Aufgewachsen „im Schatten der Kölner Domtürme“
Hermann Joseph Maria Ernst Pünder wird am 1. April 1888 in Trier geboren. Im Folgejahr wird der im preußischen Justizdienst stehende Vater nach Köln versetzt, wo Hermann mit vier Geschwistern seine Kindheit verlebt. Nach Abschluss der Volksschule besucht er ab 1897 das Apostelgymnasium, an dem Konrad Adenauer drei Jahre zuvor die Reifeprüfung abgelegt hat. Im Herbst 1900 steht ein erneuter Umzug der Familie an, da der Vater an das Reichsmilitärgericht in Berlin berufen wird. Hermann Pünder und sein älterer Bruder Werner bleiben im Rheinland und besuchen als Zöglinge des Erzbischöflichen Konvikts das Königlich-Preußische Gymnasiums in Münstereifel. Hier wird ihnen, wie Pünder rückblickend schreibt, „eine tiefe Erkenntnis in den Wert der humanistischen Bildung“ vermittelt. 1906 macht er das Abitur. Danach studiert er Rechts- und Staatswissenschaften in Freiburg, London und Berlin und legt 1909 das erste Staatsexamen ab. Die sich anschließende Referendarzeit wird durch den Militärdienst als „Einjährig-Freiwilliger“ unterbrochen. Die Absolvierung zweier Wehrübungen bringt Pünder den Rang eines Reserveoffiziers ein, der in der Gesellschaft des wilhelminischen Kaiserreichs mit erheblichem sozialem Prestige verbunden ist. 1911 wird er an der Universität Jena zum Dr. jur. promoviert. Im Frühjahr 1915 besteht er während eines Fronturlaubs das Zweite juristische Staatsexamen. Wie schon beim ersten Staatsexamen erhält er die selten vergebene Note „Gut“. Bis 1918 wird er an der West- und der Ostfront eingesetzt und erhält 1916 das Eiserne Kreuz 1. Klasse.
“Ruhender Pol der Vernunft“ in der Weimarer Republik
Nach der Rückkehr aus dem Krieg macht Hermann Pünder in der neugegründeten Weimarer Republik eine steile Kariere. 1919 tritt er als Regierungsrat in das Reichsfinanzministerium ein und übernimmt dort 1921 die Leitung des Ministerbüros. Als im Januar 1925 der amtierende Finanzminister Hans Luther zum Reichskanzler ernannt wird, nimmt er seinen Büroleiter mit in die Reichskanzlei, wo er Stellvertreter des Behördenleiters wird. Nur 1½ Jahre später, unter Reichskanzler Wilhelm Marx, avanciert Pünder mit 38 Jahren zum Chef der Reichskanzlei im Rang eines Staatsekretärs. In seinen Erinnerungen vermerkt er mit spürbarem Stolz, „der weitaus jüngste Staatssekretär“ gewesen zu sein, „den es im Reich und in Preußen je gegeben hatte“. Er verbleibt die folgenden sechs Jahre in dieser politischen Schlüsselstellung und stellt damit angesichts der häufigen Regierungswechsel ein für die Weimarer Zeit eher untypisches Element der Kontinuität dar. Pünder versteht sich als loyaler Mitarbeiter der verschiedenen Reichskanzler unterschiedlicher politischer Couleur. Aufgrund seiner Schlüsselposition und seiner guten Verbindungen zu Politik, Militär und Verwaltung besitzt er beachtlichen Einfluss. Unter Reichskanzler Heinrich Brüning (ab 1930), zu dem er ein besonders enges Verhältnis hat, zählt er zum engsten Führungskreis. Der Vorsitzende der Zentrumspartei, Prälat Ludwig Kaas, bezeichnet ihn als „ruhenden Pol der Vernunft“ in der angesichts der Weltwirtschaftskrise seit 1929 immer hektischeren Regierungsarbeit. Nach der Entlassung Brünings durch Reichspräsident Hindenburg ist Pünder zunächst vier Monate lang arbeitslos und wechselt dann auf den Posten des Regierungspräsidenten in Münster, wohin er mit seiner Familie übersiedelt.
Auf der „Schattenseite des Lebens“
Kurz nach der Machtübertragung an Adolf Hitler wird Hermann Pünder, der – wie viele andere – die totalitäre Dynamik der NS-Bewegung anfangs wohl unterschätzt hat, als Regierungspräsident beurlaubt, dann in den einstweiligen und schließlich in den dauernden Ruhestand versetzt. Mit seiner Familie übernimmt und bewirtschaftet er einen kleinen Bauernhof am Stadtrand von Münster. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wird der 51jährige – er hat inzwischen den Rang eines Hauptmanns der Reserve – zu Verwaltungsarbeiten im Stab des Wehrkreiskommandos Münster einberufen. Durch zwei Besuche von Carl Friedrich Goerdeler, einem der Köpfe der bürgerlichen Widerstandsbewegung, gelangt Pünder ins Umfeld der Verschwörer des 20. Juli 1944. Nach dem Scheitern des Staatsreichs wird er von der Gestapo verhaftet, in Berlin-Moabit inhaftiert und wiederholten nächtlichen Verhören unterworfen. Wegen „Unwürdigkeit“ wird er aus der Wehrmacht wie aus dem Beamtenstand ausgeschlossen und verliert seine Pensionsansprüche. Dem Eingreifen einflussreicher Freunde hat er es wohl zu verdanken, dass er vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler vom Vorwurf des „Hochverrats“ freigesprochen wird. In der Urteilsbegründung heißt es, er habe sich „mit eindrucksvoller Offenheit und Sicherheit verteidigt“. Dennoch wird er nach der Verhandlung von der Gestapo verschleppt und durchleidet die Monate bis Kriegsende in den Konzentrationslagern Ravensbrück, Buchenwald und Dachau, ehe er Anfang Mai 1945 im Pustertal durch amerikanische Soldaten aus der Hand der SS befreit wird. Ende Juli 1945 kehrt Hermann Pünder nach Münster zurück. Kurz zuvor ist er, als erster Besucher aus Deutschland nach dem Krieg, von Papst Pius XII. im Vatikan empfangen worden, der ihm aus seiner Zeit als Nuntius in Berlin während der 1920er Jahre bekannt ist.
Die „Todesstarre“ überwinden: Mitgründer der CDU und Oberbürgermeister von Köln
Da er nach der Heimkehr zunächst kein ihm angemessen erscheinendes berufliches Tätigkeitsfeld findet, engagiert Pünder sich in der kirchlichen Laienarbeit. Außerdem ist er Mitgründer und Leiter einer „Arbeitsgemeinschaft zur Bildung der CDP“. Am 10. Oktober 1945 übernimmt er die Führung der neu gegründeten Christlich-Demokratischen Partei Münster, die als „christliche Sammlungspartei“ konzipiert ist und ab Februar 1946 unter dem Namen CDU auftritt. Bereits Ende Oktober 1945 verlässt Pünder allerdings Münster. Der britische Militärbefehlshaber der Nordrhein-Provinz, Brigadegeneral John Barraclough, bietet ihm die Nachfolge Konrad Adenauers als Kölner Oberbürgermeister an, den er kurz zuvor wegen angeblicher „Unfähigkeit“ aus diesem Amt entlassen hat. Nach Rücksprache u. a. mit Adenauer nimmt Pünder die Aufgabe an. Er bemüht sich intensiv, die „Todesstarre“ der schwer zerstörten Domstadt zu überwinden und das politische, soziale und kulturelle Leben Kölns wieder in Gang zu bringen. Dabei kommen ihm und der Stadt seine vielfältigen Kontakte und Bekanntschaften aus der Zeit in der Reichskanzlei zugute. In seiner Tätigkeit als Oberbürgermeister ist er um enge Zusammenarbeit auch mit den nicht der CDU angehörenden Beigeordneten bemüht, was zu ersten Reibereien mit Konrad Adenauer führt. Aus der ersten Wahl zur Kölner Stadtverordnetenversammlung am 13. Oktober 1946 geht die CDU als eindeutige Siegerin hervor.
„Chef der Quasi-Regierung der vereinigten Zonen“
Als im Februar 1948 im Rahmen einer Reorganisation der in Frankfurt am Main angesiedelten Zweizonen-Verwaltung der britischen und amerikanischen Zone der neu geschaffene Posten eines „Oberdirektors“ zu besetzen ist, wird von Politikern der CDU/CSU Hermann Pünder als geeigneter Kandidat genannt. Auch Konrad Adenauer drängt ihn bei einer „Teestunde“ im Haus des Kölner Bankiers Robert Pferdmenges, sich für diese Aufgabe zur Verfügung zu stellen. Am 2. März 1948 wird er vom Frankfurter Wirtschaftsrat, der parlamentarischen Vertretung der sog. „Bizone“, zum Oberdirektor gewählt. Dessen Aufgabe ist es, die Arbeit der für die verschiedenen Ressorts zuständigen Zentralverwaltungen und ihrer Direktoren zu koordinieren. Unter letzteren befindet sich auch der gemeinsam mit dem Oberdirektor gewählte neue Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, Ludwig Erhard. Pünder bleibt Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen, dem er seit 1946 angehört. Als „Chef der Quasi-Regierung der vereinigten Zonen“, wie er sich rückblickend selbst bezeichnet, hat er die Spitzenstellung seiner politischen Laufbahn erreicht. Er ist als exekutive Spitze der Bizonenverwaltung an den beachtlichen Leistungen des Wirtschaftsrates maßgeblich beteiligt. Unter ihnen ragt die Vorentscheidung für das Wirtschaftsmodell der Sozialen Marktwirtschaft heraus, die v.a. mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden ist. Es ist aber wohl Hermann Pünder, der den Begriff in einer Debatte in Frankfurt am 16. März 1948 erstmals öffentlich verwendet. Er ist auch an der gegen die Stimmen von SPD und KPD im Wirtschaftsrat nach einer nächtlichen Redeschlacht am 18. Juni 1948 erfolgten Verabschiedung des sog. „Leitsätzegesetzes“ beteiligt. Es sieht die Ablösung der Mangelwirtschaft mit Bewirtschaftung und Preisstopp durch eine wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft mit freier Preisbildung vor. Rückblickend bezeichnet Pünder die Annahme des Gesetzes als „die wohl bedeutendste parlamentarische Entscheidung der deutschen Nachkriegsgeschichte“. In einer Rundfunkansprache anlässlich der Währungsreform erklärt er, man wolle nicht „an Wunder glauben“, sondern „wieder fleißige und ehrliche Arbeit gegen gutes Geld leisten und in sparsamer Lebensführung eine soziale Haltung nach innen und Friedfertigkeit nach außen zeigen“. Zugleich betont er, wie schmerzlich es sei, „dass es den Besatzungsmächten nicht gelungen ist, eine Lösung zu finden, die für unser ganzes Vaterland gilt“.
Enttäuschte Hoffnungen
Bei der Wahl zum ersten Deutschen Bundestag am 14. August 1949 zieht Hermann Pünder als Vertreter eines Kölner Wahlkreises in das Parlament ein. Anders, als er erwartet hat, wird er von Adenauer, dessen Nominierung zum Kanzlerkandidaten der CDU/CSU er nachdrücklich unterstützt, in kein wichtiges Amt berufen. Er selbst hat sich Hoffnungen auf die Übernahme eines „Ministeriums für zwischenstaatliche Beziehungen“ gemacht und wohl auch schon personelle Überlegungen angestellt. Der frisch gewählte Kanzler hingegen siedelt die Verantwortlichkeit für die Außenpolitik vorerst im Kanzleramt an. Adenauer ist bemüht, sich angesichts der wiedergewonnenen Staatlichkeit von der Phase der Besatzungszeit und damit auch des „Frankfurter Regimes“ abzusetzen. An Pünder kritisiert er eine angebliche „Weichheit gegenüber der SPD“ und äußert sich erst bei dessen offizieller Verabschiedung aus dem Amt des Oberdirektors anerkennend über die erbrachten Leistungen. Wie sehr Pünder dies getroffen hat, lässt sich an einer Formulierung im Vorwort seiner umfangreichen Erinnerungen ablesen. Dort heißt es, die „allerschwersten Aufbaujahre vom Frühjahr 1945 bis Ende 1949“ seien weithin in Vergessenheit geraten und verdienten „endlich einmal eine exakte Darstellung“. Es ist sicher kein Zufall, dass sein jüngster Sohn Tilman, der spätere Oberstadtdirektor von Münster, 1966 eine mit einer Einführung des Vaters und einem Vorwort Ludwig Erhards versehene Darstellung der Geschichte des „bizonalen Interregnums“ vorlegt.
„Vorkämpfer der europäischen Einigung“
Hermann Pünder, der bis 1957 dem Deutschen Bundestag angehört, engagiert sich in zahlreichen gesellschaftlichen Organisationen. So ist er u. a. 26 Jahre lang Vorsitzender des Kölner Dombauvereins. Sein besonderer Einsatz gilt dem Europagedanken. Wie Adenauer sieht er in der Europa-Idee „den Schlüssel für die meisten sonst unlösbaren Probleme deutscher Außenpolitik“ und leistet seinen Beitrag dazu, „die ganze CDU auf das europäische Gleis zu schieben“ (Hans-Peter Schwarz). Ab 1950 leitet er die Delegation des Deutschen Bundestages in der Beratenden Versammlung des Europarates in Straßburg, der ersten Parlamentarischen Versammlung in der Geschichte Europas. Ab 1952 ist er erster Vizepräsident der „Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, des sog. Montanparlaments. Er nimmt mit Bedauern das Scheitern der Versuche zur Bildung einer Politischen Union und die generelle Abnahme des „Europäischen Überschwangs“ zur Kenntnis. Bundeskanzler Konrad Adenauer, zu dem Pünder nach den vorangegangenen Differenzen trotz grundsätzlicher politischer Übereinstimmung ein sehr distanziertes persönliches Verhältnis hat, nennt ihn 1953 anlässlich der Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband in seiner Gratulation einen „Vorkämpfer der europäischen Einigung“.
Hermann Pünder stirbt am 3. Oktober 1976 und wird auf dem Kölner Melaten-Friedhof beigesetzt. Als ehemaliger Spitzenbeamter der Weimarer Republik hat er nach der Katastrophe der NS-Zeit und des Zweiten Weltkrieges als Kölner Oberbürgermeister, als Chef der Bizonen-Verwaltung und als Streiter für die europäische Einigung wichtige Beiträge dazu geleistet, eine Brücke von der ersten zur zweiten Demokratie auf deutschem Boden zu schlagen.
Lebenslauf
- 1. April 1888 geboren in Trier, katholisch
- 1906 - 1909 Studium der Rechtswissenschaft (Universitäten Freiburg i. Br., London, Berlin)
- 1911 Dr. Jur. (Universität Jena)
- 1914 - 1918 Kriegsdienst
- 1919 Preußisches Justizministerium
- 1919 - 1925 Reichsfinanzministerium (Regierungsrat, Oberregierungsrat, Ministerialrat)
- 1920 Heirat mit Magda, geb. Statz, 4 Kinder: Hermann, Adelheid, Winfried, Tilman
- 1922 - 1933 Mitglied der Zentrumspartei
- 1925 - 1932 Reichskanzlei (Ministerialdirektor, ab 1926: Staatssekretär und Chef der Reichskanzlei)
- 1932 - 1933 Regierungspräsident in Münster, 1933 in den Ruhestand versetzt
- 1939 Wehrkreiskommando VI in Münster
- 1944 - 1945 nach dem 20. Juli 1944 Gestapo-Haft, Verfahren vor dem Volksgerichtshof KZ Ravensbrück, Buchenwald, Dachau, anschließend mit weiteren Prominenten bis Kriegsende verschleppt, Ende April 1945 im Pustertal befreit
- 1945 Mitgründer der CDU in Münster
- 1945 - 1948 Oberbürgermeister von Köln (als Nachfolger Konrad Adenauers)
- 1946 - 1950 Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen
- 1948 - 1949 Oberdirektor des Verwaltungsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes (Bizone/Trizone) in Frankfurt am Main
- 1949 - 1957 Mitglied des Deutschen Bundestages
- 1952 Vizepräsident der gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahle (Montanunion)
- 1953 Dr. Jur. h.c. (Universität Köln)
- 1953 Grosses Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband
- 3. Oktober 1976 verstorben in Fulda
Veröffentlichungen
- Politik in der Reichskanzlei. Aufzeichnungen aus den Jahren 1929-1932. Hg. v. Thilo Vogelsang. (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3). Stuttgart 1961.
- Von Preußen nach Europa. Lebenserinnerungen. Stuttgart 1968.
Literatur
- Rudolf Morsey: Hermann Pünder (1888–1976). In: Zeitgeschichte in Lebensbildern Bd. 9. Hg. v. Jürgen Aretz/ Rudolf Morsey/ Anton Rauscher. Mainz 1999, S. 183–196.
- Ders.: Hermann Pünder (1888–1976). In: Günter Buchstab/ Brigitte Kaff/ Hans-Otto Kleinmann (Hg.): Christliche Demokraten gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand zur Union. Freiburg i. Br. 2004, S. 397–402.
- Tilman Pünder: Das bizonale Interregnum. Die Geschichte des vereinigten Wirtschaftsgebiets 1946 - 1949. Mit einem Vorwort von Ludwig Erhard u. einer Einführung von Hermann Pünder. Köln 1966.
- Jürgen Steinle: Europa-Vorstellungen der ersten Nachkriegszeit. Aufgezeigt am Beispiel Hermann Pünders. In: Zeitschrift für Politik 46 (1999), S. 424–440.
- Hildegard Wehrmann: Hermann Pünder (1888–1976). Patriot und Europäer. Essen 2012.