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Interview: Besondere Beziehungen

von Stefan Creuzberger
von Ralf Thomas Baus

Stefan Creuzberger, Historiker und Publizist, über das "deutsch-russische Jahrhundert" und seine Folgen

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Herr Professor Creuzberger, vier Wochen nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine erschien Ihr Buch „Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung“. Was war an dieser Beziehung so besonders?

Stefan Creuzberger: Meine These ist, dass das lange 20. Jahrhundert mit seiner Ausstrahlungskraft in das 21. Jahrhundert nicht nur ein amerikanisch-sowjetisches Jahrhundert gewesen ist. Wer genauer hinschaut, wird feststellen, dass Deutsche und Russen auch gewichtige Akteure gewesen sind. Ihre besonderen Beziehungen haben nicht nur das bilaterale Verhältnis geprägt, sondern auch die europäische und internationale Geschichte. Das lässt sich für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts leichter nachvollziehen, da Deutschland und Russland als souveräne Staaten auftreten konnten. Schwieriger wird dies nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Deutschen zumindest zeitweilig ein Objekt der Geschichte waren.

Die Besonderheit des deutsch-russischen Verhältnisses liegt darin, dass es kaum andere Staaten auf der Welt gibt, deren Beziehung nur annähernd so nachhaltig durch Revolution und Umbruch, Terror und Gewalt und nicht zuletzt durch Abgrenzung und Verständigung geprägt gewesen sind.

 

Inwieweit waren andere Staaten, insbesondere die GUS-Nachfolgestaaten, Leidtragende dieser besonderen Beziehung?

Stefan Creuzberger: Hervorzuheben ist der Hitler-Stalin-Pakt. Durch diesen Pakt haben Hitler und Stalin 1939 auf zynische Art und Weise in einem geheimen Zusatzprotokoll große Teile Ost-Mittel- und Osteuropas unter sich aufgeteilt. Spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die betroffenen Staaten erneut Leidtragende dieser besonderen Allianz. Die stalinistische Regionalmacht Sowjetunion ist durch den Zweiten Weltkrieg zu einer Welt- und Supermacht aufgestiegen. Seit 1945 bestimmte sie auf Augenhöhe mit der westlichen Supermacht USA in einer bipolaren Welt das weitere Geschehen. Die Sowjetunion dehnte ihr Einflussgebiet durch den Vormarsch in Richtung Westen aus und besetzte Länder, die sie systematisch sowjetisierte. Die stalinistische Diktatur wird auf Polen, auf Rumänien, auf die Tschechoslowakei, nicht zuletzt auf den östlichen Teils Deutschlands ausgedehnt. Die Gründung der DDR 1949 war eine stalinistische Gründung.

Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg und der Holocaust fanden im Großen und Ganzen nicht auf russischem, sondern auf ukrainischem und belarussischem Gebiet statt. Das waren die eigentlichen „Bloodlands“, wie der amerikanische Historiker Timothy Snyder sie bezeichnet hat. Die wesentlichen Leidtragenden waren die Polen und die dort lebende jüdische Bevölkerung ab 1939, aber dann in den Jahren 1941 bis 1944 die Ukrainer und Belarussen. Sie waren einerseits Opfer des NS-Vernichtungsterrors, andererseits in dem Moment, in dem die Ukraine und Belarus als Sowjetrepubliken befreit worden waren, Opfer des stalinistischen Terrorapparats, der die Überlebenden oft als Kollaborateure verdächtigte. Das ist das doppelte Leid, was Teile der heutigen GUS-Staaten, der früheren Sowjetrepubliken, aus dieser deutsch-russischen Geschichte ertragen mussten.

Mo Wüstenhagen
Stefan Creuzberger, nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2022.

Welche weniger bekannten Erkenntnisse Ihres Buches lassen uns den Krieg gegen die Ukraine besser verstehen?

Stefan Creuzberger: Ich wundere mich immer wieder, wie sehr sich nach dem 24.Februar 2022 viele hinstellen und plötzlich wissen, was alles falsch gewesen ist. Allerdings hat es Warnungen etwa mit Blick auf die Vernachlässigung der Bundeswehr oder die energiepolitischen Abhängigkeiten gegeben. Doch diejenigen, die gemahnt haben, sind marginalisiert worden, weil man es einfach nicht wahrhaben wollte.

In meinem Buch benenne ich diese Punkte durchaus, und eine Schlussfolgerung ist sicherlich, dass die Deutschen sich zu wenig wehrhaft und entscheidungsstark zeigen. Die Deutschen sollten eine verantwortungsvolle Führung innerhalb des Bündnisses einnehmen.

Angela Merkel hat spätestens 2014 unter dem Eindruck der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion eine Sanktionsfront geschmiedet. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie die Grundstimmung war, nicht nur in Deutschland, auch im übrigen Europa, und wie schwer es war, dass Angela Merkel immer wieder die Ungarn, die Italiener mit ins Boot holen musste, um diese erste Sanktionsfront zusammenzubringen, versteht man die Situation vor Kriegsbeginn besser. Das sollten wir nicht vergessen, sonst werden wir auch im historischen Urteil ungerecht.

Das ist ein Beispiel für die unbekannteren Aspekte in der letzten Phase vor diesem Krieg, die man sich vergegenwärtigen muss. Die vergangenen Jahrzehnte sollten wir nicht leichtfertig nur als ein Versagen deutscher Russlandpolitik in Bausch und Bogen verurteilen. Das sehe ich nicht so. Das müssen wir differenziert betrachten. Es gab Versagen, aber auch sehr besonnenes und kluges Verhalten.

 

Sie sprechen von einem deutsch-russischen Jahrhundert. Warum nicht von einem deutsch-sowjetischen?

Stefan Creuzberger: Ich beginne in meinem Buch mit dem ausgehenden russischen Zarenreich, also dem Vorabend des Ersten Weltkriegs. Es folgt die Zeit der Oktoberrevolution 1917, in der die Deutschen eine besondere Rolle gespielt haben. Ohne die Deutschen, ohne die Rückführung Lenins ins revolutionäre Petrograd, hätte es die Oktoberrevolution so nicht gegeben.

Die Oktoberrevolution markiert den Beginn des Ost-West-Konflikts. Die revolutionäre Sowjetmacht, die das außenpolitische Koordinatensystem und das bis dahin bestehende politische Verständnis im Sinne des Klassenkampfes vollkommen negiert, führt zu einem Antagonismus in der politischen Kultur und in der internationalen Staatenwelt. Dieser Antagonismus, der spätestens nach 1947 zum Kalten Krieg führt, endet 1989/90 mit der deutschen Wiedervereinigung und mit der Selbstauflösung der Sowjetunion am 25.Dezember 1991.

Zwischen 1917 und 1991 haben wir in der Tat eine sowjetische Phase, aber ich nehme die Bezeichnung „russisch“ als Überbegriff für drei Phasen: vor 1917, dann die sowjetische Phase, die mit sieben Jahrzehnten sehr lang war, und für die Phase nach 1991.

Zudem dominierte in den einzelnen Sowjetrepubliken lange Zeit das russische Element, die Führungspositionen waren meist durch ethnische Russen besetzt und nicht durch die Titularnation. In der Sowjetunion finden wir immer etwas Russisches und etwas Großrussisches.

 

Für die Bundesrepublik Deutschland könnte man annehmen, dass es eher ein deutsch-amerikanisches Jahrhundert war …

Stefan Creuzberger: Im ersten Moment vermutet man das, zumindest für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Konrad Adenauer hat die „Schaukelpolitik“ der Deutschen, das Mäandern zwischen Ost und West seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871, durch eine klare Position der Westintegration beendet. Im Rahmen dessen ist Konrad Adenauer 1955 aber derjenige, der diplomatische Beziehungen mit Moskau aufnimmt – mit Duldung und in Rücksprache mit den Westmächten. Das Ziel der deutschen Einheit hat Adenauer nie aufgegeben. Er nimmt mit seiner Moskau-Reise Kontakt zu der Gewährsmacht auf, die notwendig ist, wenn man die deutsche Einheit herstellen möchte. Das sieht 1955 noch nicht so aus, aber 1989/90 unter dem Eindruck der Einheit erkennen wir diese Entwicklung.

Für mich ist die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Moskau eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Willy Brandt ab 1969 die neue Ostpolitik betreiben konnte; ohne diplomatische Beziehungen geht das nicht. Mit dem Ende der Entspannungspolitik in den späten 1970erund den 1980er-Jahren wird deutlich, dass die damaligen Bundeskanzler aufgrund ihrer besonderen Beziehungen und Kontakte zur Sowjetunion quasi als Dolmetscher zwischen Washington und Moskau wirken, vermitteln und die Politik des jeweils anderen erklären. In dieser Zeit sind sie es oft, die dazu beigetragen haben, dass über Abrüstungspolitik auch nach dem Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses, mit Blick auf Langund Mittelstreckenraketen, Washington und Moskau wieder ins Gespräch kommen. Das ist ein ganz besonderes Phänomen, und dann sind wir sowohl im deutschamerikanischen, aber auch im deutschrussischen Jahrhundert.

 

Hatte der Erfolg der Ostpolitik auch blinde Flecken?

Stefan Creuzberger: Ich bewerte die neue Ostpolitik ambivalent. Aber ebenso wie die Westintegration wurde sie zu einer festen Säule der deutschen Außenpolitik. Die Ambivalenz besteht darin, dass die Entspannungspolitik auf westlicher Seite gekoppelt war mit der Hoffnung, dass sich die festgefahrene Situation zwischen Ost und West auflockert und sich auch das Schicksal der beiden deutschen Staaten zu einem Besseren wendet. Der Ostblock sah das anders. Die Sowjetunion wollte den territorialen Status quo, wie er sich nach 1945 darstellte, durch Verträge völkerrechtlich absichern. Aus Sicht der Sowjetunion war das der Sinn der Ostverträge. Aus bundesrepublikanischer Sicht wurde die DDR zwar als Staat betrachtet, aber nie völkerrechtlich anerkannt. Die DDR konnte aus Sicht der Bundesrepublik kein Ausland sein.

Aus neueren sowjetischen Dokumenten wissen wir, dass die östliche Seite in der Entspannungspolitik auch eine große Gefahr sah, weil sie dadurch eine Destabilisierung des Ostblocks befürchtete.

Die neue Ostpolitik ist insbesondere im Zuge der Neben-Außenpolitik der SPD nach 1982 sehr stark auf die politischen Eliten fokussiert gewesen. Die Dissidenten und auch die Freiheitsbewegungen beispielsweise in Polen hatte die SPD zumeist nicht im Blick. Es hat ganz wenige Sozialdemokraten gegeben, wie etwa Gert Weisskirchen, die das innerhalb der eigenen Partei immer wieder moniert haben.

Unter dem Strich hat aber die Kombination aus Westintegration und der neuen Ostpolitik am Ende ein Klima befördert, dass sich Entwicklungen anbahnen konnten, die zum Niedergang des sowjetischen Imperiums und am Ende zur deutschen Einheit beigetragen haben.

 

Das „Geschichtsforum“ der SPD hat selbst nach dem Überfall auf die Ukraine die gescheiterten Verhandlungsbemühungen als eine Deeskalation im Sinne der Politik Willy Brandts gerechtfertigt …

Stefan Creuzberger: Wir werden einem Bundeskanzler Brandt nicht gerecht, wenn versucht wird, die Politik aus der Zeit des Kalten Krieges auf die zurückliegenden Jahre zu übertragen. Das ist ahistorisch. Die Situation heute ist vollkommen anders. Wladimir Putin ist ein Mann des Sicherheitsapparates, der den Anfang vom Ende des sowjetischen Imperiums als KGB-Agent in Dresden erlebte. Putin ist sowjetisch-imperial geprägt. Zu meinen, die Entspannungspolitik Willy Brandts auf die heutige Zeit anwenden zu wollen, ist der große Trugschluss gewesen.

Man hat die Realitäten ignoriert und die Anzeichen der Putin’schen Politik, das Sammeln der sowjetischen Erde und die Ablehnung der liberalen Demokratie, nicht erkannt. Das macht klar, dass die Politik der letzten Jahre verfehlt gewesen ist. Wir hätten weitaus entschlossener unsere liberale Demokratie, unsere rechtsstaatlichen Vorstellungen und unsere Wehrhaftigkeit präsentieren müssen, um gegenüber Putin deutlich zu machen, wir sind ernst zu nehmen, wir stehen zu unseren Werten und wir halten sie auch für verteidigungswürdig.

 

Das Misstrauen gegenüber einer deutsch-russischen Sonderbeziehung wird als „Rapallo-Komplex“ bezeichnet. Warum wirken die Erfahrungen eines vor einhundert Jahren an der ligurischen Mittelmeerküste geschlossenen Vertrages bis heute so stark nach?

Stefan Creuzberger: Der Vertrag von Rapallo war zunächst nichts Spektakuläres. Rapallo bedeutete, dass das Deutsche Reich und die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik mit dem am 16. April 1922 geschlossenen Vertrag ihre durch den Krieg und die russische Revolution unterbrochenen diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen wieder aufnahmen. Diese beiden Parias des internationalen Mächtesystems fanden am Ende aus purer Not heraus zusammen, weil es zumindest für die deutsche Seite keinerlei Möglichkeiten gab, sich nach Westen zu öffnen.

Daraus entwickeln sich Sonderbeziehungen in wirtschaftlicher, politischer, militärischer, zum Teil auch in kultureller Hinsicht. Der Rapallo-Komplex zieht sich bemerkenswerterweise durch das gesamte deutsch-russische Jahrhundert, bis in die Gegenwart. Eine der letzten Entscheidungen von Angela Merkel gemeinsam mit dem französischen Präsidenten auf einem EU-Gipfel 2021, bei der beide ohne Absprache mit den Verbündeten Wladimir Putin ein Gipfeltreffen ohne jegliche Vorleistung anbieten wollten, hat unsere östlichen Partner immens verprellt. Da waren wieder die Befürchtungen: Sind die Deutschen etwa wieder dabei, zwischen Ost und West zu mäandern, und keine verlässlichen Partner? Das ist das, was wir unter Rapallo-Komplex verstehen.

Die deutsche Politik seit Gründung der Bundesrepublik hat trotz aller Befürchtungen unserer Nachbarn immer wieder klargemacht: Es gab keine deutsche Rapallo-Politik, und es gibt auch keine deutsche Rapallo-Politik.

 

Am 30. Dezember 2022 jährt sich der Gründungstag der Sowjetunion zum einhundertsten Mal. Welche historische Erfahrung sollte an diesem Tag besondere Aufmerksamkeit bekommen?

Stefan Creuzberger: Wir sollten darauf hinweisen, dass die Sowjetunion ein Staat war, der aus einer Revolution hervorgegangen ist. Eine Gruppe bolschewistischer Berufsrevolutionäre hat einen Umsturz gewagt, der die damalige Welt auf den Kopf stellte und ihr den Kampf ansagte. Es waren Revolutionäre, die es zum Grundprinzip der UdSSR gemacht haben, dass auch über Terror und Gewalt politische Entscheidungen herbeigeführt werden können.

Wir in Deutschland sind auf den Stalinismus fokussiert. Aber der Anfang und die eigentliche Geburtsstunde des Stalinismus sind mit der Person Lenin verbunden. Es gehörte zum ideologischen und politischen Repertoire der Sowjetmacht und der Bolschewiki, Gewalt und Terror zu Grundprinzipien von Politikgestaltung zu erheben. Diese waren wesentliche Kennzeichen der Sowjetmacht – in der Innen- wie auch Außenpolitik. Und eben diese UdSSR hat über sieben Jahrzehnte hinweg die internationale Szenerie beherrscht, insbesondere im Kalten Krieg.

Was wir heute in Form des Krieges in der Ukraine erleben, ist in mancherlei Hinsicht das schwere Erbe der Sowjetunion, weil ein Mann wie Wladimir Putin im Geiste dieses sowjetischen Imperiums sozialisiert ist. Für ihn ist es die geopolitische Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dass die UdSSR am 25. Dezember 1991 durch einen großen Mann wie Michail Gorbatschow aufgelöst worden ist.

 

Stefan Creuzberger, geboren 1961 in Calw, promovierter Historiker, Vertrauensdozent der Konrad-Adenauer-Stiftung, Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte sowie Leiter der Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland, Historisches Institut, Universität Rostock, u. a. Mitherausgeber der Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD).

Das Gespräch führte Ralf Thomas Baus am 13. Oktober 2022.

 

Literaturhinweis

Stefan Creuzberger: Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung, zweite Auflage, Hamburg 2022.

Die Publikation wurde für den Deutschen Sachbuchpreis 2022 und die Longlist des NDR-Sachbuchpreises 2022 nominiert.

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