„Revolución en Libertad“ – „Revolution in Freiheit“: Unter diesem Motto stand der Wahlkampf, der die chilenischen Christlichen Demokraten vor fünfzig Jahren an die Regierung führte. Mit 56,1 Prozent der Stimmen wurde Eduardo Frei Montalva (1911–1982) am 4. September 1964 zum Präsidenten Chiles gewählt. Wenig später eroberte die Christlich Demokratische Partei, der Partido Demócrata Cristiano (PDC) bei den Kongresswahlen eine absolute Mehrheit in der Abgeordnetenkammer und wurde zeitgleich stärkste Kraft im Senat. Nie zuvor hatte eine Partei eine derartige Machtposition im politischen System Chiles errungen – entsprechend groß waren die Erwartungen und Hoffnungen, die Frei und dem PDC entgegengebracht wurden.
Die Anfänge der chilenischen Christlichen Demokraten lassen sich bis in die 1930er-Jahre zurückverfolgen, als sich später führende Mitglieder des PDC – außer Frei etwa Bernardo Leighton und Radomiro Tomic – in einer Studentenorganisation an der Universidad Católica in Santiago kennenlernten. In Lesezirkeln studierten sie zentrale Texte der katholischen Soziallehre, vor allem die Enzykliken Rerum Novarum und Quadragesimo Anno, die später – verbunden mit der Philosophie Jacques Maritains – zur wichtigsten Quelle des Parteiprogramms werden sollten. Inspiriert wurden alle PDC-Konzepte zur umfassenden sozioökonomischen Reform des Landes von Anfang an durch die christliche und kommunitäre Überzeugung, der Mensch verfüge als individuelle Person über unantastbare Rechte und habe auch als soziales Wesen Anspruch auf einen gesicherten Platz in den verschiedenen intermediären Gemeinschaften wie der Familie, der Gemeinde und der Berufsorganisation. 1938 erfolgte die Gründung der ersten christlich demokratischen Partei, der Falange Nacional (FN), der es jedoch bis in die Mitte der 1950er-Jahre hinein nicht gelang, bei nationalen Wahlen mehr als vier Prozent der Stimmen zu erhalten.
1957 schloss sich die FN mit anderen sozialchristlichen Kräften zur Christlich Demokratischen Partei, dem PDC, zusammen. Die Partei erlebte in den folgenden Jahren ein rasantes Wachstum und etablierte sich innerhalb kurzer Zeit als einflussreiche dritte Kraft neben der Konservativen und den linken Parteien. Die katholischen Bischöfe gaben in den frühen 1960er-Jahren ihre althergebrachte Allianz mit den Konservativen auf und forderten tief greifende soziale Reformen. Das konnte unschwer als Befürwortung des PDC-Programms gedeutet werden. Hinzu kam die Unterstützung durch europäische christliche demokratische Parteien und Organisationen – so engagierte sich die Konrad-Adenauer-Stiftung seit 1962 über das „Institut für internationale Solidarität“ in Chile. Schließlich bewog die Furcht vor einem Wahlsieg des Sozialisten Salvador Allende Konservative und Liberale dazu, Freis Kandidatur zu unterstützen. Der Weg zu einer absoluten Mehrheit für den Christlichen Demokraten war damit geebnet. Nach einem scharfen, anti-marxistisch geprägten Wahlkampf waren es überdurchschnittlich viele Frauen und Angehörige der ländlichen Unterschichten sowie der städtischen Mittelschichten, die große Hoffnungen in das PDC-Programm setzten und Frei somit den Sieg sicherten.
Land und Bildung
Die erste christliche demokratische Regierung Chiles stand vor gewaltigen Problemen. Die Bevölkerung Chiles hatte sich in den dreißig vorausgehenden Jahren mehr als verdoppelt, Vermögen und Einkommen waren extrem ungleich verteilt, die Inflationsrate betrug allein im Jahr 1964 43 Prozent. Fast ein Fünftel der Chilenen waren Analphabeten, die sozialen Sicherungssysteme waren insbesondere in den ländlichen Regionen nur rudimentär entwickelt, es fehlten Hunderttausende auch nur minimalen Standards genügende Wohnungen, und die Lebensumstände vieler Menschen in den städtischen Armenvierteln waren katastrophal. Unter den Reformprojekten, die Frei und seine Partei angesichts dieser Lage umsetzten, ragen zwei heraus: Das Herzstück des initiierten Strukturwandels bildete eine umfangreiche Agrarreform. Die Regierung enteignete gegen Entschädigungszahlungen bis 1970 ein Fünftel der gesamten landwirtschaftlich genutzten Flächen Chiles; dieses Land befand sich zuvor in der Hand von Großgrundbesitzern. Tausende besitzlose Familien erhielten das Land als Eigentümer zur Bewirtschaftung in familiären und kooperativen Betrieben.
Die Anhebung der Mindestlöhne im Agrarsektor, die konsequente Förderung der Gewerkschaftsbildung auf dem Land sowie ein Infrastrukturprogramm vervollständigten die Reform.
Auch in der Bildungspolitik setzte Frei neue Akzente. Von 1964 bis 1970 wurden 3.000 Schulen gebaut, 1970 gingen 95 Prozent der schulpflichtigen Erstklässler tatsächlich zur Schule, Tausende Lehrer wurden zusätzlich ausgebildet und eingestellt, die Zahl der Studenten verdoppelte sich.
Irrtum und Diktatur
Das Reformprogramm des PDC war noch nicht abgeschlossen, viele Maßnahmen begannen erst, ihre Wirkung zu entfalten, als 1970 die nächste Präsidentschaftswahl anstand. Nachdem keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit hatte erreichen können und somit der Kongress den Präsidenten zu wählen hatte, verhalf der PDC mit seinen Stimmen Allende zur Mehrheit. Nach anfänglicher punktueller Zusammenarbeit verfolgten die Christlichen Demokraten seit der Mitte 1972 jedoch einen strikten Oppositionskurs gegenüber der Regierung und trugen dadurch zur Verschärfung der politischen Krise des ohnehin polarisierten Landes bei. Die Lage im Land spitzte sich dramatisch zu. Blockademaßnahmen der USA wie eine eilig vorangetriebene Verstaatlichung zahlreicher wichtiger Unternehmen verschärften den Einbruch der Wirtschaftsleistung. Die Inflation galoppierte, es kam zu wachsenden Versorgungsengpässen. Vor allem aber konnte die Regierung der zunehmenden politischen Gewalt von links und rechts nicht mehr Herr werden, zudem unterdrückte sie selbst die Streiks einiger PDC-naher Gewerkschaften blutig. Angesichts dieser chaotischen Lage begrüßten große Teile des PDC den Pinochet-Putsch vom 11. September 1973 zunächst als Akt der Stabilisierung des Landes. Bald wurde jedoch klar, dass die Generäle keineswegs, wie von führenden PDC-Politikern erhofft und erwartet worden war, die politische Macht nach kurzer Zeit demokratisch gewählten Politikern übergeben würden. 1975 gingen die Christlichen Demokraten in offene Opposition zum Pinochet-Regime. Diese neue Haltung führte im März 1977 zum Verbot des PDC; nicht zuletzt durch ihre Nähe zur katholischen Kirche gelang es den Christlichen Demokraten jedoch, trotz Repressionen zentrale Parteistrukturen aufrechtzuerhalten. Frei selbst bezahlte seinen seit 1975 öffentlichen Einsatz gegen die Diktatur wahrscheinlich mit dem Leben. Am 22. Januar 1982 starb er unter mysteriösen Umständen; die Ergebnisse gegenwärtig noch laufender Untersuchungen legen eine Vergiftung im Auftrag der Junta nahe.
Selbstkritik und Neubeginn
Seit der Mitte der 1970er-Jahre diskutierte der PDC die eigene Rolle in den Allende-Jahren. Führende PDC-Mitglieder, unter ihnen auch Frei, räumten eigene Fehler und eine Mitschuld der Christlichen Demokraten an der Zuspitzung der innenpolitischen Lage seit 1970 ein. Es war vor allem diese kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, die den Weg für eine Zusammenarbeit mit den Sozialisten und anderen Oppositionsparteien ebnete und schließlich 1988 zum Wahlbündnis der Concertación führte. Nach ihrem Sieg im Referendum über die Verlängerung der Amtszeit Pinochets, gegen die 55 Prozent der Chilenen stimmten, waren es die Parteien der Concertación, die die Rückkehr zur Demokratie maßgeblich gestalteten. Mit Ausnahme der Präsidentschaftswahlen von 2009 haben seither Kandidaten des Wahlbündnisses den Sieg erringen können, 1990 wurde der Christliche Demokrat Patricio Aylwin zum Präsidenten gewählt; 1994 bis 2000 folgte ihm Eduardo Frei Ruiz-Tagle, der Sohn Frei Montalvas.
Die christlich demokratischen Regierungen Aylwins und Freis verfolgten in den 1990er-Jahren eine Wirtschaftspolitik, die dem Land hohe Wachstumsraten, eine massive Senkung der Inflationsrate und eine Stabilisierung der öffentlichen Finanzen bescherte. Auch bei der Bekämpfung der Armut wurden trotz der immer noch bestehenden großen sozialen Kluft wichtige Fortschritte erzielt. Nicht minder bedeutend waren die politischen Konsolidierungsbemühungen dieser Jahre im tief gespaltenen Chile: Vertraute Pinochets besetzten noch immer entscheidende Positionen in Militär und Justiz; die während der Diktatur erlassene Verfassung war weiterhin in Kraft und erschwerte politische Reformen. Die Arbeit der nationalen Wahrheits- und Versöhnungskommission wie auch erste Gerichtsverfahren gegen Militärangehörige trugen in der Zeit der christlich demokratischen Regierungen entscheidend zur öffentlichen Auseinandersetzung mit der Zeit der Diktatur bei; zudem überstanden die Regierungen manchen gefährlichen Konflikt mit dem Militär unbeschadet.
Seit der Rückkehr zur Demokratie hat sich der PDC erneut fest im chilenischen Parteiensystem etabliert. Bei den letzten Parlamentswahlen wurden die Christlichen Demokraten zweitstärkste Kraft, innerhalb des Wahlbündnisses Concertación errangen sie in den vergangenen Jahren immer wieder den ersten Platz, Mitglieder des PDC bekleiden wichtige Funktionen auf allen politischen Ebenen. Bis heute findet das Versprechen Eduardo Frei Montalvas in Chile breites Gehör: „Wir werden nicht nur eine Regierung bilden, die wirtschaftlichen Fortschritt, Gerechtigkeit und die verantwortungsvolle Einbeziehung des Volkes in alle Aufgaben und Wohltaten garantiert, sondern wir werden dieses alles auch in Freiheit und mit Respekt vor den Rechten der menschlichen Person erreichen!“
Johannes Müller-Salo, geboren 1988, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kollegforschergruppe „Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Literatur
Fleet, Michael: The Rise and Fall of Chilean Christian Democracy. Princeton 1985.
Hofmeister, Wilhelm: Option für die Demokratie. Die Christlich-Demokratische Partei (PDC) und die politische Entwicklung in Chile 1964–1994, Paderborn u. a. 1995.
Rinke, Stefan: Kleine Geschichte Chiles. München 2007, bes. S. 136–143, 175–195.