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von Karl Schlögel

Der Revolutionsschauplatz Sankt Petersburg

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An dramatischen Stadtschicksalen fehlt es Europa nicht. Im 20. Jahrhundert sind alle Stadien der Stadtvernichtung und des Wiederaufbaus sichtbar geworden. Hauptstädte wurden zu Provinzen, stille Provinzorte zu Regierungssitzen, Städte gingen im Bombenhagel oder durch Deportationen und Bevölkerungsaustausch zugrunde. Alte Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, in weiten Ebenen wurden neue gegründet. Nur wenigen Städten war es beschieden, binnen kürzester Zeit mehrmals ihren Namen zu ändern. Eine solche Stadt ist Sankt Petersburg, 1703 im sumpfigen Newa-Delta als künftige Hauptstadt des Russischen Kaiserreiches gegründet, 1914 nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Petrograd umbenannt, 1924 nach Lenins Tod zu Leningrad geworden, ein Name, der seit dem Zweiten Weltkrieg mit der Selbstbehauptung gegen die Blockade der Deutschen verbunden war, bis der Stadt 1991 ihr alter Name zurückgegeben wurde.

Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution, in der Petrograd für einen Augenblick das Zentrum von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg in Europa bildete, und ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des sowjetischen Imperiums ist die Stadt dabei, sich neu zu erfinden. Das Nachdenken über die Stadt und den „Großen Oktober“ will aber angesichts der Unentschiedenheit des Urteils über das Erbe der Russischen Revolution nicht recht in Fahrt kommen. Der Mythos der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und die Zerstörung der demokratischen Republik gehen nicht zusammen.

Zitadelle der imperialen Macht

Der Petersburger Fall ist im Vergleich zur Geschichte anderer Hauptstädte, die am Ende großer Imperien ihre dominierende Stellung eingebüßt hatten – Konstantinopel am Ende des Osmanischen Reiches oder Wien nach der Auflösung der Donaumonarchie – der dramatischste. Hier hatten sich alle nur denkbaren Widersprüche und Konfliktlinien zu unlösbaren Knoten geschürzt. Für ein Menschenleben schoben sich an diesem Punkt die schöpferischen Energien, die das Reich aufbieten konnte, übereinander.

Es ist nicht nur der Standort eines großen sozialen, politischen und kulturellen Kraftwerkes, sondern gleich mehrerer: Petersburg ist die Zitadelle der imperialen Macht, das Gehäuse eines dynamischen Kapitalismus, der Aufmarschplatz eines wie sonst nirgendwo frischen Proletariats von scharf ausgeprägter Identität und Militanz, die Bühne für eine Intelligenzija, der die revolutionäre Politik zum Beruf geworden war. Die Kraft, die sich darin zusammenballte, riss die Stadt im Augenblick der Weltkriegskrise in den Abgrund. Was folgt, ist ein qualvoller Prozess der Desurbanisierung und Provinzialisierung und eine stille, von gewaltsamen Eingriffen forcierte Transformation, deren schrecklichster nach den Säuberungen der 1930er-Jahre die Belagerung Leningrads durch die Deutschen war. Aber es folgte auch jedes Mal etwas Unglaubliches: die Neubildung der Metropole, ihre Wiedergeburt. Petersburg war die Hauptstadt eines Reiches, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Konzentrations- und Austragungspunkt aller Widersprüche wurde, an denen das Reich zugrunde ging, zum Aktionsplatz all der Kräfte, die für Russland eine Entwicklungsmöglichkeit jenseits des Ancien Régime suchten. Es wird zur „Interferenzzone“ aller Widersprüche des Reiches. Eine Abbreviatur dieser Kräfte und Widersprüche könnte so lauten: Die Stadt, erst 1703 gegründet, war der Herrschaftssitz einer 300 Jahre alten Dynastie, das imperiale Zentrum eines Vielvölkerstaates, dessen Herrschaftszusammenhang und politischer Stil noch bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges geprägt waren von der feudal-patriarchalischen Ordnung eines Landes, in dem erst 1861 die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, in der noch bis ins Jahr 1917 die alte Stände-(Soslovie-)Ordnung – wenigstens äußerlich – intakt war und in der trotz gewisser Zugeständnisse an die gesellschaftliche Entwicklung die Autokratie bis zuletzt funktionierte. Petersburg ist der Sitz der höfischen Rituale, der Paraden – zuletzt zum 300jährigen Jubiläum der Dynastie Romanow 1913.

„Fenster nach Europa“

Ungeachtet dieser konservativen äußeren Struktur sind das Land und die Stadt alles andere als statisch. Seit der Bauernbefreiung hatte eine Entwicklung eingesetzt, die alle Züge einer raschen Auflösung der alten Ordnung aufwies. Sankt Petersburg wird zum Zentrum dieser Auflösung. Es ist das Zentrum des russischen Hochkapitalismus, der dort einsetzen konnte, wo andere Länder erst nach Zurücklegung einiger Vor- und Zwischenstufen angelangt waren: Großbetriebe, wie man sie sonst in Europa kaum fand, Bildung einer Arbeiterklasse fast aus dem Stand, moderne Technologie und Entstehung ganz neuer Industriezweige – Maschinenbau, Chemie, Elektroindustrie – binnen eines Jahrzehnts.

Petersburg war als Stadt der Peripherie und als Reichshauptstadt auch der maßgebliche Berührungspunkt mit der europäischen Welt. Die Stadt ist der Hauptstützpunkt der ausländischen Botschaften, der Firmen und der immer zahlreicher werdenden Banken. Die Nähe zur Regierung, der imperiale Charakter der Stadt machen sie zum idealen Niederlassungspunkt des ausländischen Kapitals. Das vorrevolutionäre Adressbuch „Ganz Petersburg“ führt eine internationale, man möchte fast sagen globale Stadt vor Augen: keine Weltfirma, keine Marke, die nicht mit einer Fabrik, einem Büro, einer Filiale vertreten wäre – von der Dresdner Bank bis zu Siemens-Schuckert, von HenkellChampagner bis zu Renault, von den Brüdern Nobel bis Westinghouse. Die exzentrische Lage der Hauptstadt und ihre Gründungsgeschichte auf fremdem, erobertem, kolonialem Boden verschärfen diese Züge vor allem im geistigen und kulturellen Leben. Die Petersburger Kultur zu Jahrhundertbeginn hat eine 200-jährige Europäizität hinter sich: Generationen von Handwerksmeistern des Luxusgewerbes, die als Hoflieferanten fungieren – alles französische oder deutsche Namen; die Entwicklung von Branchen, die nicht aus der russischen Entwicklung hervorgewachsen sind, sondern sich an den importierten Standards orientieren; die Erziehung durch den Stil, den die Hauptstadt selbst repräsentiert: Strenge, Formbewusstsein, Arbeit im Angesicht der vorgegebenen Stadt und ihrer Struktur – eine Kolonialstadt wie im Buche, das berühmte „Fenster nach Europa“, aber nicht weniger Europas Fenster nach Eurasien.

„Peasant Metropolis“

Das russische Reich ist zu Jahrhundertbeginn voller Dynamik, Erschütterungen, Verwerfungen. Kein Ort der Agonie, sondern einer fast treibhaushaften Entwicklung und extremer Gegensätze. Die Stadt hört auf, nur noch imperiale Residenz zu sein; sie wird zum Schnittpunkt der Kräfte, deren Mobilisation und Gegenmobilisation sie letztlich überwältigt. Hierzu zählt eine Bauernschaft, die vom Lande losgerissen und in die Stadt getrieben wird, deren Hauptkontingent sie stellt – die imperiale Residenz als Stadt von Bauern, die doch keine Bauern mehr sind. Petersburg als Zentrum einer entwurzelten, fluktuierenden Masse; auch eine „peasant metropolis“, wie sie David L. Hoffmann für das Moskau der forcierten Kollektivierung und Industrialisierung in den 1930er-Jahren ausgemacht hat.

Petersburg ist die bedeutendste Industriestadt des Reiches mit einer Arbeiterschaft, die es innerhalb von zwei Generationen zu einer Klassenbildung bringt, die aber in dem Augenblick, wo die Industrie infolge von Revolution und Bürgerkrieg stillliegt, zurück aufs Land strömt und aufhört, die vielleicht kompakteste Klasse des Russischen Reiches zu sein.

In Petersburg fand sich eine Industriellenklasse mit großen Namen wie Putilow, Bari oder Koppel, die über die größte Kapitalkonzentration des Reiches verfügt, aber zu sehr vom Ausland dominiert und zu nahe am Hofe war, um zum selbstbewussten Sprecher eines bürgerlichen Dritten Standes in Russland werden zu können. Der Newski-Prospekt ist gesäumt von Großbanken, die die Reichtümer des Imperiums hinter sich haben, aber so sehr an ausländisches Kapital gebunden sind, dass sie wohl mehr die Interessen des deutschen, französischen und belgischen Kapitals wahrnehmen und semikoloniale Züge tragen. Schließlich ist die Hauptstadt der Ort der dichtesten Öffentlichkeit mit all ihren Zeitungen, Instituten, Theatern – Aktionsraum einer Intelligenzija, für die es im expandierenden Reich trotz allen Modernisierungsbedarfs zu wenig Verwendungs- und Aufstiegsmöglichkeiten gibt und der nur der Weg ins gesellschaftliche Abseits und in die politische Radikalisierung bleibt.

Grandiose Freisetzungsbewegung

Was andere Länder in langen Phasen durchlaufen haben, bricht sich in Russland binnen zwei, drei Jahrzehnten Bahn. Leo Trotzki, der erste Akteur und Historiker in einer Person, hat es frühzeitig festgestellt: Russland beginnt spät, dafür aber mit der modernsten Maschinerie. Es liegt weit zurück, aber es hat die höchsten Zuwachsraten in der Förderung von Erz, Kohle und Öl. Es überspringt fast das Dampfzeitalter und landet gleich im Zeitalter der Elektrizität – genauer: bei der AEG Emil Rathenaus. Es ist ein Land von Analphabeten, aber die russische Buch und Zeitungsproduktion nimmt den dritten Platz in der Welt ein. Es hat nur einen „Schein-Parlamentarismus“ – so Max Weber –, und doch kristallisiert sich um das Taurische Palais die aufregendste und in vielem originellste politische Szenerie Europas, die die fähigsten Köpfe anzieht. Die russische Provinz lebt wie Jahrhunderte zuvor, aber entlang der Eisenbahn- und Flussschiffslinien ist sie in Bewegung geraten, fasziniert und mitgerissen vom neuen Tempo. Es läuft eine grandiose Freisetzungsbewegung an: heraus aus dem Dorf in die Stadt, fort vom Feld hinein in die Fabrik, heraus aus der Unwissenheit, hinein in die Bildungseinrichtungen. Russland ändert sich in den zwei Jahrzehnten vor der Revolution radikaler als in zwei Jahrhunderten zuvor.

Aufbruch mit anderen Mitteln

Der „Große Krieg“, den Russland nicht will, aber doch führen wird, ist unter diesen Gesichtspunkten die Fortsetzung dieses Aufbruchs mit anderen Mitteln. Er transformiert die industrielle Mobilisation in die militärische Mobilmachung, er beschleunigt die selbstständige wirtschaftliche und technische Entwicklung. Der Krieg wird mithilfe von Staat und Industriellen aus einem bloß imperialen zu einem imperialistischen und aus einem dynastischen zu einem von Massen getragenen modernen Völkerkrieg, der – von der radikalen Demagogie der Bolschewiki angefeuert – in den Bürgerkrieg umschlägt.

Kapitalistischer Industrialismus wird zum Hauptmotor der Destabilisierung des alten agrarischen, ständischen Russland, eines Vielvölkerreiches wohlgemerkt, und der Erste Weltkrieg zur wirksamsten Revolution von oben: Er reißt die arbeitsfähige Bevölkerung vom Lande los und füllt damit seine militärische und industrielle Armee. Die Zerrüttung des Imperiums wird zur Chance für die Völker, die endlich ihre Unabhängigkeit erlangen können – dauerhaft: die Polen, Finnen, die baltischen Völker, für einen kurzen Augenblick: die Ukrainer. Der Krieg ist das Feld, auf dem über das „Russland nach dem Krieg“ nachgedacht wird. In dieser „nationalen Mobilmachung“ bereitet sich der eigenständige russische Weg in die Zukunft vor. In der Mobilisation und Entwurzelung, die der Krieg der industriellen Mobilisation und Entwurzelung folgen lässt – Peter Gatrell hat es in seiner großartigen Studie A Whole Empire Walking beschrieben – wird der Kulminations- und Umschlagspunkt erreicht. Die Revolution ist dieser Umschlagspunkt, die Revolution gegen den Krieg ist eine Revolution aus dem Krieg heraus und in den Bürgerkrieg hinein. Das Regime, das aus diesem Krieg hervorgeht, wird für lange Zeit ein Notstandsregime bleiben, ein Ausnahmezustand in Permanenz, „Kriegskommunismus“ im unmittelbaren Sinn des Wortes.

Blüte und Niedergang

Hauptschauplatz dieser gleichzeitig-ungleichzeitigen Schübe und Erschütterungen ist Petersburg/Petrograd. In dieser Bewegung werden die Ordnungsbarrieren gesprengt, an deren Existenz die Stadtwerdung Petersburgs gehangen hatte. Diese Stadtwerdung wird in kürzester Zeit rückgängig gemacht: in der Entvölkerung der Bürgerkriegszeit, in der die Einwohnerzahl von 2,1 Millionen auf etwa 700.000 zurückgeht; in der Abwanderung der Arbeiterklasse, in der Dezimierung ihres bürgerlich-aristokratischen Bevölkerungsanteils durch Repression, Flucht und Exil, in der Umverteilung des gesamten Wohnungsbestandes, im radikalen Elitenwechsel und im Transfer der neuen Regierung im Frühjahr 1918 in das neue Zentrum, nach Moskau.

In dieser gleichzeitig-ungleichzeitigen Konjunktion von Blüte und Niedergang liegt auch der besondere Tonus der Petersburger Kultur. Sie ist erfüllt von der Zuversicht, dass der alte Zustand endlich einer längst fälligen Europäisierung und Normalisierung weicht, und ist durchdrungen von der Ahnung, dass die Kräfte der Erneuerung zugleich hinausschießen könnten über die bloße Abschaffung des obsoleten und verhassten alten Zustandes. Alexander Blok hat die Tragik dieser Kultur zwischen den Fronten in seiner Rede „Zusammenbruch des Humanismus“ im Jahre 1918 klar erkannt und in elegisch-düstere Worte gefasst: „Die Träger der Zivilisation, die gegen die überlebten Staatsformen kämpfen, meinen, jede Revolution sei Wasser auf ihre Mühle. Die Staatsformen, die immer offener ihre dekadente bürokratische Struktur enthüllen, bezeichnen sie äußerst treffend als Barrieren; in dieser Bezeichnung liegt jedoch ein für die Zivilisation trauriges Mißverständnis; denn gerade diese Formen, an denen einerseits die Zivilisation und andererseits die Revolutionen so eifrig rütteln, sind der einzige Schutz der Zivilisation gegen die Revolutionen. Die vom Optimismus der Zivilisation eingehüllten Menschen auf der einen Seite der Barriere ahnen nicht, daß, sobald in die Barriere eine genügend breite Bresche geschlagen ist, sich der elementare Strom über sie selbst ergießen und ihre eigene Existenz bedrohen wird Wenn wir uns aber nicht damit abfinden, wenn wir daran festhalten, was die menschliche Zivilisation als unerschütterliche Werte proklamiert – werden wir dann nicht schon bald von der Welt und von der Kultur, die die zerstörerische Flut auf ihrem Kamm mit sich trägt, abgeschnitten sein?“

Von diesem Bewusstsein, dass die Schaffung des neuen Russland zugleich die Protagonisten dieses neuen Russland unter der Wucht der Umwälzung begraben könnte, ist die Petersburger Kultur erfüllt. Darin liegt ihre strahlende Gebrochenheit, ihre leuchtende Melancholie, ihr resignativer Charme, ihre heroische Gelassenheit, dem eigenen Untergang sehenden Auges beizuwohnen.

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Karl Schlögel, geboren 1948 in Hawangen (Allgäu), Historiker und Publizist, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder), lebt in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen (Auswahl): Petersburg 1909–1921. Laboratorium der Moderne (München 2002), <

em>Terror und Traum. Moskau 1937 (München 2008), Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen (München 2015). Im Herbst 2017 erscheint sein neuestes Buch: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt (C. H. Beck Verlag, München).

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