Es fand sich doch noch an, in der Schublade des Sekretärs, inmitten der alten Briefe und Personalausweise, neben dem grünen Barett der Bundeswehr und den drei blauen Murmeln aus Kindertagen: Omas Sparbuch – oder vielmehr das meiner „Schwiegeroma“: angelegt für meine Frau als Anerkennung, als sie 1989 ihr Abitur machte, ausgegeben von der „Bremer Bank“, die es heute nicht mehr gibt, versehen mit einer großzügigen Starteinlage von 4.000 D-Mark, eingetragen, unterstrichen und abgezeichnet noch handschriftlich mit schwarzem Kugelschreiber.
Das leicht zerfledderte, grüne Heft mit der weißen Schrift lag dann auf dem Tisch und verströmte den typisch muffigen Geruch, der alten Dokumenten und Büchern eigen ist, so als bewahrheite sich die Meinung, die man heute dem Sparbuch entgegenbringt: dass es altmodisch und langweilig sei und man mit durchschnittlich 0,5 Prozent jährlich garantiertem Zinsertrag keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken könne.
Auch nach der Finanzkrise preisen Banken und Kreditinstitute „moderne Finanzprodukte“ wie börsengehandelte Renten- und Investmentfonds, Anleihen oder Derivate ob höherer Zinsen und Renditen als „bessere Sparbücher“ an – nach wie vor erfolgreich, wie es scheint. Nach einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung haben beispielsweise sechzig Prozent aller Haushalte einen Teil ihres Sparguthabens in Fonds angelegt. Im Jahre 2009 waren das 805 Milliarden Euro. Die Einlagen auf deutschen Sparbüchern nehmen sich dagegen bescheidener aus: Laut der Statistik der Bundesbank von 2009 lagen dort „nur“ 577 Milliarden Euro.
Doch lange Zeit galt das Sparbuch als eines der liebsten Kinder der Deutschen. Arbeiter, Angestellte, selbst Unternehmer eröffneten ein solches, um für das Alter vorzusorgen, um notwendige Anschaffungen im Haushalt zu tätigen oder um sich Wünsche zu erfüllen – um „darauf zu sparen“, wie sie sagten. Noch bis in die jüngste Zeit hinein verschenkten es Verwandte an Kinder zu Taufen, Konfirmationen oder eben zu bestandenen Abiturprüfungen: als Starthilfe für ein eigenes Leben; und manchmal vererbten sie es nach ihrem Tode an Erwachsene: als ein das Zeitliche überdauerndes Zeugnis einer Lebenshaltung.
Das Sparbuch war auch der papierne Ausdruck einer Mentalität, seit es 1778 hierzulande erstmals die „Hamburger Ersparungskasse“ ausgab. Damit Dienstboten, Tagelöhner und Seeleute „ihren sauer erworbenen Not- und Brautpfennig sicher zu einigen Zinsen anlegen können“, wie es hieß.-Im achtzehnten Jahrhundert manifestierte sich im Sparbuch noch der für die damalige Zeit ehrgeizige Plan, Armen dazu zu verhelfen, Vermögen zu bilden, und ihnen hierdurch einen Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung zu ebnen – getreu der aufklärerischen Vorstellung, wonach ein jeder frei und gleich sei, um eigenverantwortlich ökonomische Ziele zu verfolgen, und gemäß der Moral jener neuen, aufstrebenden Schicht, die sich vom als faul und verschwenderisch verschrieenen Adel abgrenzte: des Bürgertums. Sparsamkeit galt neben Fleiß als eine der ersten seiner Tugenden.
Doch resultierte dieser neue Wert nicht allein aus dem Umstand, dass sich im Zeitalter der Aufklärung altehrwürdige Anschauungen von Stand und Religion aufzulösen begannen, dass stattdessen Effizienz und ökonomisches Denken zu gesellschaftlich dominierenden Prinzipien avancierten.
„Austeritas“ und „Temperantia“
In der Sparsamkeit kam in säkularisierter Form auch die christliche Idee der austeritas – der „Enthaltung“ – zum Tragen, die Voraussetzung für Mildtätigkeit sei; und genauso schlägt sich in ihr der schon in der Antike bekannte Gedanke der Mäßigung, der temperantia, nieder. In der Philosophie des Cicero war sie unter anderem Zeichen für ein „gutes, geglücktes“ Leben.
Werner Sombart, der deutsche Nationalökonom, weist in seinem berühmten mentalitätsgeschichtlichen Werk Der Bourgeois nach, dass sich Sparsamkeit als spezifisch bürgerliche Geisteshaltung schon im Florenz des fünfzehnten Jahrhunderts verbreitete. In den Familienbüchern des Florentiner Kaufmanns Alberti sieht Sombart den bürgerlichen Tugendkanon bereits vollständig ausformuliert. „Das war das Unerhörte, das Neue“, schreibt er zusammenfassend darüber, „daß jemand die Mittel hatte und sie doch zu Rathe hielt. Denn alsbald kam zu jenem Grundsatz: nicht mehr auszugeben als einzunehmen, der höhere hinzu: weniger auszugeben als einzunehmen: zu sparen. Die Idee des Sparens trat in die Welt. Nicht des erzwungenen, sondern des selbst gewollten Sparens, des Sparens nicht aus einer Not, sondern des Sparens-als einer Tugend. Der sparsame Wirt wird nun das Ideal selbst der Reichen, soweit sie Bürger geworden waren.“
Sparsamkeit – das war denn auch keine Frage der gesellschaftlichen Klassenzugehörigkeit, sondern gesellschaftlicher Klasse schlechthin. Der Bauer, der Arbeiter, der Kleinbürger hatten zu sparen, wenn sie mit ihren Mitteln auskommen wollten. Der Vermögende sollte es tun, um nicht in den Ruf zu geraten, zügellos zu prassen und zu vergeuden – und hierdurch sein Ansehen zu verlieren.
„Genieße was Du hast, als ob Du noch heute sterben solltest“, schreibt etwa der Dichter Christoph Martin Wieland, „aber spare auch, als ob du ewig lebtest. Der allein ist weise, der – beides eingedenk – im Sparen zu genießen, im Genuss zu sparen weiß.“
Das „Pfennigsparen“
Im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts kam es zu einer regelrechten Gründungswelle von Sparkassen vor allem in Deutschland, aber auch in Frankreich, England und der Schweiz. Das „Pfennigsparen“ setzte sich durch, bei dem verheiratete Frauen die im Alltag entbehrlichen Münzen zuerst in Sparstrümpfe, Spardosen und Sparschweine steckten – um sie dann auf das Sparbuch der örtlichen Sparkasse einzuzahlen. Bis zum Ersten Weltkrieg entstanden in Deutschland circa 17.000 dieser Institute; auch die weniger Begüterten besuchten sie bis zu dreimal jährlich.
Geld gespart wurde an allem und für alles in allen gesellschaftlichen Schichten: an Kohlen, mit denen man wirtschaftlich heizte, wie es die Schriften der „Reichskohleräte“ nahelegten, an alten Kleidern und Mänteln, die man reparierte und daher keine neuen kaufte; für den „Notgroschen“ in schlechten Zeiten, die Ausbildung der Kinder und das Auskommen im Alter – für das „Sparbuch“. Schulden zu machen war ein Tabu, genauso den Umgang mit Geld nicht zu reglementieren – für etwa 83 Prozent der in den ersten drei Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts Geborenen, so ergab eine 2003 durchgeführte Studie über „monetäre Sozialisation“, gehörte dies noch selbstverständlich zur Erfahrungswelt. So urteilte etwa die 1913 geborene Frau Grübel: „Der Grundsatz war Sparen. Es kam auch darauf an, ein Sparguthaben zu haben, das muß ich auch haben. Es konnte gar nicht in Frage kommen, Schulden zu machen. Das gab es nicht. Da mußte dann das ganze Grundstück erhalten werden. Ich habe von meiner Mutter gelernt, alle Ausgaben aufzuschreiben. Und das tue ich bis zum heutigen Tage. Ich kann überhaupt nicht leben, wenn ich da nicht den Überblick habe.“
Ära des Massenkonsums
Doch in der Ära des Massenkonsums, in der immer mehr Kunden immer mehr Güter kaufen sollten, verlor sich auch immer mehr der bürgerliche Wert der Sparsamkeit – obwohl nach den immensen Vermögensverlusten in der Inflation der 1920er-Jahre der Spargedanke stark propagiert wurde und der Internationale Sparkassenkongress im Oktober 1924 sogar den seither begangenen „Weltspartag“ einführte; und obwohl die Nationalsozialisten ihrerseits dazu aufriefen, Güter und Gelder zu sparen und während des Krieges aus „Sparbüchern“ „eiserne Sparbücher“ machten: mit Vorteilen für Steuern und Zinsen, vorausgesetzt, man verzichtete auf Auszahlungen bis nach dem „Endsieg“.
Schon in den 1920er-Jahren vergaben amerikanische Banken „Kleinkredite“, um bei privaten Haushalten die Nachfrage zu stimulieren. Nach ihrem Vorbild führte sie die Deutsche Bank 1957 auch hierzulande ein, um „gesteigerter Konsumfreude Rechnung zu tragen“ und „im Kampf gegen das Vordringen der Sparkassen“, wie es in Erklärungen hieß.
Einen Kredit aufzunehmen, anstatt ein Sparbuch zu führen, sich zu verschulden, anstatt „Geld auf die hohe Kante zu legen“ – das wurde seither immer mehr zum Modus Vivendi: begünstigt nicht zuletzt durch die 68er-Bewegung, die jede Art von gesellschaftlich verordnetem Bedürfnisaufschub als „spießig“ verdammte, doch vor allem befördert durch eine beständig aggressiver werdende Werbung, die für die beständig wachsenden Mengen von Konsumgütern Kaufwünsche bei Konsumenten zu wecken versucht. Heute werben Banken im Internet und in Hochglanzbroschüren für „günstige“ Kredite, die „schnell und problemlos Wünsche erfüllen“ sollen – auch „ohne Schufa-Auskunft“, wie es heißt. Nur etwa sechs Prozent aller in den 1960er-Jahren geborenen Deutschen, so verlautet die Studie über „monetäre Sozialisation“, teilen heute den „Puritanismus“ der in den 1910er- und 1920er-Jahren geborenen Altvorderen; dagegen begreift sich fast ein Drittel von ihnen mehr oder weniger als „Hedonist“ – das schließt ein, Konsum mit Krediten zu finanzieren. „Ist zum Teil richtig“, antwortet beispielsweise Herr Batte, Jahrgang 1966, auf die entsprechende Frage, „wenn ich die Schulden an der richtigen Stelle mache, kann ich dadurch sparen, also Steuern sparen.“
Dementsprechend existiert seit 1999 die sogenannte Privatinsolvenz in Deutschland. Im Jahre 2012 waren hierzulande 6,6 Millionen private Haushalte überschuldet – analog zur immensen Verschuldung der Gemeinden, Städte, Länder und des Bundes; analog zur immensen Verschuldung von Staaten, Kommunen und Privathaushalten weltweit.
Global entartete Finanzen
Das ist denn auch die andere Medaillenseite der „neuen Finanzprodukte“, die seit zwanzig Jahren hierzulande Sparer einladen, ihre Gelder anzulegen; die auf den globalen Finanzmärkten zirkulieren, fernab ihrer Orte, an denen man sie ausstellte; und die ihre Gewinnerwartung auch aus den Schulden beziehen, die weltweit aufgenommene Kredite zukünftig abwerfen sollen – ermöglicht nicht zuletzt durch die seit den 1980er-Jahren sich ausbreitende Praxis, Gläubigerforderungen zu verbriefen, sie in speziellen Wertpapieren zu bündeln und sie wiederum auf den globalen Finanzmärkten zu veräußern. Derart sollten nicht nur Schulden wieder zu Geld, sondern auch die Risiken der „neuen Finanzprodukte“ auf den international verflochtenen Finanzmärkten breiter gestreut und vermindert werden. Doch sie nahmen zu. Zu sehen vor allem an der gegenwärtigen Finanzkrise, ausgelöst durch amerikanische Subprimekredite, deren Verpflichtungen europäische und asiatische Banken kauften – samt des hohen Risikos, das damit einherging.
Es scheint, dass in der globalisierten Welt funktionierende Kapitalmärkte sparsamer, maßvoller Menschen bedürfen; aber dass dies schwer ist in Zeiten, da Werbung aggressiv das Heil in immer mehr Konsum verspricht und immer höhere Gewinne aus neuen Finanzprodukten – und dass denn auch das Sparbuch nunmehr nur zu einem Erinnerungsort zu werden droht inmitten eines sich global entortenden Finanzsystems. Der vorerst letzte Eintrag im Sparbuch meiner „Schwiegeroma“ datiert jedenfalls vom Oktober 2001. Da wurden die bis dahin angesparten 10.556 Euro abgehoben, um sie in einem Investmentfonds anzulegen. Was genau für Anlagen das Paket beinhalte, wisse sie nicht, sagt meine Frau, aber es sei wohl rentabler.
Michael Böhm, geboren 1969 in Dresden, freier Publizist und Autor, unter anderem für „Du – Das europäische Kulturmagazin“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur.