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von Matthias Herdegen
von Ralf Thomas Baus

Völkerrechtler Matthias Herdegen über die Autorität des Rechts in den internationalen Beziehungen

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Herr Professor Herdegen, kann das Völkerrecht in den internationalen Beziehungen „Autorität“ entfalten?

Matthias Herdegen: Wenn wir im Völkerrecht von Autorität sprechen, meinen wir in erster Linie die steuernde Kraft des Völkerrechts. Thomas M. Franck hat das als pull to compliance bezeichnet, also als Anreiz zur Befolgung einer Regel. Dazu gehört, dass Rechtsregeln in der internationalen Ordnung als rational und legitim erachtet werden. Zur Autorität gehört auch, dass sich Staaten nicht in der Typik durch bestimmte Regeln überfordert fühlen. Wichtig ist für die Geltungskraft des Völkerrechts, dass es abgesichert ist durch ein Gleichgewicht der Kräfte im internationalen Gefüge und durch institutionelle Sicherungsmechanismen wie die internationalen Gerichte und andere Organe der Streitbeilegung.

Die Autorität des Völkerrechts in der Binnenstruktur der Staaten hängt davon ab, inwieweit ein Staat völkerrechtliche Bindungen verinnerlicht. Für einen Staat wie die Bundesrepublik Deutschland und andere europäische Staaten ist ein völkerrechtswidriges Handeln keine politische Option. Das gilt aber nicht für alle Staaten.

 

Blickt man auf die Entwicklungen der letzten dreißig Jahre zurück, wo steht das Internationale Recht heute?

 

Matthias Herdegen: Nach der Beendigung des Kalten Krieges haben George Bush senior und Michail Gorbatschow die neue Weltordnung ausgerufen, die „New World Order“, in der sich die großen Mächte zusammengefunden haben im Bemühen um eine dauerhafte Befriedung der internationalen Ordnung. Francis Fukuyama hat seinerzeit vom „Ende der Geschichte“ gesprochen. Das hat sich aus der Rückschau als allzu optimistisch erwiesen.

Wir sind mittlerweile weit hinter frühere Standards zurückgefallen, das Gewaltverbot ist noch fragiler geworden, als es in der Rechtswirklichkeit schon immer war. Wir haben eine sehr selektive Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit durch die Vereinten Nationen, insbesondere durch den UN-Sicherheitsrat. Bei den Menschenrechten sehen wir einerseits einen steten Ausbau bis zu einer Art Hypertrophie im europäischen Kontext, während andererseits in weiten Teilen der Welt elementare Menschenrechte notleidend sind.

Im Bereich des internationalen Handels und im Investitionsschutz wurden dichte Regelungswerke entwickelt, die in einem beachtlichen Maße auch befolgt werden. Ebenso gibt es beim Umweltschutz manche, zäh erarbeitete Fortschritte. Beim Klimaschutz sind die vertraglichen Verpflichtungen recht elastisch. Es ist eine deutsche und europäische Illusion, dass unsere relativ kostenaufwendige Agenda zur Reduktion der CO2-Emissionen den Rest der Welt anspornt. China baut mit seinen Exportüberschüssen lieber Flugzeugträger. Auch bei der Unternehmensverantwortlichkeit für Menschenrechte und Umwelt in Lieferketten blickt die Welt eher staunend auf den gutgemeinten europäischen Regelungseifer.

 

Wie ist die Stimmung unter den Völkerrechtlern: Ernüchterung und Realismus auf der einen, Idealismus auf der anderen Seite?

Matthias Herdegen: In der Tat gibt es eine Mischung aus Idealismus und Realismus. Wir sehen im Völkerrecht ähnliche Muster wie im politischen Denken. Der Idealismus ist in Zentraleuropa noch am stärksten ausgeprägt, während er in Frankreich oder im Vereinigten Königreich schon seit langer Zeit dem Realismus Platz gemacht hat. Die Proklamation der Zeitenwende hat nicht nur in der Politik, sondern auch im Völkerrecht zu einer großen Ernüchterung geführt.

Wir führen vor dem Hintergrund des Angriffs Russlands auf die Ukraine auch neue Diskussionen, etwa über die Frage, inwieweit wir das Recht der Neutralität neu denken müssen. Die Stimmung unter den Völkerrechtlern ist auch abhängig von den einzelnen Rechtsgebieten. Im internationalen Wirtschaftsrecht, im Welthandelsrecht, im Investitionsschutzrecht gibt es ein hohes Maß an Übereinstimmung von normativen Bindungen und Rechtswirklichkeit; das Gleiche gilt für den regionalen Menschenrechtsschutz, insbesondere in Europa. Auch die Staatenimmunität erfreut sich immer noch einer hohen Befolgung und Zustimmung, aber Kernfragen wie die Achtung der territorialen Integrität sind gefährdet, soweit uns die NATO nicht Schutz bietet. Das Kriegsvölkerrecht, also das Recht im Kriege, das sogenannte Humanitäre Völkerrecht, war lange ein sehr stabiler Regelungsbereich. Das hat sich mit dem russischen Vernichtungskrieg in der Ukraine geändert.

 

Sie haben den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine als „Epochenbruch“ bezeichnet …

Matthias Herdegen: Es ist insoweit ein „Epochenbruch“, als ein Prozess rückgängig gemacht wird, bei dem sich eine Großmacht wie Russland zum Völkerrecht als Grenze und Schranke politischer Optionen bekannt hatte. Es war die große Errungenschaft am Ende der Sowjetunion, dass sich die Staatsführung an das Völkerrecht gebunden fühlte und Politik und Interessenverfolgung nur im Rahmen des Völkerrechts betrieb. Davon hat sich das jetzige russische Regime völlig gelöst. In der jetzigen Situation müssen wir sagen, dass die Begehung von Kriegsverbrechen für Russland einerseits zum System in der militärischen Auseinandersetzung geworden ist. Andererseits zahlt Russland dafür einen sehr hohen Preis, der mittelbar die Autorität des Völkerrechts stärkt. Aber natürlich leidet das Völkerrecht darunter, dass diese Macht trotz ihres Vernichtungsfeldzuges gegen ein Nachbarland weiter ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats ist. In der Dimension ist das nicht vergleichbar mit Völkerrechtsverstößen, wie sie sich in der Vergangenheit auch westliche Staaten zuschulden haben kommen lassen.

 

Als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates kann Russland jegliches Eingreifen blockieren. Ist der Sicherheitsrat noch handlungsfähig?

Matthias Herdegen: Wenn wesentliche Interessen Russlands oder Chinas berührt werden, sehen wir, dass der Sicherheitsrat gelähmt ist. Auch die USA haben sich immer wieder – etwa im Interesse Israels – quergestellt, aber ohne den Sicherheitsrat kontinuierlich zu lähmen. Das Problem ist natürlich nicht neu. Die Blockade des Sicherheitsrats ist ein Strukturproblem, das die Vereinten Nationen von Anfang an begleitet hat. Denken wir an den Koreakrieg, der dazu geführt hat, dass die Generalversammlung angesichts der Blockade des Sicherheitsrats eine neue Rolle in Anspruch genommen hat! Darauf greift die UN-Generalversammlung im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg jetzt wieder zurück. Neu ist die grundsätzliche Erschütterung der Legitimität des Sicherheitsrats durch eine völlig unverhüllte Aggressionspolitik Russlands, die nicht einmal den Ansatz eines Versuchs völkerrechtlicher Rechtfertigung bietet.

 

Russland erkennt die Urteile des Internationalen Gerichtshofs nicht an. Welche Wirkung kann der Internationale Gerichtshof dann noch entfalten?

Matthias Herdegen: Das Problem bei der internationalen Gerichtsbarkeit ist, dass internationale Gerichte nur dann eine Jurisdiktion haben, wenn die Staaten zustimmen. Davon sind die größeren Mächte mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs abgerückt. Sie haben die Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs allenfalls noch in speziellen Streitfragen anerkannt. Auch die USA haben sich zurückgezogen, und China lehnt etwa die Anerkennung eines internationalen Schiedsspruchs zum Südchinesischen Meer ab. Es ist ein grundsätzliches Problem der internationalen Gerichtsbarkeit, dass große Mächte nur noch sehr eingeschränkt bereit sind, sich dieser Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, oder, wenn sie es einmal getan haben, die Urteile oft ignorieren. Wir sehen, dass eine befriedende Wirkung durch internationale Gerichtsurteile nur dann eintritt, wenn beide Parteien in einem aktuellen Streit noch ernsthaft gewillt sind, sich abschließenden Entscheidungen durch ein internationales Gericht zu unterwerfen.

 

Die Generalversammlung hat zum Angriffskrieg gegen die Ukraine verschiedene Beschlüsse gefasst. Kann die Generalversammlung in dem Konflikt etwas bewirken?

Matthias Herdegen: Zumindest hat die Generalversammlung für Rechtsklarheit gesorgt. Wenn Sie einen Beschluss der Generalversammlung mit einer überwältigenden Mehrheit haben, der eine Aggression feststellt und der Russland auffordert, sich aus der Ukraine zurückzuziehen, und wenn Sie eine Resolution haben, die die Referenden in der Ostukraine als klar völkerrechtswidrig anprangert, dann gibt es über die Frage der Völkerrechtswidrigkeit als solche keine ernsthafte Diskussion mehr. Die UN-Generalversammlung kann insoweit durchaus eine hilfreiche Rolle spielen.

Ihre Schwäche liegt darin, dass sie kaum operative Fähigkeiten hat. Sie könnte vielleicht Beobachtungsmissionen einsetzen. Aber weitergehende Schritte und Zwangsmaßnahmen bleiben dem Sicherheitsrat vorbehalten.

 

In Ihrem aktuellen Buch „Heile Welt in der Zeitenwende. Idealismus und Realismus in Recht und Politik“ beklagen Sie den „politischen Gestaltungsanspruch“ der Gerichte insgesamt. Zu welchen Problemen führt dieser Gestaltungsanspruch?

 

Matthias Herdegen: Dieser Gestaltungsanspruch ist dann problematisch, wenn Gerichte selbst eine eigene politische Agenda verfolgen. Wir erleben das in einzelnen Bereichen im Klimaschutz; deutsche und auch niederländische Gerichtsentscheidungen sind Beispiele dafür. Die Gerichte in anderen Ländern sind viel zurückhaltender und überlassen den politischen Kompass auch den politischen Organen, also den Regierungen und den Parlamenten. Das gilt etwa für die USA, das Vereinigte Königreich, Frankreich oder die Schweiz.

Wir sehen in der Biomedizin oder Reproduktionstechnologie, wie regionale Gerichte, insbesondere regionale Menschenrechtsgerichte, Entscheidungen treffen, mit der Folge, dass für den demokratischen Gesetzgeber nichts mehr zu entscheiden übrig bleibt. Ob das die In-vitro-Befruchtung ist oder ob es darum geht, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht nur ein Recht auf eine anerkannte Form der Lebensgemeinschaft haben, sondern auch gerade auf die Ehe, das sind Fragen, die vereinzelt internationale Gerichte, insbesondere Menschenrechtsgerichtshöfe, an sich gezogen haben, ohne diese Fragen den internen politischen Prozessen und der Mehrheitsentscheidung zu unterwerfen.

 

Welche Chancen und Grenzen des heutigen Völkerrechts sehen Sie?

Matthias Herdegen: Wir müssen schärfer differenzieren zwischen bestimmten Regeln, die global, universell für jedes Mitglied der Staatengemeinschaft gelten, und jenen, die nur in bestimmten Staaten gültig sind. Zu den universellen Regeln gehören das Gewaltverbot und der Schutz der territorialen Integrität. Dazu gehört auch der Kern der Menschenrechte. Aber nicht alles, was wir in Europa menschenrechtlich gern geschützt sehen, ist etwas, von dem wir erwarten können, dass dies alle anderen Staaten genauso für sich verinnerlichen. Das bedeutet dann auch einen geschärften Blick auf die Realitäten.

Wir müssen uns auch von der Illusion verabschieden, dass das Strafrecht ein Allheilmittel ist. Der Haftbefehl, den der Strafgerichtshof gegen Wladimir Putin erlassen hat, ist ein starkes Signal, aber vollzogen wird er erst dann, wenn es zu einem Regimewechsel in Russland kommen sollte.

Es wäre auch wichtig, dass wir bestimmte Regionalorganisationen stärker unterstützen, etwa in Afrika. Diese haben eine durchaus hilfreiche Wirksamkeit im Dienste des Völkerrechts und im Sinne der Stabilisierung innerer Ordnungen entfaltet.

 

Sie haben die Idee einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts als einen deutschen „Sonderdenkweg“ bezeichnet. Was meinen Sie damit?

Matthias Herdegen: Die Vorstellung einer Konstitutionalisierung, die insbesondere in Deutschland kultiviert wird, hängt der Idee an, das Völkerrecht sei so etwas Ähnliches wie eine Verfassung, die ein hohes Eigenleben hat, das von Gerichten und klugen Rechtsprofessoren immer wieder ausgelegt und angereichert wird. Diese Analogie greift ins Leere, weil das Völkerrecht eben keine Verfassung ist und die Staaten keine Bürger eines konstitutionellen Staatswesens sind, sondern souveräne Gebilde. In diesem Punkt gilt das Konsensprinzip. Wir haben gewohnheitsrechtliche Verpflichtungen und im Übrigen die vertraglichen Verpflichtungen, die die Staaten bewusst für sich übernehmen.

Ich halte es für problematisch, wenn wir im Wege der Rechtsauslegung Verträge ständig fortentwickeln in einem bestimmten, einer Zeitströmung nützlich und wertvoll erscheinenden Sinne – oft mit einem Ergebnis, an das die Vertragsstaaten und ihre Parlamente bei der Ratifikation nie gedacht haben. Das sind Entwicklungen, wie wir sie vielfach vor allem bei den europäischen Verträgen sehen. Im alten Kontinent wird das noch weithin hingenommen, aber für den Rest der Welt gilt, dass man dieses Modell eines letztlichen Eigenlebens von Verträgen, die man ständig fortentwickelt, ohne dass die Vertragsstaaten selbst eine Mitsprache haben, nicht durchsetzen kann. Auch der Brexit hat etwas mit diesem Überrollen der Politik durch dynamische Vertragsauslegung zu tun.

 

Deutschland betont die Wichtigkeit von Grundwerten in der internationalen Politik. Inwiefern kann und soll Deutschland diese auf internationaler Ebene durchsetzen?

Matthias Herdegen: Es ist wichtig, dass wir Grundwerte mit einer wirksamen, energischen Interessenpolitik verbinden, so, wie das realitätsbewusste Staaten wie Frankreich und das Vereinigte Königreich seit Langem tun. Für diese Verbindung von Werten mit Interessen und die neue Unbefangenheit, sich auch zu eigenen Interessen zu bekennen, die ihrerseits auch wertgetragen sind, brauchen wir einen klaren strategischen Kompass. Wir tun uns hier noch schwer, wenn wir etwa an das Ringen um eine deutsche Sicherheitsstrategie denken, die wir in unseren Gesprächskreisen der Konrad-Adenauer-Stiftung in Cecilienhof in Potsdam bereits vor vielen Jahren angemahnt haben.

 

Ist eine „feministische Außenpolitik“ dafür der richtige Ansatz?

Matthias Herdegen: Der Schutz von Frauen in Konflikten, in Diktaturen ist ein legitimes Thema; es aber gewissermaßen zur Leitmaxime der gesamten Außenpolitik auszuflaggen, macht aus einer politischen Miniatur den gesamten Kompass, und das ist zu kleinteilig und zu kurz gegriffen. Es gibt der Außenpolitik eine asymmetrische Schlagseite und versagt gerade dann, wenn systematische Menschenrechtsverletzungen vorliegen, die eine Unzahl von Menschen ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht oder alle Angehörigen einer Minderheit betreffen.

 

Die Demokratie als Staatsform steht weltweit unter Druck. Seit Längerem zeichnet sich eine schleichende Autokratisierung in einer Reihe von Staaten ab. Wie ist dem zu begegnen?

Matthias Herdegen: Ich halte es für wichtig, dass wir auch in unseren wirtschaftlichen Beziehungen ein stärkeres Augenmerk auf die Binnenstruktur der Staaten richten, dass wir klare Ansagen an autokratische und halbautokratische Regime formulieren, die uns für schwächelnde, überholten Idealen anhängende Länder halten und deswegen meinen, sie müssten uns nicht auf Augenhöhe begegnen.

Mit dem „Regime-Change“ sollten wir vorsichtig umgehen. Wir haben bittere Lehren aus dem Irak, aus Libyen und auch aus Afghanistan ziehen müssen. Wir sollten uns auch von der Illusion verabschieden, dass ein bestimmtes Modell von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einfach in andere Staaten zu exportieren ist. Das, was wir in Afghanistan mit dem Scheitern der westlichen Intervention erlebt haben, wird diejenigen nicht überrascht haben, die Winston Churchills erste Biographie „My Early Life“ gelesen haben, in der er Verhältnisse beschrieben hat, die uns mit Sicht auf das heutige Afghanistan höchst aktuell erscheinen. Die aktuelle Sicherheitsstrategie der USA nimmt klar auf die Differenzierung zwischen Demokratien und Autokratien Bezug und sollte uns insoweit Inspiration sein. Wir sollten die Zusammenarbeit mit Autokratien oder Halbautokratien durch unsere eigenen europäischen Interessen viel stärker konditionieren, als wir das bisher getan haben.

 

Matthias Herdegen, geboren 1957 in Schwarzenbach am Wald, Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Völkerrecht, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Jüngst erschienen: „Heile Welt in der Zeitenwende“ (C. H. Beck).

Das Interview führte Ralf Thomas Baus am 9. Juni 2023.

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