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Neujustierungen in Nachkriegszeiten

Die deutsche Ost- und Russlandpolitik vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute

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Eine Kapitulation im Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte in Reims am 7. Mai 1945 reichte nicht aus: Der sowjetische Diktator Josef Stalin beharrte darauf, dass die Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin-Karlshorst wiederholte. Die Vertreter des „Dritten Reiches“ unterzeichneten daher in der Nacht zum 9. Mai 1945 ein zweites Mal ihre totale Niederlage.

Der in deutschem Namen geführte Vernichtungs- und Weltanschauungskrieg hatte vor allem über Ostmitteleuropa und die Sowjetunion ungeheures Leid gebracht. Vor achtzig Jahren wurde die nationalsozialistische Schreckensherrschaft mit Gewalt beendet – nicht mit diplomatischen Zugeständnissen oder wirtschaftlichen Sanktionen. Durch den Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion zu einer Supermacht aufgestiegen. Stalins exklusive Machtsphäre reichte bis zur Elbe. Deutschland war zerstört, machtlos und in Besatzungszonen aufgeteilt. Und doch stellte sich den Protagonisten der wiedererstandenen politischen Parteien schon bald die Frage nach dem künftigen Umgang mit der UdSSR und den Staaten Ostmitteleuropas.

 

„Gespenst einer deutschen Schaukelpolitik“

Die erste ostpolitische Neujustierung fand mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 statt. Die neuen Konfliktlinien des Kalten Krieges hatten sich bereits vorher abgezeichnet. Konrad Adenauer widerstand den Verlockungen eines neutralistischen Kurses. Denn er wusste, wie präsent „das Gespenst einer deutschen Schaukelpolitik, einer Rapallo-Politik, den Westmächten“ noch war.[1] Weder schaukelte noch wankte Adenauer. Und er wollte nicht wehrlos sein. Die gegen massive Widerstände durchgesetzte deutsche Wiederbewaffnung, der Beitritt zur NATO und die aktive Teilnahme an europäischen Integrationsprojekten verankerten die Bonner Republik im Westen und zementierten den neuen ostpolitischen Kurs: Stärke vor Annäherung. Sicherheit in Europa wurde gegen und nicht mit der Sowjetunion gedacht und praktiziert. Trotz der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der UdSSR und der Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen 1955 aus der Sowjetunion schreckte die Regierung in Bonn primär aus deutschlandpolitischen Motiven vor mehr Bewegung in den bundesrepublikanisch-sowjetischen Beziehungen zurück.

Erst unter Ludwig Erhard kam es zu begrenzten ostpolitischen Initiativen. Die Hallstein-Doktrin wurde aufgelockert, und mit der sogenannten Friedensnote vom 25. März 1966 streckte man den Staaten des Warschauer Paktes die Hand für eine Zusammenarbeit aus. Sicherheit sollte mit ihnen erreicht werden. Das Gesprächsangebot war allerdings nur halbrevolutionär. Es fand keine komplette Neujustierung statt.

Grundlegender ging die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt vor. Unter dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“ setzte Brandts „Neue Ostpolitik“ auf eine aktive Entspannungspolitik, kontinuierliche Annäherung und fortwährende Verflechtung, die im Zuge der allgemeinen Détente in Europa die Spannungen weiter abbauen und auch deutschlandpolitische Fortschritte erzielen sollte. Dieses Ansinnen besaß Priorität; keineswegs gab Brandt jedoch die verteidigungspolitische Rückversicherung der Bundesrepublik im Verbund der NATO auf. Ebenso wenig vernachlässigte er die europäische Integration. Er betrieb keine Schaukelpolitik und beschritt keine Sonderwege à la Rapallo, wenngleich die westlichen Verbündeten mit Argusaugen auf die „Neue Ostpolitik“ und vor allem auf ihren sogenannten Architekten, Egon Bahr, schauten. Denn Bahr schien im Gegensatz zu Brandt zu einer weitreichenderen Neuordnung der gesamten europäischen Sicherheitsarchitektur bereit, in der die Verteidigungsbündnisse durch ein System der kollektiven Sicherheit nicht ergänzt, sondern womöglich gar ersetzt worden wären.

Luftmarschall Tedder und Marschall Shukow nehmen die bedingungslose Kapitulation der Oberbefehlshaber der Wehrmacht entgegen, Berlin-Karlshorst, 8. Mai 1945. Foto: © Museum Berlin-Karlshorst | Foto: Iwan Schagin

Die Entspannungspolitik erfuhr Ende der 1970er-Jahre einen deutlichen Dämpfer. Die Sowjetunion führte Krieg am Horn von Afrika, marschierte in Afghanistan ein und verschob das Gleichgewicht in Europa, vor allem im Bereich der substrategischen Kernwaffen. Die NATO musste reagieren. Der sogenannte Doppelbeschluss sollte auf die militärische Bedrohung antworten und dem Kreml zugleich ein Gesprächsangebot unterbreiten. Es handelte sich primär um eine Politik der Stärke, die allerdings dezidiert um den Wunsch nach Dialog und Entspannung ergänzt wurde. Helmut Schmidt scheiterte, da seine Partei ihm die Gefolgschaft verweigerte. Zu militaristisch sei diese Neujustierung; die Prioritätensetzung falsch. Erst die Koalition aus CDU/CSU und FDP unter Helmut Kohl setzte diesen Schritt gegen erhebliche innenpolitische Widerstände durch. Sicherheit war erneut primär nur gegen die Sowjetunion möglich. Stärke erhielt wieder Priorität gegenüber Entspannung.
 

Einbindungspolitik des Westens

Weitaus rosiger schien die internationale Großwetterlage nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der UdSSR. Die Charta von Paris, unterzeichnet am 21. November 1990, verankerte die Grundsätze einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur mit Russland. Die eigene Wehrhaftigkeit und eine Politik der Stärke wurden als teure, überflüssige oder gar gefährliche Relikte einer vergangenen Zeit erachtet. Die westlichen Staaten Europas reduzierten ihre Arsenale: von Tausenden Kampfpanzern auf wenige Hundert. Dies markierte einen entscheidenden Wandel. Im Zuge der Entspannungspolitik der 1960er-Jahre wollte man eine Annäherung basierend auf eigener Stärke erreichen. Nach 1990 mussten die Europäer auf das Gelingen einer Verflechtungspolitik hoffen, da keine eigene Stärke mehr vorhanden war und niemand an diesem Zustand grundlegend rütteln wollte. Eigene Stärke wurde, wenn überhaupt, nur außenwirtschaftspolitisch gedacht. Sicherheit mit Russland musste funktionieren, da es alternativlos war. Das entsprach einer Politik der selbst verschuldeten Schwäche, die Adenauer oder auch Brandt niemals akzeptiert hätten.

Kohl war zu Beginn seiner Amtszeit ebenfalls nicht dazu bereit und zeigte mit der Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses, dass er die Bundesrepublik für den Ernstfall wehrhaft und kriegstüchtig halten wollte. In den 1990er-Jahren geriet dieses Ansinnen aus dem Blick, da andere Gefahren – etwa der internationale Terrorismus, Staatszerfall oder Migrationsbewegungen – als drängendere Probleme angesehen wurden. Kohl war mit dieser Einschätzung nicht allein, allerdings in schlechter Gesellschaft. Hingegen machte Russland bereits in den 1990er-Jahren in außen- und verteidigungspolitischen Denkschriften deutlich, dass man keineswegs an das „Ende der Geschichte“ glaubte. Doch die Einbindungspolitik des Westens gegenüber Moskau – nicht nur die der Bundesrepublik – blieb unverändert.

Als die Russische Föderation unter Wladimir Putin zunehmend innenpolitisch autoritärer wurde und außenpolitisch revisionistischer auftrat, unternahm der Westen wenig. Der blutige Staatsterror in Tschetschenien war weit weg. Proteste gegen ihn gab es nicht. Der Russisch-Georgische Krieg 2008 schien ein Betriebsunfall, die russischen Kriegsverbrechen im Syrischen Bürgerkrieg eine Randnotiz, und selbst nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 und der Eskalation der Kämpfe im Donbas schwenkte man nicht auf eine Politik der Stärke um. Dies hätte keineswegs bedeutet, in den Konflikt einzugreifen, sondern sich verteidigungspolitisch auf die neue Weltlage so einzustellen, wie es in unzähligen Reden gefordert und auch proklamiert wurde. Doch ein wirklicher Ruck ging nie durch die Bundesrepublik. Damit stand Deutschland jedoch nicht allein: Auch in vielen anderen Ländern wurde nach 2014 keine außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Kehrtwende eingeläutet – oder ein anderer Umgang mit Russland gepflegt. Das Denken und Handeln in Kategorien von Abschreckung und Eindämmung war verpönt. „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“, diagnostizierte der seinerzeitige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier 2016 an der NATO-Ostflanke – nicht aufgrund des militärischen Auftretens Russlands, sondern wegen eines Manövers der Nordatlantischen Allianz.

 

Stärke vor Annäherung

Nach dem 24. Februar 2022 gab es mehrheitlich Ankündigungen einer Neujustierung. Trotz der Zeitenwende-Rhetorik fand eine fundamentale Verschiebung wie unter Adenauer, Brandt oder dem „frühen“ Kohl allerdings nicht statt. Die Russlandpolitik wurde angepasst, eine Rückkehr zu einer glaubhaften Politik der Stärke als Bedingung für Gespräche mit Moskau ist jedoch nicht erfolgt. Dies muss nun die neue Bundesregierung leisten: Stärke vor Annäherung. Dies ist kein sich ausschließendes, sondern ein sich ergänzendes Gegensatzpaar.

Bundeskanzler Konrad Adenauer (Mitte) nimmt am 9. Mai 1955 zu Beginn der NATO-Tagung in Paris erstmals seinen Platz im Atlantikrat ein. Links der französische Außenminister Antoine Pinay. Die Bundesrepublik Deutschland wurde in dieser Sitzung formell in den Nordatlantikrat aufgenommen. Foto: © picture alliance / dpa | dpa

Die Neujustierungen seit 1945 verdeutlichen, wie wichtig es ist, die eigenen Fehler der letzten Jahre nicht zu wiederholen, als eine Politik der Stärke keine sekundäre oder nicht einmal eine tertiäre Option war, sondern ganz vom Tisch genommen wurde. Außenpolitik ist immer Diplomatie, aber eben auch Verteidigungsfähigkeit. Dennoch ist der Zustand der Bundeswehr weiterhin eher erschreckend als abschreckend, obwohl eine glaubhafte konventionelle Abschreckung Russlands unabdingbar bleibt. „Aus der historischen Entwicklung der letzten 15 Jahre haben wir gelernt, daß totalitäre Mächte nur dann ihre aggressiven Ziele aufgeben, wenn sie mit einem Gegner zu rechnen haben, der nicht nur militärisch hoch gerüstet, sondern auch vom Willen beseelt ist, dieses Potential zur Verteidigung seiner Existenz unter allen Umständen einzusetzen“, erklärte Konrad Adenauer im April 1949.[2] Eine Analyse, die nahtlos in die heutige Zeit passt und auf die Notwendigkeit einer auch mentalen Zeitenwende hinweist.

Zudem zeigt der Rückblick auf 1945 die damalige Ohnmacht der europäischen Staaten. Die USA und die Sowjetunion bestimmten die Geschicke des Kontinents und definierten ihren Status als Großmacht weitgehend über ihre Stellung in Europa. Den US-Präsidenten lag etwas am Schicksal der Europäer. Die USA waren bereit, für die Freiheit Europas zur Not zu kämpfen und zu sterben. Diese Bereitschaft scheint nunmehr unter Trump II ungewisser denn je. Eine deutsche und europäische Politik der Stärke muss schlimmstenfalls ohne Uncle Sam bestehen können – umso stärker sollte sie sein.
 

Bastian Matteo Scianna, geboren 1987 in Worms, Privatdozent und Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Professur Geschichte des 19./20. Jahrhunderts und Professur Militärgeschichte/ Kulturgeschichte der Gewalt, Universität Potsdam.


[1] Zitiert in Bastian Matteo Scianna: Sonderzug nach Moskau. Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990, C. H. Beck, München 2024, S. 27.
[2] Konrad Adenauer in einem Interview mit Leo Jankowski für „West-Echo“; die schriftliche Fassung datiert vom 29.04.1949, S. 1 (StBKAH 02.02.), www.konrad-adenauer. de/zitate/sowjetunion/ [letzter Zugriff: 28.03.2025].