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von Martin Aust

Die Geschichte von Nationen in der Sowjetunion

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Die Verbreitung der Idee der Nation stellte das Russländische Imperium im 19. Jahrhundert vor die Frage, wie mit dieser neuen Vorstellung von Gruppenzugehörigkeit und ihrem Anspruch auf politische Partizipation umzugehen sei. Die Zaren und Eliten des Reiches fanden darauf unterschiedliche Antworten. Nikolaus I. (Regierungszeit 1825–1855) betonte in seiner Herrschaft die Loyalität zur Dynastie als politisches Prinzip des Imperiums und versuchte, nationale Bewegungen im Zarenreich einzudämmen. Alexander II. (Regierungszeit 1855–1881) ließ in seiner Krönungszeremonie die Vielfalt des Reiches mit seinen zahlreichen Ethnien, Kulturen und Sprachen als Ausdruck der Größe dieses Reiches inszenieren. Doch daraus entwickelte sich kein stringentes politisches Programm. Ganz im Gegenteil bekamen gerade Nationen wie die Ukrainer mit dem Publikationsverbot ukrainischer Sprache die repressive Seite des Imperiums zu spüren.

Alexander III. (Regierungszeit 1881–1894) ließ eine Politik fördern, die den Anschein erweckte, die russische Nation könne die Rolle des Trägers des Imperiums ausfüllen. Sichtbaren Ausdruck fand diese Politik im Bau prächtiger orthodoxer Kirchen in nicht-russischen Städten des Reiches. Der Generalstab der Armee – die allgemeine Wehrpflicht war 1874 eingeführt worden – begann zu dieser Zeit, die Ethnien des Zarenreiches nach unterstellten Loyalitätsgraden zu kategorisieren. Ostslawen, vor allem Russen, genossen den Ruf absoluter Loyalität, Juden und Muslime hingegen sahen sich stigmatisierenden Vorwürfen von potenzieller Illoyalität ausgesetzt. Unabhängig von Symbolpolitik und Loyalitätsdiskursen im Generalstab blieb das Zarenreich jedoch bis in den Ersten Weltkrieg hinein ein Vielvölkerstaat, der sein Funktionieren der Arbeit einer multiethnischen, in erster Linie der Dynastie und dem Reich verpflichteten Elite in Militär, Bürokratie und Ökonomie verdankte. Gleichwohl stellte sich die Frage, welchen Platz unterschiedliche Nationsbildungen im Reich einnehmen könnten.

 

Hoffnung auf Autonomierechte

 

Diese Frage überdauerte das Ende des Zarenreiches 1917. Nachdem Nikolaus II. in der Februarrevolution 1917 abgedankt hatte, erhofften sich viele Nationalitäten Autonomierechte in einem neuen, föderalen Russland. Die von Liberalen getragene Provisorische Regierung in Petrograd wollte solche Fragen jedoch einer erst noch einzuberufenden Konstituierenden Versammlung überlassen. So entfremdete sie die nationalen Bewegungen der Revolution, so auch die der Ukrainer, und leitete eine Entwicklung ein, in der sich die revolutionäre Bewegung in der Ukraine nicht nur zu einer sozialen, sondern auch zu einer nationalen, zu einer Emanzipation von Russland formte.

So gerieten die nationalen Fragen, die die Revolution vom Zarenreich geerbt hatte, 1918 bis 1921 zu einem Faktor im Bürgerkrieg zwischen den Roten, den Bolschewiki, und den Weißen, die von einer Wiederherstellung des Imperiums träumten. In ihren überschießenden weltrevolutionären Erwartungen waren einige Bolschewiki zunächst der Ansicht, dass Nationen ebenso wie der Kapitalismus alsbald der Vergangenheit der bourgeoisen Welt angehören würden und die Zukunft allein der globalen Herrschaft des Proletariats gelte. Der Bürgerkrieg und der polnisch-ukrainisch-sowjetrussische Krieg 1920 erwiesen sich jedoch als prompte Lehrmeister, die den Bolschewiki die Bedeutung nationaler Fragen vor Augen führten. Als polnische und ukrainische Truppen 1920 Kyjiw einnahmen, überwanden einige ehemalige russische Offiziere der zaristischen Armee die Hürde ideologischer Abgrenzung zu den Bolschewiki und entschlossen sich zum Kampf um Kyjiw für die Roten, da sie glaubten, allein die Bolschewiki könnten Kyjiw als eine russische Stadt erhalten und verhindern, dass sie zur Kapitale ukrainischer Staatlichkeit würde.

 

„Marxismus und nationale Frage“

 

Vor diesem Hintergrund entbrannte unter den Bolschewiki eine fundamentale Diskussion über den Umgang mit nationalen Fragen. Die hochfliegenden Erwartungen einer Überwindung nationaler Fragen im Zuge einer Weltrevolution unterlagen dabei einer Nationalitätenpolitik, die wesentlich von Wladimir Iljitsch Lenin konzipiert war und die Nationen als Instrumente revolutionärer Politik und des Aufbaus des Sozialismus zu nutzen gedachte.

Diese Argumentation ging davon aus, dass kolonialisierte Gesellschaften in der Welt und die bis zum Weltkriegsende von Imperien beherrschten Nationen im östlichen Europa auf ihrem Weg vom Feudalismus zum Sozialismus die Phase der kapitalistischen Welt und ihres Überbaus der Nation nicht gänzlich überspringen könnten. Insofern – so die Argumentation Lenins – gelte es, die Nation als eine Teilstrecke auf dem Weg zum Sozialismus zu begreifen. Dabei könne die Nation eine dem Sozialismus dienende Rolle spielen, indem sie den Menschen den Marxismus in ihrer Muttersprache nahebringe.

Die Formel von der nationalen Form und ihrem sozialistischen Inhalt leitete nun die Nationalitätenpolitik in der 1922 gegründeten Sowjetunion an. Als Volkskommissar für Nationalitätenfragen brachte Josef Stalin dabei sein Nationsverständnis ein, das er 1913 in Auseinandersetzung mit dem Austromarxismus in seiner Schrift Marxismus und nationale Frage formuliert hatte. Demzufolge verfüge jede Nation über eine eigene Geschichte, eine eigene Sprache, ein eigenes Territorium, eine nationale Ökonomie und schließlich geteilte psychisch-geistige Wesensmerkmale. Mit dieser ausgesprochen kruden Formel von Nation begann eine Territorialisierung von Verwaltungseinheiten in der UdSSR entlang nationaler Linien. Mehrfachidentitäten der Menschen und aus Migrationsprozessen resultierende Multiethnizität in unterschiedlichen Regionen fielen durch das Raster dieser schablonenhaften Auffassung. Auf der gesamtstaatlichen Ebene setzte sich die UdSSR aus Sowjetrepubliken wie denjenigen von Russland, der Ukraine, Weißrussland (heute Belarus) und anderen im Kaukasus und Zentralasien zusammen, deren Zugehörigkeit, Grenzen und Bezeichnungen sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mehrmals änderten. Das Grundprinzip, die Sowjetrepubliken als nationale Projekte zu begreifen, durchzieht die gesamte sowjetische Geschichte, bis 1991 die fünfzehn Unionsrepubliken Russland, Ukraine, Belarus, Estland, Lettland, Litauen, Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan, Kirgisistan und Turkmenistan als Nachfolgestaaten der Sowjetunion hervorgingen.

Die Nationalitätenpolitik der 1920er-Jahre begriff die Einteilung in Unionsrepubliken vor allem als Förderung sogenannter kleiner Nationen, die – wie Lenin es bezeichnete – im Zarenreich unter dem russischen Chauvinismus zu leiden hatten. Lenin sah das Zarenreich als einen Völkerkerker, in dem die russische Nation die Rolle des Gefängniswärters gespielt habe – eine Einschätzung, die ein Körnchen Wahrheit enthält, an der Komplexität des Zarenreiches jedoch vorbeigeht. Die Unionsrepubliken sollten nun eigene wissenschaftliche und künstlerische Institutionen erhalten, um das Defizit ihrer Nationsbildung, das das Zarenreich ihnen aufgebürdet hatte, wettmachen zu können. So entstanden in den Unionsrepubliken nationale Akademien der Wissenschaft und nationale Musik-, Kunst- und Literatureinrichtungen. Zugleich förderten die Bolschewiki den Schulunterricht in nationalen Sprachen und die Entstehung nationaler Kader in den Unionsuntergliederungen der Kommunistischen Partei. Die Suche nach eindeutiger nationaler Zugehörigkeit führte innerhalb der Unionsrepubliken zur Einteilung autonomer Gebiete und Kreise, in denen nach Lesart der Bolschewiki Menschen die Mehrheit bildeten, die nicht zur Titularnation der Unionsrepublik gehörten. Es ist auch heute immer wieder zu hören, das imperiale Zentrum habe Nationalitätenkonflikte auf diese Art und Weise stillgelegt. Die umgekehrte Lesart hat jedoch gleichfalls eine starke Berechtigung. Indem sich die Territorialisierung von Verwaltungseinheiten an ethnischen Kriterien orientierte und das Zentrum und seine ethnografischen Experten dabei eine Rolle spielten, erhielt und schuf das Imperium die Grundlagen für Nationalitätenkonflikte, die wie etwa derjenige zwischen Armenien und Aserbaidschan bis heute bestehen.

 

Neuer Kurs durch Stalins Kollektivierungskampagne

 

Die offizielle Lesart der 1920er-Jahre bestand jedoch in einer international-marxistischen Auffassung der Multiethnizität. Das idealistische Selbstbild der UdSSR war das einer großen Kommunalwohnung, in der jede Nation ihr eigenes Zimmer bewohnte. Diese doppelte Zugehörigkeit schlug sich in der Ausgabe von Pässen nieder, die neben der alle verbindenden sowjetischen Staatsbürgerschaft den Eintrag einer nationalen Zugehörigkeit enthielt, zu der außer den national begriffenen Unionsrepubliken auch die jüdische Nationalität gehörte. In ihrer freundschaftlichen Verbundenheit sollten die Nationen der Sowjetunion allen noch kolonialisierten Bevölkerungen in der Welt ein Beispiel für den Kampf gegen Imperialismus und Rassismus sein.

Die Grenzen dieser Nationalitätenpolitik traten jedoch schon bald deutlich zutage, als Stalin als unumstrittener Alleinherrscher ab 1928 in seiner Industrialisierungs- und Kollektivierungskampagne der UdSSR einen neuen Kurs vorgab. Die Sowjetunion hatte zu diesem Zeitpunkt das Wirtschaftsniveau des Zarenreiches vor dem Ersten Weltkrieg erreicht und war weit von den Vorstellungen entfernt, die sich die Bolschewiki von einer industrialisierten und urbanisierten sozialistischen Gesellschaft machten. Die Ernährung des Landes hing nach wie vor stark von einer Landwirtschaft ab, in der Bauern individuell ihre Felder bestellten und damit ganz wesentlich zur Ernährung des Landes beitrugen. Damit sollte nun Schluss sein. In einem überehrgeizigen Fünfjahresplan gedachte Stalin, das Land in die industrielle Moderne zu katapultieren. Urbanisierung und Industrialisierung sollten rasant steigen. Nomaden in Zentralasien und Bauern in den westlichen, zentralen und südlichen Regionen der Sowjetunion sollten ihre individuelle Wirtschaftsweise aufgeben, ihr Land in Kollektivwirtschaften, die Kolchosen, einbringen und festgesetzte Mengen an Getreide zur Versorgung der Städte und für den Export auf die Weltmärkte abliefern. Damit sollten die nötigen Devisen für die Investitionen in die Industrialisierung gewonnen werden.

 

Bolschewistische Feindbilder und der große Terror

 

Dieser Plan war in seiner monströsen Ambition von Anbeginn zum Scheitern verurteilt. Da das Eingeständnis eigener Fehler in Stalins Selbstentwurf jedoch nicht vorgesehen war, objektive Fehler im vermeintlich streng wissenschaftlichen Weltbild der Bolschewiki gleichfalls ausgeschlossen waren, mussten die Ursachen für das Scheitern woanders liegen. Schuldige mussten gesucht und gefunden werden. Schon seit der Revolution von 1917 gehörte das Bild von Saboteuren zum Arsenal bolschewistischer Feindbilder. Nun wurde es um nationale Feinde des bolschewistischen Projektes erweitert. So gerieten vor allem Nationen in den Randgebieten der UdSSR in den nach Verschwörern Ausschau haltenden Blick Stalins und des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (Narodny Kommissariat Wnutrennich Del, NKWD), des sowjetischen Geheimdienstes.

Den Misserfolg der Kollektivierungskampagne in der Sowjetukraine lastete Stalin nun der ukrainischen Nation an. Säuberungen ukrainischer Parteikader setzten ein. Nach unterschiedlichen Berechnungen starben im Holodomor (ukrainisch: „Tötung durch Hunger“) bis 1933 in der Sowjetukraine bis zu fünf Millionen Menschen einen qualvollen Tod unter den Maßnahmen, mit denen Stalin den Widerstand der Bauern gegen die Kollektivierung brechen wollte. In der Ukraine gilt der Holodomor heute als Genozid. Die Geschichtswissenschaft ist sich uneins, ob der Tatbestand des Genozids aus der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948 auf Stalins Massenverbrechen in der Sowjetukraine in den frühen 1930er-Jahren zurückprojiziert werden kann. Zu Beginn der Kollektivierung richtete sich der Terror gegen Bauern, gegen eine soziale Gruppe, nicht eine nationale oder ethnische Gruppe. Erst im Laufe der Kollektivierungskampagne kam der nationale Faktor in der Politik Stalins hinzu. Im weiteren Verlauf des großen Terrors in den 1930er-Jahren gerieten weitere Ethnien in den Fokus der Massengewalt. In sogenannten nationalen Aktionen richtete sich die Massengewalt des NKWD beispielsweise auch gegen Polen in der Sowjetunion.

 

Propaganda des Antiimperialismus

 

Stalin setzte in den 1930er-Jahren in die Tat um, wovon schon russische Nationalisten im Zarenreich geträumt hatten: Er wies russischen Kadern die führende Rolle in der Administration des Gesamtstaates zu und setzte sie auch zunehmend in führenden Positionen in den Unionsrepubliken ein. Die Russen erhielten eine Führungsrolle in der Sowjetunion und galten Stalin als Garant des Zusammenhalts der UdSSR.

In der Selbstdarstellung nach innen und außen, in der sowjetischen Propaganda blieb das Motiv der Völkerfreundschaft jedoch erhalten. Die Sowjetunion versuchte, sich international in Szene zu setzen als ein Vielvölkerstaat, dessen Völkerfreundschaft sich positiv abhebe vom Rassismus in den USA und den Kolonialreichen der Briten und Franzosen. Der Geschichtswissenschaft erscheint die Sowjetunion im Rückblick als Imperium. Die Bolschewiki selbst begriffen die Sowjetunion als antiimperialistisches Projekt und versuchten, daraus in Beziehungen zu Staaten und revolutionären Bewegungen in Südamerika, Afrika und Asien Kapital zu schlagen.

Die Verteidigung gegen den deutschen Vernichtungskrieg, der mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann, führte dazu, den Grundsatz der Völkerfreundschaft in der Sowjetunion mit neuem Leben zu erfüllen. Die deutsche Besatzung erfasste die Unionsrepubliken Weißrussland und Ukraine in ihrem vollen Umfang und partiell die russische Teilrepublik. In der Roten Armee kämpften alle Nationen der Sowjetunion gemeinsam für die Befreiung und gegen den menschenverachtenden Vernichtungskrieg der Deutschen, in dem die Vernichtung der Juden und der Sowjetmenschen zeitgleich abliefen und sich wechselseitig radikalisierten. Jedoch knüpfte Stalin nach der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 nahtlos an seiner Politik aus der Vorkriegszeit an. In seinem Siegestoast im Moskauer Kreml lobte er die Verteidigungsleistung des gesamten sowjetischen Volkes, hob dann jedoch die Rolle der Russen explizit hervor. Damit war der Ton für die folgenden Jahrzehnte der sowjetischen Geschichte gesetzt. Es blieb dabei, dass die Sowjetunion sich als Staat der Völkerfreundschaft und internationalen revolutionären Genossenschaft begriff. De facto blieb die Geltung von Nationen in der Sowjetunion jedoch in den Unionsrepubliken auf eng gesteckte Rahmen von elementarer Sprachausbildung, Kultur und Folklore begrenzt. Die Lingua franca der Sowjetunion blieb Russisch, und Russen besetzten auch in den Unionsrepubliken führende Positionen. Sie galten der Parteiführung in Moskau als Garant des Zusammenhalts der UdSSR.

Erst als Michail Gorbatschow mit seiner Perestroika auf den Widerstand von Hardlinern in der Kommunistischen Partei stieß, versuchte er, die Rolle von Unionsrepubliken aufzuwerten, um neue Bündnispartner für den Umbau der Sowjetunion zu gewinnen. Daraus resultierte der Entwurf eines neuen Unionsvertrags, dem 1991 Russland, Ukraine, Belarus, Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan zustimmten. Die anberaumte Vertragsunterzeichnung wollten die Putschisten vom 19. August 1991 verhindern, um die herkömmliche Sowjetunion und vor allem das Gewicht der KPdSU zu erhalten. Mit dem Putsch scheiterte auch die Sowjetunion. Russland, Ukraine und Belarus kamen überein, die Sowjetunion aufzulösen. Am 25. Dezember 1991 hielt Gorbatschow im Fernsehen seine Abtrittsrede, über dem Kreml wurde die Sowjetfahne eingeholt und die russische Trikolore gehisst. An die Stelle der Sowjetunion traten fünfzehn souveräne Nachfolgestaaten.

 

Russischer Neoimperialismus

 

Die fünfzehn Nachfolgestaaten verhielten sich unterschiedlich zum Erbe der Sowjetunion. Estland, Lettland und Litauen begreifen ihre Souveränität als Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit, die sie nach der sowjetischen Annexion im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts 1939 verloren hatten. In Belarus hat Aljaksandr Lukaschenka lange Zeit damit politischen Erfolg gehabt, im Inneren das sowjetische Wirtschaftsmodell zu konservieren und dem Land die Erschwernisse einer ökonomischen Transformation zu ersparen. Die Proteste gegen die gestohlene Präsidentschaftswahl von 2020 haben jedoch verdeutlicht, dass ein Großteil der Menschen in Belarus nicht gewillt ist, die persönliche Diktatur von Lukaschenka hinzunehmen, der mittlerweile vollkommen von Wladimir Putin abhängig ist.

Die Ukraine hat sich anfangs angesichts ihrer facettenreiche Geschichte in Polen-Litauen, dem Habsburgerreich, dem Zarenreich und der Sowjetunion als Brücke zwischen Ost und West verstanden. Die mit der ukrainischen Präsidentschaftswahl 2004 beginnenden Versuche der Einflussnahme Putins in der Ukraine, die er 2022 zu einem genozidalen Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine ausgeweitet hat, haben jedoch die Anhängerschaft eines Westkurses in der ukrainischen Gesellschaft enorm anwachsen lassen.

Auch die Ukraine begreift die eigene Nationsbildung mittlerweile uneingeschränkt als Abkehr von der sowjetischen Vergangenheit.

In Russland hat es lange Zeit unterschiedliche Einschätzungen des sowjetischen Erbes gegeben. Sowjetnostalgie und die Erleichterung über die Befreiung von der Bürde des Imperiums waren gleichermaßen zu beobachten. Putin hat 2005 den Untergang der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Wie sein Krieg gegen die Ukraine und seine damit verbundenen Äußerungen im Februar 2022 gezeigt haben, geht es ihm jedoch nicht um die Wiederherstellung der Sowjetunion. Gegen Lenin und Stalin erhebt Putin den Vorwurf, die Russifizierung und Zentralisierung der Sowjetunion verfehlt zu haben. Putin denkt in den Kategorien eines russifizierten Imperiums. Seine Zukunftsvorstellung führt in die Vergangenheit, in die Ideenwelt des russischen Nationalismus aus dem 19. Jahrhundert, der davon träumte, die Russen allein könnten ein großes Imperium beherrschen.

Das Scheitern dieses Neoimperialismus ist absehbar. Die Ukraine verteidigt sich seit acht Monaten standhaft gegen Russlands Krieg. Die Menschen in Belarus haben ihren eindrucksvollen Protest von 2020 nicht vergessen. Russland konnte 2021/22 Armenien nicht gegen Aserbaidschans Aggressionen schützen. Russland musste zusehen, wie die Türkei Aserbaidschan im Krieg gegen Armenien unterstützte. Georgien hat sich Richtung Westen orientiert. Kasachstan bietet Russen, die vor der Mobilmachung in ihrem Land geflohen sind, Zuflucht. Die Völkerfreundschaft, die die Sowjetunion propagierte, konnte auch für Menschen außerhalb der Sowjetunion ideologisch im Rahmen der Kommunistischen Internationale verlockend sein. Der russische Großmachtnationalismus, die Beschwörung der historischen Größe des russischen Staates, die Putin nun in den Mittelpunkt gerückt hat, sind für niemanden außerhalb Russlands von Interesse. Und selbst im Inneren Russlands vermag das Projekt keine weitreichenden Begeisterungsstürme zu entfachen. Es verleitet jedoch genügend Menschen in Russland dazu, den genozidalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine einstweilen fortzusetzen.

 

Martin Aust, geboren 1971 in Hannover, Professor für Geschichte und Kultur Osteuropas, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

 

Literatur

Aust, Martin: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium, München 2017. Ders.: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991, München 2019.

Martin, Terry: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union 1923–1939, Ithaca / New York 2001.

O’Keeffe, Brigid: The Multiethnic Soviet Union and its Demise, London 2022.

Schattenberg, Susanne: Geschichte der Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zum Untergang, München 2022.

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