Asset-Herausgeber

Horst Teltschiks vollständige Tagebucheinträge

Michael Gehler (Hrsg.): Horst Teltschik. Die 329 Tage zur deutschen Einigung. Das voll­ständige Tagebuch mit Nachbetrachtungen, Rückblenden und Aus­blicken, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2025, 992 Seiten, 89,00 Euro.

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In den Jahren 1989 bis 1991 vollzog sich ein politischer Wandel in Deutschland, Europa und auf globaler Ebene, auf den man aus der Perspektive des Jahres 2025 durchaus mit Dankbarkeit, aber auch etwas ungläubig zurückblicken kann. Der Zeitraum seit 1990 erscheint heute in Anlehnung an Stefan Zweig als wohlgeordnete „Welt von gestern“. Einer der zentralen diplomatischen Akteure auf bundesdeutscher Seite war seinerzeit der außenpolitische Berater Helmut Kohls und Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt Horst Teltschik – eine bedeutende Figur der Zeitgeschichte. Bereits 1991 hatte er mit 329 Tage. Innenansichten der Einigung seine persönlichen Erinnerungen an die Zeit zwischen dem Mauerfall vom 9. November 1989 und der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 veröffentlicht. Fast 25 Jahre später gibt der Hildesheimer Historiker Michael Gehler in enger Zusammenarbeit mit Teltschik nun dessen vollständige Tagebuchaufzeichnungen dieser historischen 329 Tage heraus, ergänzt um eine Einleitung, Dokumente sowie ein mehrteiliges, fast 300 Seiten umfassendes Protokoll gemeinsamer Gespräche. Die Realisierung des Drucks dieser fast 1.000 Seiten starken Fundgrube für Historiker, Zeitzeugen und Interessierte wurde durch die Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung mit ermöglicht.

 

„Alle wissen: es ist ein historischer Tag“

Auffallend oft geht es in Teltschiks Tagebucheinträgen um das Verhältnis zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt respektive auf politischer Ebene zwischen CDU/CSU und FDP. Es wird deutlich, dass auch damals zwischen den Koalitionspartnern nicht nur eitel Sonnenschein herrschte. Doch wurden die Auseinandersetzungen zumeist hinter verschlossenen Türen ausgetragen, drangen nicht oder nur stark abgeschwächt nach außen und wurden von den politischen Entscheidungsträgern – anders als zuletzt in der Ampelkoalition – nur selten öffentlich ausgetragen.

Mit Blick auf Teltschiks Handlungsfeld ging es in den 329 Tagen um das Ziel der Erlangung der Deutschen Einheit, das innerhalb der Bundesregierung zwar unstrittig war, die richtige Vorgehensweise zu dessen Erlangung sowie die Vorstellungen von einer künftigen europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung waren jedoch durchaus unterschiedlich. Während Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und die FDP offensichtlich zu Abstrichen bei der Verankerung eines vereinten Deutschlands in der NATO bereit waren und gesamteuropäische institutionelle Strukturen wie die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ins Zentrum einer künftigen Sicherheitsarchitektur rücken wollten, hielten Bundeskanzler Kohl und die CDU/CSU eine Verankerung Gesamtdeutschlands im Westen, insbesondere in der NATO, für unverzichtbar. Unter dem Datum des 28. Januar 1990 notierte der Kanzlerberater: „Interview von Genscher in der ‚Bild am Sonntag‘: Er lehnt Forderungen aus der Union ab, daß die heutige DDR in einem vereinigten Deutschland Teil der NATO werde. […] Ich teile diese Auffassung nicht. Sie kann auch gar nicht funktionieren: ein geeintes Deutschland, davon zwei Drittel in der NATO, ein Drittel draußen?“ (Seite 230)

In den Notizen wird zudem die Verdichtung der damaligen Ereignisse sowohl zeitlich als auch auf den verschiedenen politischen Ebenen deutlich: von einem längeren, mehrschrittigen Annäherungsprozess zwischen der Bundesrepublik und der DDR, wie er noch im Zehn-Punkte-Programm skizziert worden war, hin zu weniger als einem Jahr und mit einer Vielzahl von Verhandlungen nicht nur auf innerdeutscher Ebene, sondern auch bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen sowie bilateral. Die handelnden Akteure waren sich ihrer historischen Rolle durchaus bewusst. So schreibt Teltschik am 19. Dezember 1989, dem Tag der historischen Rede Helmut Kohls vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche und der Begegnung mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow: „Alle sind begeistert, sprudeln über, wollen ihre Eindrücke und Empfindungen loswerden. Alle wissen: es ist ein großer Tag, ein historischer Tag, ein Erlebnis, das sich nicht wiederholen wird, und wir sind dabei, mitten drin, wirken mit“ (Seite 194). Die Notizen des 2. Oktober 1990 verweisen noch einmal auf die – heute im Rückblick grotesk anmutende – Realität des Kalten Krieges und des Sonderstatus von Berlin, als deutsche Flugzeuge West-Berlin nicht anfliegen durften. Nach dem Ende des CDU-Vereinigungsparteitags in Hamburg, auf dem die fünf ostdeutschen Landesverbände der CDU beitraten, Helmut Kohl mit 98,5 Prozent der Stimmen zum Vorsitzenden gewählt wurde und ein „Manifest zur Vereinigung der Christlich Demokratischen Union Deutschlands“ beschlossen wurde, machten sich Kohl und seine Begleiter am 2. Oktober 1990 dennoch mit einer Bundeswehrmaschine direkt auf den Weg nach Berlin.

„Um ein Meer von Scherben gehen wir um 2.00 Uhr morgens zu Fuß in Richtung unseres Hotels. Deutschland ist geeint. Ich habe es miterlebt“ (Seite 568) – so enden die Aufzeichnungen lakonisch.

Fast noch interessanter als das Tagebuch ist die umfangreiche Dokumentation des Gesprächs, das der Herausgeber Michael Gehler über nahezu eine Woche vom 20. bis 24. März 2023 mit Teltschik an dessen Wohnort in Rottach-Egern geführt hat. In dem Gespräch werden biographische Stationen und einzelne Abschnitte des Einheitsprozesses näher beleuchtet. Auch Teltschiks persönliches Verhältnis zu anderen wichtigen Akteuren sowie die weitere Entwicklung nach 1990 bis hin zur russischen Annexion der Krim 2014 und zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 werden thematisiert.

Zur ersten persönlichen Begegnung Teltschiks mit Helmut Kohl kam es bereits 1971. Teltschik war Referent für Außen- und Sicherheitspolitik in der CDU-Bundesgeschäftsstelle in einer nach der Wahlniederlage 1969 neu geschaffenen politischen Abteilung. Gemeinsam mit einigen Kollegen reiste er zu Gesprächen über die Programmatik der CDU nach Mainz zum damaligen stellvertretenden Bundesvorsitzenden und Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz. In Teltschiks Schilderungen wird die heute zumeist vergessene Rolle Kohls als dynamischer liberaler Reformer, der die verkrusteten Strukturen der CDU aufbrechen und das programmatische Profil schärfen wollte, deutlich. Kohl galt „[f]ür uns junge Parteimitglieder […] als Hoffnungsträger. Wir gingen davon aus, dass die CDU nach den verdienten alten Persönlichkeiten ein neues Gesicht braucht“ (Seite 573).

Kohl holte Teltschik als außenpolitischen Berater nach Mainz, wobei sich die diplomatischen Aktivitäten des Bundeslandes, so Teltschik, wesentlich auf die Partnerschaft mit der französischen Provinz Burgund – „von Weinland zu Weinland“ (Seite 571) – beschränkten. Kohl sagte ihm aber auch offen, dass er den CDU-Parteivorsitz und das Kanzleramt im Visier habe. 1976 wurde Teltschik zunächst sein Büroleiter im Deutschen Bundestag, als Kohl als CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender und Oppositionsführer nach Bonn ging; nach der Bonner „Wende“ folgte er ihm 1982 ins Kanzleramt.

 

Brainstorming im Kanzlerbungalow

Im Prozess der deutschen Wiedervereinigung ist Teltschiks zentrale Rolle bei der Entstehung des Zehn-Punkte-Programms, das Kohl am 28. November 1989 – ohne Absprache mit dem Koalitionspartner FDP – im Deutschen Bundestag präsentierte, im Tagebuch und im Gespräch dargestellt. Teltschik erläutert, dass er beim abendlichen Brainstorming im Kanzlerbungalow unter Verweis auf die kommende Haushaltsdebatte die Initiative ergriff: „Meiner Meinung nach gab es nur das eine Thema: Wie soll es mit Deutschland und der Frage der deutschen Einheit weitergehen? Er [Helmut Kohl, Anm. des Autors] müsse also jetzt verkünden, dass er die deutsche Einheit wolle und eine Strategie erläutern, wie er sie erreichen solle“ (Seite 687). Nach einer Debatte, bei der Teltschik laut eigener Aussage vor allem von Wolfgang Schäuble stark unterstützt wurde, wurde entsprechend verfahren.

Eine mögliche Erweiterung der NATO nach einer deutschen Wiedervereinigung war in den Gesprächen mit den USA und der Sowjetunion, an denen Teltschik teilnahm, „ganz generell kein Thema“ (Seite 820). Er verweist darauf, dass zu jener Zeit sowohl der Warschauer Pakt als auch die Sowjetunion noch bestanden und deren schnelles Ende noch nicht voraussehbar war. Gehler weist hingegen auf zeitgenössische Äußerungen Genschers und des US-amerikanischen Außenministers James Baker hin, wonach eine Ausweitung der NATO nicht vorgesehen sei, ihre Erweiterung also sehr wohl Gesprächsgegenstand war. Festzuhalten ist jedoch, dass es damals keine schriftlichen Zusagen oder Versprechen hinsichtlich eines Verzichts auf eine NATO-Erweiterung gegenüber der Sowjetunion gegeben hat. Die Initiative zu einer Erweiterung ging in den 1990er-Jahren wesentlich von den ostmitteleuropäischen Staaten aus, im Einklang mit der KSZE-Schlussakte von Helsinki ihre Bündniszugehörigkeit frei zu wählen.

Mit Blick auf die Einschätzungen zur Entwicklung des westlichen Verhältnisses zu Russland nach der Auflösung der Sowjetunion am 31. Dezember 1991 ergibt sich bei dem Buch der größte Diskussionsbedarf. Teltschik verfügte als Repräsentant der deutschen Wirtschaft und als Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz über enge Kontakte nach Russland und auch zu Wladimir Putin persönlich. Die Entwicklung der letzten Jahre und den Abbruch der Dialogfäden bezeichnet er „als sehr bedauerlich“ (Seite 825). Ähnlich wie in seinem 2019 erschienenen Buch Russisches Roulette sieht er verpasste Chancen im Verhältnis zu Moskau, so etwa beim Ziel der Etablierung einer gesamteuropäischen Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok. Gemeinsam mit Peter Brandt und Harald Kujat publizierte Teltschik 2023 einen Vorschlag für eine Beendigung des Ukraine-Kriegs durch Verhandlungen. Wie bei vielen seiner Generation ist der Blick stark auf die Interessen Russlands hin ausgerichtet. Kritisch ist hingegen sein Blick auf die Ukraine, die bereits seit 2014 – und nicht erst seit 2022 – ihr eigenes Territorium verteidigen muss. Keinen Raum im Gespräch nehmen die Interessen der baltischen Staaten und Polens ein, die jahrelang erfolglos vor zu engen (Geschäfts-)Beziehungen zu Russland gewarnt hatten und mit dieser Einschätzung richtig lagen. Mit Maßnahmen wie dem Programm „Partnerschaft für den Frieden“, der NATO-Russland-Grundakte und der Etablierung des NATO-Russland-Rates hatte sich der Westen zudem durchaus um ein kooperatives Verhältnis zu Russland bemüht.

Nach Teltschiks Auffassung hätten nach dem russischen Einmarsch im Februar 2022 Gerhard Schröder oder Angela Merkel von der Bundesregierung zu einer geheimen Friedensmission nach Moskau geschickt werden sollen. Diese neue Phase des Krieges entstand jedoch nicht aus einer kurzfristigen Eskalation oder einem „Schlafwandeln“ heraus; genau genommen war sie der Versuch einer vollständigen Invasion der Ukraine, die Putin monatelang gezielt vorbereitet und bewusst herbeigeführt hatte. Seine damals erhobenen Forderungen gehen weit über die Forderungen an die Ukraine hinaus; vielmehr solle die gesamte NATO-Osterweiterung seit 1999 rückgängig gemacht werden. Hätten frühere oder amtierende Bundeskanzler etwa über die Köpfe der Polen und anderer hinweg mit Putin darüber verhandeln sollen? Und welche Legitimation hätten sie besessen? Schröder war als Putin-Sympathisant und Gazprom-Lobbyist bekannt, Merkels Russlandpolitik hatte sich spätestens mit dem 24. Februar 2022 ebenfalls als problematisch erwiesen, und der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz fand – ebenso wie der französische Präsident Emmanuel Macron – bei seinem Gespräch im Kreml nachweislich kein Gehör.

Die vollständigen Tagebucheinträge Horst Teltschiks sind ein wichtiges, wertvolles Zeugnis der Zeitgeschichte, und seinem Verfasser gebührt große Anerkennung für die Verdienste um die Wiedervereinigung Deutschlands. In einer grundlegend veränderten Weltlage mit neuen Herausforderungen sind heute allerdings neue Antworten gefragt.

 

Philip Rosin, geboren 1980 in Bonn, promovierter Historiker, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Referent Zeitgeschichte, Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

 

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