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von Andreas Jacobs

Gerechtigkeitsdebatten im Fokus von Islamismus und Autoritarismus

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Unter den sich auffächernden gerechtigkeitspolitischen Denkansätzen, Theorien und Forderungen, die von ihren Skeptikern meist mit den Begriffen „Identitätspolitik“ oder „Wokeness“ bezeichnet werden, gibt es einen Nebenschauplatz, der in Deutschland bislang wenig Beachtung gefunden hat: die Diskussion um sogenannten „Woke Islamism“. Erstmals tauchte der Begriff Ende der 2010er­-Jahre als Reaktion auf eine zunehmende „woke“ Selbstbezeichnung junger Muslime in Großbritannien und den USA auf. Vor allem „islamkritische“ Stimmen, aber auch Sicherheitsbehörden und Wissenschaftler weisen seither darauf hin, dass Islamisten und Akteure aus dem Islamismus­nahen Spektrum zunehmend „woke“ auftreten und damit als Trittbrettfahrer identitätspolitischer Debatten agieren.

Seit Langem ist bekannt, dass sich Islamisten in westlichen Ländern durch Allianzen mit nicht­religiösen Kräften – meist aus dem Spektrum der politischen Linken – gegen Kritik zu immunisieren versuchen. Dieses Phänomen findet in den neuen sozialen Bewegungen und Gerechtigkeitsdebatten zusätzliche Anknüpfungspunkte. Unter den Teilthemen dieser Debatten bietet vor allem der Umgang mit Rassismus und Kolonialismus Andockstellen für islamistische Rhetorik. Die als „Islamkritikerin“ bekannte Autorin Ayaan Hirsi Ali weist etwa darauf hin, dass islamistische Akteure in westlichen Gesellschaften zunehmend ihre Sprache diversifizierten und sich bürgerrechtliche Diskurse aneigneten. Sie sieht sogar einen Strategiewechsel islamistischer Propaganda, weg von Aufrufen zu Umsturz und Gewalt hin zu Gerechtigkeitsfragen und Gesellschaftsentwürfen.1 Der für seine kontroversen Positionen bekannte belgische Autor und Aktivist Dyab Abou Jahjah beschreibt die neuen identitätspolitischen Debatten als idealen Resonanzraum für islamistische Werbung. In diesem farbenfrohen und schönen utopischen Gemälde der Gesellschaft liege die giftige Natur des europäischen Islamismus von heute.2

Auch der Islamismusforscher Lorenzo Vidino beobachtet seit einiger Zeit, dass sich moderne Islamisten in Europa und den USA zunehmend westlichen Argumentationsmustern annähern und sich um Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen bemühen. Gerade im sogenannten „progressiven“ Spektrum träfen sie hierbei auf offene Ohren. Antiamerikanismus, Antizionismus und die Unterstützung für weltweite Befreiungsbewegungen sorgten seit Langem für diskursive Überschneidungen. In jüngerer Zeit käme der gemeinsame Kampf gegen Rassismus, Neokolonialismus und andere als „strukturell“ verortete Formen von Ungerechtigkeiten hinzu.3

 

Neues islamistisches Denken?

 

Als wichtigstes Beispiel nennt Vidino das Medienunternehmen AJ+, den Social-Media-Ableger des katarischen Senders Al Jazeera, dem Fachleute eine Nähe zur islamistischen Muslimbruderschaft bescheinigen. AJ+ verbreitet seine Inhalte auf Englisch, Arabisch, Französisch und Spanisch, spricht ein junges Publikum an und präsentiert sich als zeitgemäße Stimme der Ausgegrenzten und Marginalisierten. Die von AJ+ aufgeworfenen Themen haben oft wenig mit Islamismus zu tun, dafür aber vielfach mit den Rassismusund Diskriminierungserfahrungen muslimischer Jugendlicher, für die oft pauschal die westlichen Gesellschaftsordnungen verantwortlich gemacht werden. Vor allem in der Propagierung antiwestlicher Diskurse in Verbindung mit klassischen Nahostthemen sieht Vidino Verbindungen zu islamistischen Propagandafiguren.4

Aber nicht nur Medien geraten in die Kritik. In Großbritannien sind die Verbindungen des früheren Labour-­Vorsitzenden Jeremy Corbyn ins islamistische Milieu Gegenstand heftiger Debatten. In Frankreich warnen Intellektuelle wie Gilles Kepel und Bernard Rougier seit Langem vor einem Bündnis zwischen Islamisten und linken Kräften. Eingebürgert hat sich hier die vielkritisierte Wortbildung „Islamo­gauchisme“ (etwa „Linksislamismus“). Mit diesem Begriff wird auch eine weltanschauliche Zweckgemeinschaft zwischen islamistischen und linken Kräften bezeichnet, deren wichtigster Kitt der sogenannte „Islamophobie-­Vorwurf“ darstellt. Islamisten, so Kepel, stellten – gestützt auf reale Benachteiligungen – Muslime pauschal als Opfer dar und forderten die Solidarität der Gesellschaft ein. Er sieht das als Falle: „Die Islamophobie ist ein Begriff, der von den militanten Islamisten erfunden wurde, um jede Kritik an ihrer Auslegung des Islams zu unterbinden und die Mehrheit der Moslems hinter sich zu vereinen.“5

 

Staatliche Identitätspolitiken

 

Auch in Deutschland zeigt der Blick auf Homepages, Social-Media-Posts und Infobroschüren, dass sich muslimische Stimmen und Akteure zunehmend mit gesellschaftspolitischen Fragen und Aspekten von Einwanderung und Teilhabe beschäftigen. Bedenklich ist die Übernahme progressiv wirkender Formen und Sprache vor allem im eindeutig islamistischen Lager. Üblicherweise werden in diesem Zusammenhang die beiden populären Social-Media-Plattformen Generation Islam und Realität Islam genannt. Beide sind im Umfeld der in Deutschland mit einem Betätigungsverbot versehenen islamistischen Hizb ut-Tahrir (HuT) verortet. Sie verbreiten das von exzessiven antiwestlichen Verschwörungsideen durchzogene Narrativ, dass Muslime in westlichen Gesellschaften ständiger rassistischer Ausgrenzung ausgesetzt seien. Auf dieser Grundlage propagieren sie eine sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzende „Islamische Identität“.6 Weniger subtil agiert die ebenfalls als Tarnorganisation der HuT einzuschätzende Gruppe Muslim Interaktiv, die mit provokanten Social-Media-Auftritten und martialischen Aufmärschen in deutschen Innenstädten auf sich aufmerksam macht.

Aber nicht nur islamistische Gruppen stehen im Verdacht der Ausnutzung neuer Gerechtigkeitsdebatten: Auch autoritäre Staaten und Regime finden Anknüpfungspunkte, um Demokratie und Menschenrechte infrage zu stellen. Letzteres versuchte in der Vergangenheit vor allem der Iran, der sich seit der Revolution 1979 als antiwestliche Macht porträtiert und vielfach die Diskurshoheit über islamische Fragen für sich reklamiert. In jüngerer Vergangenheit ist es vor allem die Türkei, die als Wächter einer „islamischen Identität“ der in Europa lebenden Muslime auftritt und den Islamophobie-Diskurs als legitimierendes Werkzeug seiner außenpolitischen Ambitionen kooptiert. Berechtigte Sorge mischt sich hier mit machtpolitischem Interesse. Eine Vielzahl von Austauschprogrammen, Medienformaten und Forschungseinrichtungen unterstützt im Auftrag der türkischen Regierung die Islamophobie-Forschung in westlichen Gesellschaften. Zielgruppen der zum Teil antiwestlichen und antisäkularen Inhalte und Positionen sind längst nicht mehr nur türkischstämmige, sondern auch andere muslimische Zielgruppen.7

Gerechtigkeitsdiskurse spielen auch anderswo eine immer größere Rolle. Zuletzt wurde dies anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Katar deutlich. Während europäische Staaten beim Weltfußballverband FIFA eine „One Love“-Armbinde durchzusetzen versuchten, scheiterten muslimische Verbände mit dem parallelen Bemühen, ihre Mannschaften mit einer „Islamophobia“­Armbinde auflaufen zu lassen. Gleichzeitig tobte in westlichen und nahöstlichen Medien die Debatte, ob Kritik an der Menschenrechtslage im Emirat legitim, heuchlerisch oder gar rassistisch sei.

Auch an Rechtssysteme wird im Namen der Gerechtigkeit Hand angelegt. Indonesien etwa hat kürzlich mit Verweis auf koloniale Prägungen der bisherigen Rechtslage eine Strafrechtsreform begründet, die erhebliche Einschränkungen von Grundrechten bedeutet. Die Problematik antikolonialer und antirassistischer Begründungszusammenhänge antiliberaler Politiken räumt auch der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Religionsfreiheit, Ahmed Shaheed, in seinem aktuellen Report ein. Nach seiner Einschätzung würden Fundamentalisten und Politiker den Vorwurf der „Islamophobie“ nutzen, um legitime Kritik an islamischen Praktiken und Überzeugungen zu bestrafen oder sogar Sympathie für den Terrorismus zu wecken.8

 

Dialektik der Gerechtigkeitsdebatten

 

Das auch mit Mitteln der Europäischen Union unterstützte, 1997 gegründete Europäische Netzwerk gegen Rassismus (European Network Against Racism, ENAR) verurteilte 2021 die „Woke Islamism Theory“ als politische Waffe der Delegitimierung und Dämonisierung von Muslimen in Europa. Der Streit um „Wokeness“ verstärkt also längst die ohnehin aufgeheizte Debatte um den Umgang mit Islam und Islamismus. Der genauere Blick offenbart ebenso Bekanntes und Banales wie Bedenkenswertes und Besorgniserregendes.

Die Entstehung des modernen Islamismus vor fast hundert Jahren beruhte nicht zuletzt auf konkreten Erfahrungen mit Fremdherrschaft und Unterdrückung. Dass Staaten, politische Bewegungen und gesellschaftliche Gruppen den Verweis auf historische Ungerechtigkeiten als Machtressource nutzen, ist deshalb keine neue Erkenntnis. Die gesuchten oder zufälligen Allianzen islamistischer und linker Gruppierungen sind seit den 1960er­-Jahren bekannt. Und dass junge Menschen womöglich unreflektiert populäre Diskurse und Ausdrucksformen übernehmen, rechtfertigt ebenfalls keine pauschalen Vorwürfe.

Dennoch offenbart die Debatte um „Woke Islamism“ auch einige neue Einsichten. Sie verdeutlicht, wie der Islam zunehmend als kulturelle Zuschreibung verhandelt wird. Sie zeigt außerdem die Anfälligkeit moderner Gerechtigkeitsdiskurse für den Missbrauch durch Akteure, die die demokratischen und menschenrechtlichen Prämissen dieser Diskurse selbst nicht mittragen. Schließlich verweist die Debatte auf die Gefahren einer Entgrenzung des Rassismusbegriffs und dessen Ausnutzung durch radikale Gruppen und autoritär geführte Staaten.

Dass islamistische Propaganda anknüpfungsfähig an moderne Gesellschaftsdebatten wird, stellt auch die Politik vor Herausforderungen. Das Innenministerium legt den Fokus der aktuellen Runde der Deutschen Islam Konferenz auf die Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit. Maßnahmen gegen Ausgrenzung und Rassismus sind in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft wichtig und notwendig. Allerdings müssen diese Maßnahmen konkret und zielführend sein. Die Rede von „strukturell“ rassistischen westlichen Gesellschaftsordnungen gefährdet dagegen den Zusammenhalt demokratischer Gemeinwesen, schadet den Muslimen in Europa und nützt den Autokraten und Radikalen, die ein Interesse an der Schwächung dieser Gesellschaftsordnungen haben.

 

Andreas Jacobs, geboren 1969 in Kleve, 2007 bis 2012 Leiter des Auslandsbüros Kairo der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 2020 Leiter Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

1 Ayaan Hirsi Ali: „Woke Islamism“, in: Hoover Digest, Nr. 2 / Mai 2022, S. 169.
2 Dyab Abou Jahjah: On Islamism and Woke Islamism, siehe www.aboujahjah.org/articles-columns/on-islamism-and-woke-islamism [letzter Zugriff: 26.01.2023].
3 Vgl. Lorenz Vidino: The Rise of „Woke“ Islamism in the West, The Hudson Institute, 23.01.2022, www.hudson.org/node/44718 [letzter Zugriff: 26.01.2023].
4 Vgl. Lorenzo Vidino: „Islamistische Medien sind jetzt plötzlich ‚woke‘“, in: Neue Zürcher Zeitung, 13.06.2022, S. 29.
5 Zit. nach Martin Bohne: Kulturkampf in Frankreich. Radikale Islamisten erobern Problemviertel, Deutschlandfunk, 20.01.2020, www.deutschlandfunk.de/kulturkampf-in-frankreich-radikale-islamisten-erobern-100.html [letzter Zugriff: 26.01.2023].
6 Vgl. Patrick Möller: „Hizb ut-Tahrir – Comeback einer verbotenen Organisation“, in: Michael Kiefer/ Ceylan Rauf: Der islamische Fundamentalismus im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2022, S. 85–115, hier S. 100.
7 Vgl. hierzu ausführlich Sinem Adar / Ibrahim Yenigün: A Muslim Counter-Hegemony? Turkey’s Soft Power Strategies and Islamophobia, www.jadaliyya.com/Details/38646 [letzter Zugriff: 26.01.2023].
8 Statement of Ahmed Shaheed UN Special Rapporteur on freedom of religion or belief. 46th Session of the Human Rights Council, 04 March 2021.

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