit oder des Neuheidentums entgegengetreten werden. Doch selbst innerhalb der genannten einschlägigen Gruppen blieb die sogenannte „Gottgläubigkeit“ ein Minderheitenphänomen.

Meist verhielten sich die NSDAP-Mitglieder und -Funktionäre in Bekenntnisfragen eher „traditionell“. Ob diese Gruppe daher als „christliche Nationalsozialisten“ (S. 78) bezeichnet werden sollte, ist allerdings infrage zu stellen. Tatsächlich fanden in der Frühzeit der nationalsozialistischen Diktatur Massenhochzeiten speziell für Partei- und SA-Kreise statt, doch wurden sie bald eingestellt, weil eine Aufwertung des christlichen Glaubens und der Kirchen weltanschaulich gerade nicht gewollt war. Stattdessen wurden für „gläubige“ Nationalsozialisten Ersatzrituale geschaffen, wie Weihefeiern anlässlich der Geburt, des Eintritts in die Hitlerjugend oder der Eheschließung. So wurden etwa auf der SS-Ordensburg Vogelsang „Eheweihen“ zelebriert, bei denen der „Burgkommandant“ den Pfarrer ersetzte. Zu Recht weist Gailus darauf hin, dass auch diese „neureligiösen Feiern“ unter den Parteigenossen keine Massenphänomene wurden: „Das christlich-kirchliche Monopol auf diesen Gebieten konnte zu keinem Zeitpunkt der NS-Herrschaft ernsthaft gefährdet werden“ (S. 77).

 

Schuld und Widerstand

 

Im Gegensatz zu dieser Feststellung misst der Autor diesen Entwicklungen insgesamt eine große Bedeutung zu, wenn er nur wenige Seiten später ausführt, „[a]us dem traditionellen konfessionellen Zweikampf zwischen Katholiken und Protestanten war durch massives Hinzutreten der völkischen ‚Neuheiden‘ […] ein religiöser Dreikampf geworden“ (S. 82).

Dass beide großen Kirchen durch Schweigen, Wegschauen und Kollaboration zwischen 1933 und 1945 auf vielfältige Weise Schuld auf sich luden, wird in Gailus’ Untersuchung präzise dargelegt. Beispielsweise hatten sie Anteil an der Umsetzung der nationalsozialistischen Rassenpolitik, indem sie Angaben aus den Kirchenbüchern für „Ariernachweise“ bereitstellten. Wie in anderen Landeskirchen auch, betrieb der evangelische Pfarrer Karl Themel in Berlin sogar eine eigene, kirchenfinanzierte Sippenforschung. 1941 hielt er sich zugute, in den fünf Jahren ihres Bestehens habe die „Kirchenbuchstelle Alt-Berlin“ unter seiner Leitung bereits über 2.000 Fälle jüdischer Abstammung ausfindig machen können.

Dem stellt Gailus individuell mutiges Handeln von Christen gegen Diktatur und Unrecht gegenüber und kann dabei auf seine vielfältige Expertise im Bereich der kirchlichen Widerstandsforschung zurückgreifen. Anschaulich geht Gailus etwa auf den Wuppertaler evangelischen Theologen Helmut Hesse ein, der in seiner Predigt am 6. Juni 1943 öffentlich die Judenverfolgung anprangerte, verhaftet wurde und wenige Monate später gesundheitlich geschwächt im Konzentrationslager Dachau verstarb. Auch die wiederholten Eingaben des württembergischen katholischen Bischofs Theophil Wurm an Adolf Hitler und andere Parteigrößen werden gewürdigt. Die bereits getroffenen und noch geplanten Vernichtungsmaßnahmen gegen Juden stünden, so Bischof Wurm in seinem Schreiben an Hitler vom 16. Juli 1943, „im schärfsten Widerspruch zu dem Gebot Gottes und verletzen das Fundament alles abendländischen Denkens und Lebens: das gottgegebene Urrecht menschlichen Daseins und menschlicher Würde überhaupt“ (zitiert auf S. 159). Abgesehen von einem warnenden Antwortschreiben aus der Reichskanzlei hatten sie für Bischof Wurm persönlich keine negativen Folgen.

Die nationalsozialistischen Ansätze zu einem neuen „Gottglauben“ scheiterten endgültig im Zweiten Weltkrieg. Im Zeichen von Kampf, Zerstörung und Tod schöpften viele Menschen in christlichen Gebeten Hoffnung und Trost. Selbst Propagandaminister Joseph Goebbels räumte in einem Tagebucheintrag vom Oktober 1942 ein, dass „wir selbst an jenseitigen Werten nicht allzu viel zu bieten haben […]. Unsere religiösen Vorstellungen sitzen noch nicht tief genug, als dass sie dem Volke in diesem Kriege einen ausreichenden Trost und Halt geben könnten“ (zitiert auf S. 150 f.).

 

Offensichtlicher Antagonismus

 

Insgesamt hinterlässt die Lektüre von Gailus’ Darstellung einen ambivalenten Eindruck. Der Anspruch einer griffigen Überblicksdarstellung ist gelungen; zahlreiche, gut gewählte Zitate machen den Text anschaulich. Darüber hinaus versteht es der Autor ebenfalls gekonnt, seine Informationen spannend zu präsentieren, und kann dabei aus seinen jahrelangen Forschungen zum Thema mit dem regionalen Schwerpunkt Berlin schöpfen. Dafür, dass sich das Buch an einen größeren Leserkreis wendet, spricht neben dem Umfang von 167 Seiten Text (ohne Anhang) der moderne, stellenweise saloppe Sprachgebrauch, wenn etwa von nicht vorhandenen „NaziBischöfe[n]“ (S. 48) oder „Top-Ten-Nazis“ (S. 79) die Rede ist. Punktuell irritiert je-doch der lockere Zungenschlag: „Juden und das Judentum als Religion waren keine eigenständigen Player auf dem pluralistisch weit ausfächernden Religionsfeld der 1930er Jahre“ (S. 89) – nein, „eigenständige Player“ waren sie damals zweifellos nicht. Seine Grundthese von „Gläubige[n] Zeiten“ überzieht der Autor hingegen, wenn er beispielsweise mehrfach hervorhebt: „Es handelte sich bei der NSDAP […] nicht um eine atheistische oder radikal säkulare Partei, sondern um eine sakral aufgeladene, durch vielfältige Schattierungen auch religiös strukturierte Partei. Mehrheitlich sind ihre Mitglieder, so die hier vertretene These, als ‚christliche Nationalsozialisten‘ zu bezeichnen“ (S. 90). Bei dem angeblich relevanten Zeitgeistphänomen des Entstehens neuer, nicht-kirchlicher „geistlicher“ Bewegungen relativiert Gailus deren Bedeutung wiederholt selbst. Mit Blick auf das Verhältnis des Nationalsozialismus zum Christentum bleibt jedoch der grundsätzliche inhaltliche Antagonismus offensichtlich, selbst wenn es vielfältige Kollaborationen gab, wovon etwa das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 eindrucksvoll Zeugnis ablegt. Christen, die zu Tätern des nationalsozialistischen Unrechts wurden, handelten nicht aus einer christlichen Überzeugung heraus, sondern im Widerspruch dazu.

Wenn der Autor unter Verweis auf neue völkische „deutschgläubige“ oder nationalsozialistische „gottgläubige“ Denkweisen von einer Stärkung des Glaubens spricht, steht er selbst in Gefahr, der zeitgenössischen Propaganda zu unterliegen. In der rückschauenden Betrachtung müssen Glaube und Aberglaube, Gottesliebe und Götzenanbetung klar voneinander getrennt und unterschieden werden.

 

Philip Rosin, geboren 1980 in Bonn, promovierter Historiker, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Referent Zeitgeschichte, Wissenschaftliche Dienste/ Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.

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