Asset-Herausgeber

Gestaltung: StanHema
von Annette Schwarzbauer

Erfahrungen mit der Inflation in Venezuela

Asset-Herausgeber

Der erste, gar nicht so umfangreiche Einkauf in einem venezolanischen Supermarkt im August 2020: Die Rechnung beträgt rund achtzehn Millionen Bolívares. Ein kurzes Zögern, bevor ich meine deutsche Kreditkarte herausrücke. In den Folgemonaten werden Millioneneinkäufe zur Normalität. Zunächst liegt der Wechselkurs zwischen Euro und Bolívar bei rund eins zu 360.000 und explodiert bis September 2021 auf eins zu 5.000.000; im Oktober erfolgt dann die Streichung von sechs Nullen. Seitdem ist der Wechselkurs recht stabil – Erfahrungen in einem Land der Hyperinflation, für auswärtige Gäste mit Komplikationen verbunden, für die meisten Venezolaner eine Katastrophe. Der Verlust der Kaufkraft ist dramatisch.

Dennoch konnte im Februar 2022 die Hyperinflation in Venezuela für beendet erklärt werden. Laut Lehrmeinung gilt eine Hyperinflation als überwunden, wenn in zwölf aufeinanderfolgenden Monaten die Inflationsrate unter fünfzig Prozent liegt, was nun nach gut vier Jahren der Fall war. Ihren Höhepunkt erreichte die Inflation 2018 mit rund 130.000 Prozent. Allerdings zählen auch die aktuellen Inflationsraten zu den höchsten weltweit. Die Preise für Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs stiegen in der Währung Bolívar bis ins Unermessliche; aber auch jetzt ziehen die Preise in einem de facto dollarbasierten Umfeld für Lebensmittel und Dienstleistungen weiter an.

Der Mindestlohn fiel in den letzten Jahren bis auf Beträge im umgerechnet einstelligen US-Dollar-Bereich: etwa bei staatlichen Universitätsdozenten mit Monatsgehältern von rund sieben US-Dollar. Im Privatsektor lagen die durchschnittlichen Monatsgehälter 2021 bei fünfzig bis 100 US-Dollar. Demgegenüber lag der monatliche Warenkorb für Lebensmittel für eine fünfköpfige Familie im März 2022 bei rund 350 bis 470 US-Dollar. Rentenzahlungen im einstelligen US-Dollar-Bereich führten ehemals gut situierte staatliche Angestellte in völlige Altersarmut. Vor einigen Wochen sorgten Nachrichten über einen renommierten, inzwischen pensionierten Naturwissenschaftler für Betroffenheit, der anscheinend aus Armutsgründen völlig entkräftet in der Wohnung mit seiner vor Tagen verstorbenen Frau gefunden wurde.

Zum Leben zu wenig – und zum Sterben zu viel. Wie überleben Venezolaner in diesen Zeiten? Ein Großteil der Bürger erhält Unterstützung aus staatlichen Hilfsprogrammen in Form von Lebensmittelpaketen und Bonuszahlungen, die den Grundbedarf allerdings kaum decken. Viele Venezolaner haben informelle Mini-Unternehmungen begonnen, sei es im Handel, in der Produktion oder im Dienstleistungsbereich. Wer über Ersparnisse in US-Dollar verfügt, lebt von ihnen. Von großer Bedeutung sind Überweisungen von Familienangehörigen aus dem Ausland. Seit 2015 sind rund sechs Millionen Bürger ausgewandert. Manche Arbeitgeber im Privatsektor zahlen ihren Angestellten eine Art Zulage in US-Dollar. Verschiedene humanitäre Initiativen unterstützen Bedürftige, zum Beispiel mit Mittagstischen für Kinder oder Medikamentenspenden.

Venezuela verfügt über die größten Erdölvorkommen der Welt, und die Wirtschaft ist traditionell rohstoffabhängig. Hohe Staatsausgaben, der Verfall von Produktionsstrukturen nach Preisdiktaten für verschiedene Güter, Enteignungen, Abwanderung qualifizierter Arbeitnehmer und der Einbruch des Ölpreises ab 2014 setzten eine Abwärtsspirale in Gang. Verstärkt wurde diese Entwicklung seit Anfang der 2000er-Jahre durch die vom damaligen Staatspräsidenten Hugo Chávez ausgerufene Politik des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, die mit vielfältigen Sozialleistungen einherging, die später unbezahlbar wurden. Von 2014 bis 2020 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 74 Prozent. Notwendige Sparmaßnahmen der Regierung und später verhängte Finanz- und Wirtschaftssanktionen der USA erschwerten die Situation für die Bevölkerung zusätzlich.

Angesichts der wirtschaftlichen und humanitären Krise hat die Regierung Nicolás Maduro inzwischen verschiedene Liberalisierungsschritte eingeleitet: zuerst Freigabe des Wechselkurses zum US-Dollar, die schrittweise Aufhebung von Preisbindungen, Importerleichterungen und eine Akzeptanz der De-facto-Dollarisierung. Derzeit werden einzelne enteignete Betriebe an ihre Eigentümer zurückgegeben. Erste Schritte einer wirtschaftlichen Wiederbelebung sind zu beobachten. Im März 2022 wurden die Mindestgehälter auf rund dreißig US-Dollar erhöht, für Anfang Mai sind Verbesserungen bei den Rentenzahlungen angekündigt. Steigende Ölpreise im Zuge des Ukraine-Krieges sorgen für etwas Erleichterung auf der Einnahmenseite. Allerdings sind die Produktionskapazitäten eingeschränkt und müssen erst wieder voll aufgebaut werden.

Der Weg zu einem „normalen“ Leben und einer funktionierenden Wirtschaft ist noch weit. Preise für Lebensmittel und vor allem im Dienstleistungsbereich steigen weiterhin kräftig an. Angesichts der leichten Wiederbelebung und der De-facto-Dollarisierung scheint sich alles neu einpendeln zu müssen. So kommt es, dass einerseits viele Venezolaner weiterhin mit Armut und der täglichen Versorgung zu kämpfen haben, andererseits jedoch teure Geschäfte und gut besuchte Restaurants mit gepfefferten Preisen aus dem Boden sprießen. Koste es, was es wolle: Hauptsache dabei sein und heraus aus dem Krisenmodus, scheint die Devise derjenigen zu lauten, die es sich leisten können und wollen. Im Dienstleistungssektor scheint inzwischen fast alles möglich. Was ist noch normal?

Von einigen als selbstverständlich betrachteten Preisen wird Venezuela sich in Zukunft sicherlich verabschieden müssen. Ein erster Schritt wurde mit der Einführung des „internationalen“ Benzinpreises an den Tankstellen getan, der aktuell bei 0,50 US-Dollar pro Liter liegt. Aus europäischer Sicht ein weiterhin günstiger Preis, aus venezolanischer Sicht unerhört, ist das Land doch traditionell an Preise von unter einem Cent gewöhnt, die bei Ausgabe von subventioniertem Benzin auch weiterhin gelten.

Auch für eine funktionierende Strom- und Wasserversorgung werden künftig sicherlich andere Preise aufgerufen werden müssen als die derzeitigen. Ein Haushalt zahlt derzeit monatlich Beträge im einstelligen US-Dollar-Bereich für Strom und Wasser, wobei in rund der Hälfte der Haushalte die Wasserversorgung nur an wenigen Tagen in der Woche gewährleistet ist, der Strom ab und zu ausfällt. Eine funktionierende Versorgung, für die eine Überholung der Infrastruktur dringend notwendig ist, wird für die aktuellen Preise kaum zu haben sein.

Inflation und Dollarisierung haben zu einer weiteren Schwierigkeit geführt: Wie zahlt man überhaupt? Bargeld in Bolívares gibt es kaum, zu Zeiten der Hyperinflation war dies erst recht nicht der Fall. Geldautomaten, an denen man sich mit den nötigen US-Dollar versorgen kann, gibt es auch nicht. Nicht jedes Geschäft oder jeder Dienstleister akzeptiert internationale Kreditkarten. Aufgrund dieser Problematik hat sich eine Vielzahl internetbasierter Zahlungsdienste und kreativer Alternativen entwickelt, um an Geld zu kommen. Und das Trinkgeld für den Aufpasser für das Fahrzeug am Straßenrand oder den Jugendlichen, der beim Tütenpacken im Supermarkt hilft? Wird vielfach in Naturalien gezahlt – mit einer Tüte Maismehl, ein paar Eiern oder Zigaretten.

 

Annette Schwarzbauer, geboren 1965 in Münster, Leiterin des Auslandsbüros Venezuela der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Caracas.

comment-portlet