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Intellektuelle Streitkultur in der (alten) Bundesrepublik

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Blicke in die Vergangenheit erfahren Perspektivverschiebungen, und dasjenige, was lange vertraut und ein wenig langweilig erschienen ist, kann zum verklärten Sehnsuchtsort werden. Womöglich lässt sich die viel zitierte „Zeitenwende“ auch daran festmachen, dass uns die alte Bundesrepublik in ihrer Heimeligkeit und Übersichtlichkeit endgültig abhandengekommen ist. Die Bonner Jahre gehören mittlerweile ins ferne 20. Jahrhundert und werden in ihrer historischen Vergegenwärtigung nicht selten idyllisiert. Es sind kompakte Beschreibungen einer gemeinsamen Lebenswelt, die dem Provisorium ein spezifisches Zusammengehörigkeitsgefühl zuschreiben, das allgemein als Bestandsvoraussetzung eines funktionierenden Gemeinwesens gilt.

Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft etwa, mit dem zwiebelförmigen Wohlstandsbauch, symbolisierte das Versprechen erstrebenswerter, ausgeglichener Lebensverhältnisse. Vorbei die Zeit der Klassenspaltung und Segmentierung in Sozialmilieus mit feinen Unterschieden; stattdessen sorgte das Wirtschaftswunder für sozialen Aufstieg. Soziologen wie Ralf Dahrendorf forderten „Bildung als Bürgerrecht“, und in der Tat sorgte dafür die Modernisierung des Schulsystems, der rasante Ausbau von Universitäten und Hochschulen seit den 1960er-Jahren. Der Glaube an die Modernisierung einte die unterschiedlichen politischen Lager. Parteiübergreifend avancierte „Reform“ zum Zauberwort, und mit einer florierenden Wirtschaft im Rücken veränderte sich die Lebenswelt so rasch wie nie zuvor. Auch wenn man über die schädlichen Nebenwirkungen des Fortschritts, die „Unwirtlichkeit unserer Städte“, die ökologischen Folgen der Industrialisierung, die Atomkraft oder die Nachrüstung stritt – die politischen Richtungen ließen sich einigermaßen zuordnen, ideologische Formierungen blieben transparent und ereigneten sich in Zeitlupe. Nicht zu vergessen: ein überwältigender antitotalitärer Konsens. Der Antikommunismus war sicherlich ideologisch eine entscheidende integrative Klammer, die eine Akzeptanz der liberalen Demokratie erleichterte. Bürgerliche Freiheits- und Partizipationsrechte, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Öffentlichkeit konnten als Distinktionskriterium gegenüber der DDR leicht – und bisweilen auch etwas selbstzufrieden hervorgehoben werden.

 

Ermutigung zur Konfliktbereitschaft

Besorgte Intellektuelle sahen bis zum legendären Aufbruch der 68er in der fehlenden Streitkultur, in der vermeintlich-protestantisch ererbten Staatsgläubigkeit und Harmoniesehnsucht das Manko der westdeutschen Demokratie. Wieder war es Ralf Dahrendorf, der in seiner klassischen Bestandsaufnahme Gesellschaft und Demokratie in Deutschland (1965) zur Konfliktbereitschaft ermutigte, in liberaler Weise den Streit als die Essenz der Demokratie begriff. Die demokratischen Lebensformen mussten auch deshalb eingeübt werden, weil die Selbstbefreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft ausgeblieben war und der deutsche Teilstaat nicht auf eine republikanische Gründungserzählung bauen konnte. Im Anfang stand eben keine Revolution. „Unsere Demokratie ist nicht, geboren aus der hochgemuten Gesinnung eines Befreiungskampfes, sondern uns verordnet, als wir ein Haufen überlebender Deutscher waren“, so etwa Karl Jaspers’ viel gelesene und pessimistische Bestandsaufnahme Wohin treibt die Bundesrepublik? (1966): „Die einzige Alternative, die uns retten kann, ist nicht eine vermeintliche Normalität, sondern die politische Wiedergeburt.“ Seine Freundin Hannah Arendt teilte diesen Befund. Über die Bundesrepublik müsse man sich nicht weiter unterhalten, schrieb sie noch im Juni 1965 an ihren Doktorvater, denn ihr sei „der Untergang an die Stirn geschrieben“.

Stimmen einer Neuen Linken waren nachdrücklicher. Der Vorwurf, eine autoritäre oder lediglich formale Demokratie zu sein und eine Scheinstabilität zur Erfolgsgeschichte zu verbrämen, gehörte gewissermaßen zum Standardrepertoire. Übrigens zeigten sich rechts und links in dieser Frage überraschend einig. Vertreter des sogenannten „technokratischen Konservatismus“ wie die Soziologen Hans Freyer, Arnold Gehlen oder Helmut Schelsky hielten die Superstrukturen und Sachzwänge der Industriegesellschaft für gegenwartsprägend und nahmen die Demokratie lediglich als eine Fassade wahr. „Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr ‚herrscht‘ man, weil sie funktioniert“, verfügte Schelsky in Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation (1961) und verabschiedete damit jede normative Idee der Demokratie. Die Soziologie konnte die Ohnmacht des Einzelnen allenfalls dokumentieren, rückgängig machen ließen sich diese Entwicklungen jedoch nicht.

 

Große Spannweite im Meinungsspektrum

Während solche ehemaligen nationalsozialistischen Idealisten in abgeklärter Nüchternheit ein postideologisches Zeitalter der Technik heraufziehen sahen, machten sich junge Linke wie Jürgen Habermas und Claus Offe diese Diagnose zu eigen, um sie als bundesrepublikanische Realität zu kritisieren. Wenn sie die „Strukturprobleme des kapitalistischen Staates“ oder die „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ aufs Korn nahmen, dann spielten die Rationalitätsdefizite, die unzureichender Demokratisierung geschuldet waren, die wesentliche Rolle. Arrangierte sich der technokratische Konservatismus mit der bundesrepublikanischen Industriegesellschaft, weil die Alternativlosigkeit sozioökonomischer Rationalität den politischen Meinungsstreit zu suspendieren schien und darum kein zweites Weimar zu befürchten war, so setzten kritische Linke, die bald vom Revolutionsenthusiasmus der Studentenbewegung überholt wurden, auf die Demokratisierung der Demokratie, um das Land politisch-kulturell bewohnbar zu machen.

Erstaunlich bleibt im Rückblick auf die so stabil erscheinende Bonner Republik, wie groß die Spannweite im Meinungsspektrum war. Während konservativ Geneigte entweder zu klassischen Law-and-Order-Positionen tendierten oder politische Protestbekundungen ohnehin für wirkungs- und sinnlos erklärten, sorgten sich liberale und linke Intellektuelle auf unterschiedliche Weisen um die Etablierung der Demokratie als Lebensform, die Kritik zur Norm, Streit als Lebenselixier und die Überwindung von Staatsgläubigkeit zum Ziel erklärten. Vergegenwärtigt man sich, wie heftig die Debatten nach 1968 gerieten und wie stabil die Parteienlandschaft geblieben ist, reibt man sich die Augen. Zwar leben viele 68er-Veteranen heute nicht zu Unrecht im Bewusstsein, durch ihre Proteste gegen Notstandsgesetze, Springer-Presse, Schah-Besuch und Vietnamkrieg zur „Umgründung der Bundesrepublik“ beigetragen zu haben, die Effekte auf die Wahlergebnisse blieben allerdings minimal. Anstatt in Glaubwürdigkeitskrisen zu geraten, erhielten die Volksparteien großen Zulauf, und die gesellschaftliche Politisierung, von der viele zwischen Ostpolitik, neuen sozialen Bewegungen und Terrorismusfurcht in den 1970er-Jahren sprechen, konnte vom bestehenden Parteiensystem weitgehend absorbiert werden. Der politische Streit mag zu harten Auseinandersetzungen geführt haben, hatte aber für das politische System integrative Wirkungen.

 

Folgen des SED-Staates für die Streitkultur

Nicht so einfach bewertbar bleibt das Erbe des realexistierenden Sozialismus für die Streitkultur im geeinten Deutschland. Die „von oben“ erzwungene ideologische Stromlinienförmigkeit und der Rückzug in dissidente oder zumindest regimeferne Nischen hat bis heute Folgen hinterlassen: zum einen die Frustration „gelernter“ DDR-Bürgerinnen und -Bürger, in ihren Erfahrungen und Lebensleistungen nicht gewürdigt zu werden; zum anderen die berechtigte Forderung der DDR-Opfer und -Gegner, an den Unrechtscharakter des SED-Staates zu erinnern und gegen die harmonische Lesart der „Friedlichen Revolution“, die von einer vermeintlich überwältigenden Mehrheit ausgelöst worden ist, Einspruch zu erheben. Diese Debatten, vermengt mit dem Problem, unter westdeutscher Dominanz demokratische Lebensformen einüben und zivilgesellschaftliche Strukturen nachholend etablieren zu müssen, beeinflussen die Schieflagen heutiger Streitkultur.

Es lag überdies eine gewisse Ironie in der bundesdeutschen Geschichte, dass just in der Phase der Selbstanerkennung, als sich eine kritische Linke von Habermas langsam zum Verfassungspatriotismus bekehren ließ und eher konservativ Gesinnte stolz auf die Erfolgsgeschichte einer ökonomisch leistungsfähigen, international anerkannten und institutionell stabilen parlamentarischen Demokratie blickten, „Abschied vom Provisorium“ genommen werden musste. Die Bundesrepublik lieferte ein Lehrbeispiel für ihre liberalkonservativen Verteidiger. Der Aristoteliker Dolf Sternberger hatte früh den Umstand betont, dass die Bürgerinnen und Bürger durch demokratische Praxis die Spielregeln des Gemeinwesens einüben und zur Identifikation mit dem Staatswesen gelangen können. Gegen eine konservative Staatslehre, die auf Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk sowie außenpolitischer Souveränität beharrte, etablierte er die Überzeugung, dass die aktive Bürgerschaft den Staat bildet und durch Gemeinsinn zusammengehalten wird.

Sternbergers aristotelisches Vokabular klingt heute wie aus der Zeit gefallen. Aber es erzählt uns einiges über die veränderten Maßstäbe des Politischen. Während heute eine radikale Demokratie reüssiert, der Kampf um Anerkennung vermeintlich Ausgeschlossener und die Empörung zum Wesenskern der Politik werden, erkannte Sternberger den Zweck aller politischen Bemühung in der Wahrung des Friedens. Der Friede sollte Sinn und Ziel aller Politik sein. Damit stellte er sich in eine große bürgerlich-republikanische Tradition: Immanuel Kants „ewiger Frieden“ und Hans Kelsens Mahnung, den sozialen Frieden durch Kompromisse zu bewerkstelligen, sind unmittelbare Bezugspunkte.

Sternbergers theoretischer Antipode war Carl Schmitt, der bekanntlich die Unterscheidung von Freund und Feind zum Kriterium des Politischen machte und die Vernichtung des politischen Gegners für ein legitimes Unterfangen hielt. Ohne Schmitts Rolle als Kronjurist des NS-Staates überhaupt zu thematisieren – „Der Führer schützt das Recht“ (1934) –, hielt er ihm entgegen, dass die Bestimmung des Politischen über das Freund-Feind-Kriterium ähnlich abstrus sei, wie das Wesen der Ehe aus der Scheidung zu erklären.

Das Politische verstand Sternberger hartnäckig als den „Bereich der Bestrebungen, Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten und zu schützen und freilich auch zu verteidigen“ (1960).

 

Irritation für gestandene Altbundesrepublikaner

Überhaupt liefert das politische Denken der alten Bundesrepublik zahlreiche Beispiele für das Bemühen, die „Friedensdividende“ eines möglichst inklusiven Bürgerbegriffs herauszustellen. Während Jürgen Habermas sich um die Möglichkeiten kommunikativen Handelns sorgte und im rationalen Diskurs unter fairen Bedingungen Meinungskämpfe durch die Vernunft zu pazifizieren strebte, wurde sein Antagonist Hermann Lübbe nicht müde, Demokratisierungszwänge zu betonen, die den Common Sense gegenüber technokratischen Sachzwängen stärkten. Das war eine Auseinandersetzung über geeignete Prozeduren – Habermas’ anfängliches Vertrauen auf die institutionelle Berücksichtigung zivilgesellschaftlicher Impulse für eine fortschreitende Demokratisierung, Lübbes Optimismus hinsichtlich einer dauerhaften demokratischen Entscheidungsfähigkeit im Rahmen der verfassungsmäßig vorgezeichneten Möglichkeiten.

Dass die liberale Demokratie gesellschaftlichen Frieden und das Gemeinwohl anstrebte, darüber war man sich ebenso einig wie über den konstruktivistischen Charakter von individueller und kollektiver Identität. Die Unversöhnlichkeit heutiger Identitätspolitiken hätte gestandene Altbundesrepublikaner irritiert. Nicht nur die deutsche Identität blieb problematisch – Traditionen und Geschichte hatten generell „Identitätspräsentationsfunktion“ (Hermann Lübbe), auch persönliche Identität musste in liberaler Weise als multiples Konstrukt verstanden werden. In der Pluralität der Identitäten und Rollen lagen Freiheiten, doch das entscheidende Kriterium blieb der von allen geteilte Bürgerstatus als Basis der Verständigung. Diskriminierungslasten, Opferstatus und Emanzipationspflichten galten darum – in mancherlei Hinsicht womöglich voreilig – als gelöst, denn ethnische, religiöse, sexuelle oder genderbedingte Zugehörigkeiten konnten zur geschützten Individualsphäre gezählt werden.

Ein unschätzbarer Stabilisierungsfaktor war die Allgegenwärtigkeit der NS-Verbrechen als amoralisches Gegenbild. Dass der Aufwand historischer Vergegenwärtigung mit dem Aussterben der Zeitzeugen ungleich größer werden würde, war allen bewusst. Die Konsequenzen für den Zerfall eines selbstverständlichen moralischen Konsenses waren hingegen kaum vorhersehbar. Die Aufstellung immer neuer Sagbarkeitsregeln oder Sprechverbote wirken dann wie ein Zeichen der Desorientierung. Eher flüchtet man sich in Meinungen einer sicheren Community – die vielfach beklagten Echoräume –, anstatt Argumente der Gegenseite anzuhören. Angetrieben durch neue soziale Medien, die nach Polemik und Zuspitzung verlangen, werden die Streitigkeiten vor allem laut, aber nicht unbedingt intensiv ausgetragen.

Der Arabist Thomas Bauer hat einen allgemeinen Trend zur „Vereindeutigung der Welt“ vor einigen Jahren konzise beschrieben. Die Krise des Liberalismus ist immer mit dem Verlust an Mehrdeutigkeit und Pluralität verbunden. Ambiguität und Ambivalenz auszuhalten, darin Freiheit und Handlungsspielräume zu erkennen, gehört zu den tragenden liberalen Tugenden. Sie erschöpfen sich nicht im Bekenntnis zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, sondern sind das Ergebnis von nachhaltigen Bildungsanstrengungen und der aktiven Sorge um das Gemeinwohl. Insofern ist jeder Abgesang auf den Liberalismus, seine Gleichsetzung mit dem Kapitalismus, gar die Rede vom postliberalen Zeitalter fahrlässig. Vielmehr zeigt der Blick auf ein Dreivierteljahrhundert bundesrepublikanischer Streitgeschichte, dass Debatten über die Neukonturierung liberaler Ideen produktiv und zukunftweisend sein können. Sie werden auch heute benötigt, um auf gemeinsamer Basis wieder intensiv über die wirklichen politischen Probleme zu streiten.

 

Jens Hacke, geboren 1973 in Bonn, lebt als Politikwissenschaftler und Publizist in Hamburg.