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von Wolfgang Eichwede

Die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ bleibt ein Botschafter der Aufklärung

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Als das Oberste Gericht Russlands am 28. Dezember 2021 in letzter Instanz entschied, die Moskauer Organisation für historische Aufklärung und Menschenrechte Memorial zu „liquidieren“, stellte es sich in die Tradition der Verbote, die zu dem Untergang der alten Sowjetunion beigetragen hatten.

Schon bald nach dem Tod Josef Stalins im März 1953 rang die „Intelligenzija“ im sowjetischen Imperium darum, sich der obrigkeitlichen Bevormundung zu entziehen. Manche Werke konnten sogar im Zeichen des „Tauwetters“ mit Zustimmung der Zensur publiziert werden. Doch blieb der Toleranzrahmen eng, sodass sich eine Literatur im geistigen Untergrund oder in „Selbstverlagen“ (Samisdat) entwickelte, darunter Werke wie Boris Pasternaks Doktor Schiwago (1957), Alexander Solschenizyns Archipel Gulag (1973) oder die Gedichte von Anna Achmatowa. Eine kulturelle Blüte im Verborgenen.

An sie konnten jene Sowjetbürgerinnen und -bürger anknüpfen, die 1987 – in den frühen Jahren der Perestroika – begannen, gegen alle Widerstände der Obrigkeiten Unterschriften zum Bau eines Denkmals zu sammeln, das zur Erinnerung an die Opfer von Stalins Terror mahnen sollte. Es war die Geburtsstunde von Memorial. Ich hatte das ungewöhnliche Glück, an den darauffolgenden Gründungskonferenzen der Organisation Ende Oktober 1988 und im Januar 1989 im Moskauer Dom Kino („Haus des Kinos“) teilnehmen zu können. Wir standen auf, um uns vor denen im Saal zu verneigen, die die Schreckensjahre des ungezügelten Mordens überlebt hatten.

Noch im November 1988 fand in einer Moskauer Elektrofabrik eine „Woche des Gewissens“ statt. An der Eingangswand hing eine Karte der Sowjetunion, auf der alle Lager eingezeichnet waren, daneben lange Listen von Namen – in der Hoffnung, Schicksale von in den Weiten Sibiriens verschollenen Personen aufzuklären. Mithäftlinge trugen Vermerke ein, Tränen flossen. Auf einem Friedhof gedachten wir der dort im Jahre 1937 Erschossenen. Als ich Weihnachten 1988 für wenige Tage nach Bremen zurückkehrte, berichtete ich nahezu euphorisch, dass sich in der Sowjetunion aus den Tiefen ihrer Geschichte heraus eine neue Gesellschaft bilde.

Die Weltmacht UdSSR zerfiel. Waren für den Kollaps primär ihre innere Schwäche und ihr ökonomisches Desaster verantwortlich, wurzelte die weitgehende Friedlichkeit des Wandels in der moralischen Stärke derer, die den Widerstand gegen die verrottete Diktatur verkörperten. Das junge Memorial war ein Herzstück davon. Einer seiner Gründer, Andrej Sacharow, bot den Repräsentanten der alten Macht unerschrocken die Stirn. Das intellektuelle Moskau war elektrisiert, das politische verstrickte sich in Machtkämpfe. Als eine aufgebrachte Menschenmenge die Zentrale des KGB – die Lubjanka – stürmen wollte, waren es Anhänger von Memorial, die das Gebäude mit einer Menschenkette schützten. Nicht nur, um eine ungezügelte Gewalt einzudämmen, sondern auch, um die Archive vor ihrer Zerstörung zu bewahren. Schon im Oktober 1990 errichtete Memorial vor eben dieser Lubjanka mit einem großen Stein von den Solowjezki-Inseln, auf denen das System des Gulags seinen Anfang genommen hatte, ein Mahnmal für die Opfer des stalinistischen Terrors.

In den Jahren des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des chaotischen Aufbaus eines neuen Russlands wirkte Memorial auf mich wie ein ruhender Pol. Eine eigene Infrastruktur wurde geschaffen, in Moskau ein Haus gemietet, im ganzen Land Filialen eröffnet. Bis heute lebt Memorial von der Aufgabe, die Geschichte der Verfolgung, des staatlichen Mordens und des Leids von Millionen Menschen in die öffentliche Erinnerung der Gegenwart zurückzuholen. Gleichzeitig galt es, sich um die heute oftmals in Armut lebenden Opfer des Terrors zu kümmern. Aus dem Kreis der Gründer sei ein weiterer namentlich genannt: Arsenij Roginskij, ein Historiker und Forscher aus Leidenschaft, ein begnadeter Redner und mitreißender Erzähler, ein strategischer Kopf im Aufbau und in der Steuerung von Memorial. Er war vier Jahre Häftling im Gulag. Mit seinen persönlichen Materialien und Papieren legte er den Grundstein für das heute in seinem Umfang gewaltige Archiv von Memorial.

Die Sammlungen wuchsen von Jahr zu Jahr, beruhen weitgehend auf persönlichen Schenkungen und umfassen Hunderttausende von Dokumenten, in denen sich die bitteren Lebenserfahrungen ungezählter Opfer der gesamten Sowjetepoche wiederfinden: Briefe, Tagebücher, Notizen aller Art, Kassiber, Gerichtsurteile, Protokolle und Aufzeichnungen von Verhören, Einlieferungs- und Entlassungsscheine, Rehabilitierungspapiere, aber auch Gegenstände des täglichen Lebens in der Gefangenschaft. Ein historischer Schatz, der einzigartig auf dieser Welt ist. Schon bald wurden Ausstellungen in Russland selbst und in anderen Ländern Europas über Kunst und Alltag im Gulag organisiert. Dort finden sich etwa Porträts von Gefangenen ebenso wie Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde, die die Landschaften des Nordens, die Zwangsarbeit und den Lageralltag zeigen, kleine Skulpturen aus Stacheldraht, Ornamente auf Stoffen und Schnitzereien.

 

Historisches Gedächtnis Russlands

 

Memorial gab von Beginn an Almanache, Sammelbände, Bulletins und Schriftenreihen heraus, die in die Hunderte gehen. Hinzu kommen Memoiren und wissenschaftliche Analysen in Monographien und Sammelbänden, oftmals auf Konferenzen vorgelegt, darunter eine Fülle von Regionalstudien etwa aus Perm, Workuta, dem Altai oder den entlegensten Orten Sibiriens. Nach detaillierten Forschungen wurden in Printform oder digital nicht nur die Namen der Opfer, sondern auch die Daten der Henker, der Mitarbeiter des Innen- und Geheimdienstes, publiziert. Die in ihrem Personalbestand vergleichsweise kleine „Gesellschaft“ schreibt mit ihrer Archiv-, Quellen- und Editionsarbeit am historischen Gedächtnis Russlands, ja sie ist ein unersetzbarer Teil von ihm. Aus der internationalen Forschung ist sie nicht wegzudenken.

Gleichzeitig widmet sich Memorial der Geschichte des bürger- und menschenrechtlichen Dissenses in der Nach-Stalin-Zeit von 1953 bis in die Zeit der Perestroika. Mit hoher Wahrscheinlichkeit besitzt das Archiv eine der umfangreichsten Sammlungen von Dokumenten der sowjetischen Dissidentenbewegung insgesamt, die durch die Übergabe von Nachlässen bis in die jüngste Gegenwart laufend erweitert wird. Auf ihrer Basis werden die „Akten des Samisdat“ publiziert, auch bahnbrechende Einzel- und Gesamtstudien sowie Memoiren. Die Organisation beteiligte sich an der Herausgabe einer Enzyklopädie von Biographien der Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler im gesamten sowjetischen Block.

In den historischen Projekten kommt Deutschland und Polen eine besondere Rolle zu. Memorial schrieb deutsche Geschichte, als seine Geschäftsführerin, Lena Zhemkova, 1992 in einem russischen Massenblatt nach dem Schicksal der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der ehemaligen UdSSR fragte, die während des Krieges als Sklaven in Hitlers Reich hatten arbeiten müssen. Sie erhielt mehr als 450.000 Antworten mit erschütternden Lebensberichten, die heute in einer Datenbank gespeichert sind und mehrere deutsch-russische Forschungsprojekte begründeten. Wie keine andere Initiative trugen sie dazu bei, dass Deutschland den Opfern von damals – nun endlich – Entschädigungen zahlte. Mit gleicher Intensität setzte sich die Moskauer Vereinigung für die Identifikation und Rehabilitierung Tausender polnischer Opfer (darunter viele Offiziere) ein, die 1940 vom Geheimdienst auf Anweisung der obersten sowjetischen Führung in Katyn erschossen wurden. Nicht zuletzt eröffnete Memorial mit einem Schülerwettbewerb gleichsam eine eigene Branche seines Archivs. Tausende russischer Schülerinnen und Schüler wurden nach den Erinnerungen ihrer Großeltern und Eltern zu den Jahren Stalins und des Krieges gefragt. Irina Scherbakowa, Historikerin und Publizistin mehrerer Bände mit Aufsätzen der Jugendlichen, spricht von einem beredten Einblick in das Gedächtnis der russischen Gesellschaft.

1988/89 waren mit der Gründung von Memorial große Erwartungen verbunden. Anfang der 1990er-Jahre schien es gar, als könne Memorial Einfluss auf die Formulierung von Verfassungsparagraphen und Gesetzesvorhaben nehmen. 1990 wurde Sergej Kowaljow Vorsitzender der Menschenrechtskommission des Präsidenten Boris Jelzin. Doch schon bald überlagerten im öffentlichen Bewusstsein die ökonomischen Zerreißproben, die das Land erschütterten, die Fragen der Erinnerungskultur. Der Erste Tschetschenienkrieg 1994/95 brachte eine tiefgreifende Wende: Memorial stellte sich vehement gegen den Krieg, Kowaljow reiste nach Grosny, um Friedensmöglichkeiten zu sondieren und den Menschen in der von russischen Bomben zerstörten Stadt seine Solidarität zu erweisen. Der Bruch mit Jelzin war besiegelt, doch konnte die Menschenrechtsorganisation fortan noch immer eigene Wege gehen.

 

„Liquidierung“ – und Friedensnobelpreis

 

Mit dem Machtantritt Wladimir Putins 1999/2000 wurde aus der Rolle im „Abseits“ eine offene Gegnerschaft. Von Jahr zu Jahr verschärften sich die Konflikte. Im Aufbau seiner „Vertikale der Macht“ suchte das Regime die Monopolisierung der Macht. Putin gelang es, mit dem Ruf nach Ordnung (die Korruption blühte freilich weiterhin) größere Teile der russischen Gesellschaft an sich zu binden oder wenigstens in Passivität zu halten. Unabhängige Handlungsräume wurden Schritt um Schritt eingeengt, kritische Stimmen isoliert, Oppositionelle sogar umgebracht, darunter die Journalistin Anna Politkowskaja und die Vertreterin von Memorial in Tschetschenien, Natalja Estemirowa.

Nach den Protestwellen Zehntausender Menschen Ende 2011 gegen die Machtspiele um das Präsidentenamt verschärfte Wladimir Putin die Repression und schürte gleichzeitig den russischen Nationalismus, um Gesellschaft und Staatsführung zusammenzuschweißen. 2012 wurde ein Gesetz verabschiedet, das unliebsame Organisationen als „ausländische Agenten“ einstufte. Bereits 2014 fiel Memorial darunter, nachdem die Organisation die Okkupation der Krim als völkerrechtswidrigen Kriegsakt bezeichnet hatte. Als Memorial sich weigerte, die geforderte Selbstbezeichnung zu übernehmen, wurde es 2016 dazu gerichtlich gezwungen. Parallel lief ein Feldzug gegen Memorial mit Gerichtsvorladungen, Falschmeldungen, Durchsuchungen und hohen Geldstrafen. Aktivisten der Vereinigung in Karelien und Tschetschenien wurden mittels erfundener Anschuldigungen hinter Gitter gebracht. Am 28. Dezember 2021 beschloss dann das Oberste Gericht der Russischen Föderation die „Liquidierung“ oder Auflösung von Memorial International in Moskau. Der Staatsanwalt Aleksej Zhafjarow, der dem äußersten nationalistischen Spektrum zugerechnet wird, hatte die Organisation zuvor beschuldigt, ein „lügenhaftes Bild“ der UdSSR als eines „terroristischen Staates“ zu verbreiten. Das Datum markiert eine Zensur in der postsowjetischen Geschichte.

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 arbeitet Memorial, obgleich „liquidiert“, unter hoher eigener Gefährdung weiter, wendet sich öffentlich gegen den Krieg, ruft zum Schutz der Opfer auf, sorgt sich fieberhaft um die Sicherung seines Archivs, bleibt im Internet mit wöchentlichen Bulletins und Veranstaltungen präsent, organisiert Stadtführungen durch Moskau mit seinen Stätten des Leids und der Gewalt. Nicht wenige der Mitglieder mussten in den letzten Wochen zum Schutz ihrer eigenen Sicherheit das Land verlassen, andere harren noch aus. Am 7. Oktober 2022 hat ein Moskauer Gericht den Hauptsitz der Organisation mit sämtlichen Büros beschlagnahmt und zu „öffentlichem Eigentum“ erklärt.

Am gleichen Tag erhielt Memorial gemeinsam mit dem ukrainischen Center for Civil Liberties sowie dem in Belarus inhaftierten Menschenrechtler und Anwalt Ales Bjaljazki den Friedensnobelpreis. Er wird die Machthaber im Kreml kaum beeindrucken. Aber er wird denen, die zivilen Widerstand leisten, Kraft geben. So erklärten die Moskauer Mitstreiterinnen und Mitstreiter unmittelbar nach dem Gerichtsurteil, sie würden ihre Arbeit „unter allen Umständen“ fortsetzen.

Memorial ist ein Botschafter der Aufklärung. Russland, das heute im Namen seiner imperialen Ansprüche dabei ist, sich selbst zu zerstören, braucht diesen Botschafter mehr denn je.

 

Wolfgang Eichwede, geboren 1942 in Friedrichshafen, Historiker, emeritierter Professor für Politik und Zeitgeschichte Osteuropas sowie Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen.

 

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