Asset-Herausgeber

Über die Literaturpreisträgerin der Konrad-Adenauer-Stiftung 2025

Asset-Herausgeber

Eine junge Frau kehrt nach zwanzig Jahren aus Deutschland in das transsilvanische Dorf ihrer Kindheit zurück. Es ist Michelsberg, südlich von Hermannstadt, das heute Sibiu heißt. Anlass ist der Tod ihrer Großmutter Agneta. In der Mittagshitze des Spätsommers sitzen sie und Julian, ein Freund aus Jugendtagen, unter einer der Kastanien auf dem Weg zum Dorf. In der Ferne verblasst das Blau der Karpaten, das letzte Heu wird gemäht, sie hören Gesprächsfetzen der rumänischen und deutschen Feldarbeiter und sprechen über „Orte, die uns in die Vergangenheit blicken lassen und uns gleichzeitig die Zukunft erblicken lassen“.

Mit dieser dichten Landschaftsbeschreibung beginnt der erste Roman von Iris Wolff, Halber Stein (2012). Die 1977, geborene Autorin stammt aus Hermannstadt, wuchs im Banat und in Siebenbürgen auf und siedelte 1985 mit ihren Eltern nach Deutschland aus. Dort studierte sie Germanistik, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei in Marburg an der Lahn, war einige Jahre lang als Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und als Dozentin für Kunst- und Kulturvermittlung tätig. Bis März 2018 koordinierte sie das Netzwerk Kulturelle Bildung am Kulturamt in Freiburg.

Seit 2012 hat Iris Wolff fünf Romane veröffentlicht, die große Beachtung in der Kritik fanden und mit namhaften Literaturpreisen ausgezeichnet wurden, 2021 dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis und dem Eichendorff-Literaturpreis, 2023 dem Chamisso-Preis Hellerau, 2024 dem Uwe-Johnson-Preis und aktuell dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2025. Es sind Romane, die eine südosteuropäische Erinnerungslandschaft erschließen, autofiktional geprägt wie die Werke von Herta Müller, aber von einer anderen Generationserfahrung ausgehend und von unterschiedlicher ästhetischer Gestalt. Wulf Kirsten (Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung 2005) hat Wolffs Romane als „subtile, poetische Schilderungen in einer klaren, eingängigen Sprache“ gewürdigt: „Wiederum ein Abgesang auf das Ende der Siebenbürger Sachsen in Rumänien, ein Ausklang mit bislang nicht vernommenen Facetten und politischen Hintergründen.“

Die Eingangspassage ihres Debütromans ist ein Passepartout für ihr Schreiben. Sie gehört zu den Urszenen, aus denen sich bislang jedes Buch von Iris Wolff entwickelt. In ihrem zweiten Roman Leuchtende Schatten (2015) ist es die erste Begegnung der Erzählerin mit einer jüdischen Mitschülerin in Hermannstadt Anfang der 1940er-Jahre, kurz vor der Rekrutierung einheimischer Soldaten für die Wehrmacht, die wie ein Volksfest gefeiert wird, und dem bald darauf folgenden Frontwechsel Rumäniens.

Ein Brennpunkt des Romans Die Unschärfe der Welt (2020) ist das Märchen vom Zauberer von Oz (1900), einer ambivalenten und ängstlichen Gestalt. Oz wird in Iris Wolffs Roman eine Figur namens Oswald gerufen, der mit einem Agrarflugzeug aus dem Securitate-Staat flieht, ohne die posttraumatische Belastung abschütteln zu können, die er unter Nicolae Ceauşescu erlitten hat; der Roman zeichnet im Kapitel „Makromolekular“ ein bitterböses Porträt dieses selbstermächtigten „Conducătors“.

 

Makromolekulares Schreiben

Sprechend ist auch der Titel von Iris Wolffs drittem Buch, einem Roman aus vier über die Figuren miteinander verflochtenen Erzählungen: So tun, als ob es regnet (2017). Dahinter steckt die rumänische Redensart „se face că plouă“. Sie bedeutet geistige Abwesenheit oder Vorspiegelung falscher ‚Tatsachen‘. Die dritte Erzählung heftet die ‚Unschärfe‘ der Dinge an ein Ereignis von weltpolitischer Dimension: Handlungszeit ist der Tag nach der ersten Mondlandung 1969. Vicco, der Klischees verachtet, Bindungen scheut und die Freiheit nicht im Westen, sondern am Schwarzen Meer entdeckt, erinnert sich an Laika, die russische Hündin, deren Raumflug 1957 den Sputnik-Schock mit auslöste. Doch dann heißt es: Limontschik (das „Zitrönchen“), wie die Hündin auch genannt wurde, „hatte den Ausflug ins All nicht überlebt“. Der Satz vergrößert das Kleine, um die Fiktion kenntlich zu machen, auf der das damalige kosmische Wettrüsten beruhte. Der Titel der Erzählung, Das Zitrönchen im All, markiert diese Entdeckungsfreude im makromolekularen Schreiben von Iris Wolff.

Foto: © Maximilian Gödecke

Wie unter einem Vergrößerungsglas bündeln sich in solchen Schlüsselszenen und Schlüsselwörtern die leitenden Themen von Iris Wolffs Büchern: das Interesse an Epochenschwellen und Bruchstellen der Geschichte, insbesondere an Deportation und Migration in den deutschsprachigen Regionen Rumäniens, in Siebenbürgen und im Banat; der doppelbödige Zusammenhang zwischen Erinnerung und Vergessen, von Heimat und Freiheit; die unterschiedlichen Fragen der Generationen an eine Vergangenheit, die trennt und verbindet; die Geschichten von Freundschaft und Verrat; die subtile Kraft einer freien dichterischen Sprache, die sich von keiner Ideologie vereinnahmen lässt. Alle Bücher von Iris Wolff gehen von Rumänien aus oder führen dorthin, im Rückblick der Erinnerung und im Spiegelblick der Gegenwart. Beschrieben wird, was bei der Rückkehr an einen Erinnerungsort mit diesem Ort – und mit der Erinnerung – passiert, der sich vehement verändert hat, weil die rumäniendeutsche Ethnie seit den 1990er-Jahren weitgehend verschwunden ist. Viele Häuser in Dörfern und die Kirchenburgen sind verfallen, die Gärten verwaist, die Straßen von wilder Kamille überzogen, die Kirchen zerstört oder ihrer ursprünglichen Konfessionalität entfremdet.

Das ist in dem Debütroman Grund zur Klage für den Pfarrer, der damit auch sein Herkunftsgedächtnis bestattet: „Unser Zusammenhalt ist fort, unsere Dörfer sind verfallen und von anderen Nationalitäten bevölkert.“ Ihm widerspricht ein Trauergast: „Doch vielleicht leben wir einfach an der Schwelle zu etwas Neuem.“ Trauer und Erinnerungsschmerz sind wichtig, sekundiert die Erzählerin. Und beweist mit ihrer Erzählung, dass es auf die Kraft der Geschichte, auf das Storytelling ankommt, um herauszufinden, welche Heimat transportabel ist für die Zukunft. Es ist, wie Iris Wolff in einem Interview vom Januar 2021 sagte, eine Heimat, die „kein Ort“ ist, „aus dem man vertrieben werden kann, sondern ein innerer Ort, den zu finden man die Freiheit hat“.

 

Sprechende Titel und Erinnerungsorte

In diesem Sinne ist der Titel von Iris Wolffs Roman sprechend: Der „Halbe Stein“ ist ein Naturmonument aus der Kreidezeit in Michelsberg. Er sieht aus wie eine zur Hälfte abgerissene Brücke, die man über eingemeißelte Felsmulden erklettern kann. Wenn die Erzählerin den Stein erklimmt, schlägt sie die Brücke zu einer Erinnerung, die die verlorene Heimat nicht wehmütig, sondern mit dem Wissen um das Vergessen beschreibt. In diesem Zusammenhang lässt Iris Wolff ihre Erzählerin eine Passage aus Joseph Roths Roman Radetzkymarsch (1932) zitieren, einen biblisch getönten Abgesang auf das Habsburgerreich, dem Siebenbürgen und das Banat bis 1918 zugehörten: „Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum Wachsen; und alles, was unterging, brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden. Aber alles, was einmal vorhanden gewesen war, hatte seine Spuren hinterlassen, und man lebte dazumal von den Erinnerungen, wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen.“

„Orte auf Zeit, inmitten der Dunkelheit“, so nennt Iris Wolff in ihren Dresdner Reden zu Chamisso-Preis und Poetikdozentur (Einladung ins Ungewisse, 2024) die Erinnerungsorte, wenn sie in den Roman kommen. Diese lieux de mémoires kerben Spuren in der Zeitgeschichte. Sie sind Ankerstellen fürs Erinnern, Leuchtpunkte für das kulturelle Gedächtnis oder, wie es in Iris Wolffs jüngstem Roman Lichtungen (2024) heißt, „Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing […] über die Zeit verstreut“ zu erzählen.

Hier ist es ein ungleiches Paar, das sich in neun rückläufig erzählten Kapiteln seiner uneindeutigen Erinnerungen vergewissert, die Lev und Kato trennen und immer wieder verbinden: den zögerlichen, meist zuhörenden Lev, der nach dem Sturz der Ceaușescu-Diktatur in Rumänien geblieben ist, und die abenteuerlustige, visuell orientierte Kato, die in Zürich ein neues Leben als Straßenmalerin startet. Ihre Erinnerungen generieren Geschichten aus der rasant fortschreitenden Geschichte. Sie bezeugen die Bildungs- und Einbildungskraft der narrativen Fiktion. Mit den Mitteln poetischen Sprechens wird damit eine Zeit gelichtet, in deren Wendedynamik und Vergessensbereitschaft manchmal der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sichtbar ist.

Der Roman ist für Iris Wolff jener Ort, an dem die Widersprüche, die Doppel- und Uneindeutigkeiten von Zeitgeschichte und Lebensgeschichten nicht ausgeglichen, sondern ausgehalten werden müssen. Zu den saarländischen Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgangs 2022 sagte sie: „Geschichten befreien uns durch Anschaulichkeit, manchmal auch mit List und Humor, aus unseren Irrtümern, der Beschränkung auf unsere eigene Perspektive. Sie lassen Raum für eigene Deutungen“ (Tu, was du willst, 2022).

 

Wortlisten und Sprachgedächtnis

Eine archetypische Figur für dieses Geschichtenerzählen ist die Großmutter. In nahezu jedem Roman von Iris Wolff taucht sie auf: als Sammlerin schräger Sprichwörter und entstellter Redensarten in Leuchtende Schatten („Das setzt dem Faß die Krone auf“, „So sicher wie das ABC in der Kirche“, „Unkraut kommt selten allein“); als rhapsodische Hüterin des Wissens von Kulturaustausch und Migration in Halber Stein, wo sie der Erzählerin ein Rumänienbuch des deutschen Instituts für Auslandsbeziehungen vermacht; als irrlichternde Märchenfigur in der Schlussgeschichte „Wölfe und Lämmer“ aus So tun, als ob es regnet, die auf eine Wende des Wetters hofft, wenn sie umgedreht im Bett schläft und sich ausmalt, „was man am nächsten Tag noch alles umgedreht machen könnte, falls das Wetter ihren freundlichen Wink nicht verstehen sollte“.

In Interviews hat Iris Wolff bekannt, dass auch sie selbst Listen von Wörtern und Redensarten anlegt, die ihr durch Klang, Treffsicherheit und Gefährdung auffallen. Mit poetischer Eleganz und szenischer Dichte sammeln ihre Romane europäische Lebensgeschichten, die zeitlich und räumlich auseinanderliegen, und fügen sie in einen Erzählzusammenhang, der die Generationen verbindet. Auf diese Weise vermittelt Iris Wolff literarische Lichtblicke in die Zeitgeschichte.

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Literaturreferent der Konrad-Adenauer-Stiftung, außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität zu Köln.

comment-portlet