Asset-Herausgeber
Wilhelm Röpke - Ökonom und liberaler Vordenker im Kalten Krieg
Nationalökonom, Publizist, ev., *10. Oktober 1899, Schwarmstedt, †12. Februar 1966, Genf
Wilhelm Röpke
Asset-Herausgeber
von Hans Jörg Hennecke
Als einer der einflussreichsten liberalen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts trat Wilhelm Röpke früh für eine marktwirtschaftlich fundierte, kulturell verankerte und politisch widerstandsfähige Ordnung des Westens ein. Im Kalten Krieg warnte er vor totalitären Versuchungen – von rechts wie von links – und plädierte für Selbstverantwortung, Föderalismus und wirtschaftliche Vernunft. Konsequent betonte er in seinem Werk den Zusammenhang von politischer und wirtschaftlicher Freiheit.
Biografie
Als Spross einer protestantischen Doktoren- und Theologenfamilie wurde Wilhelm Röpke am 10. Oktober 1899 in Schwarmstedt bei Hannover geboren. Nach dem Abitur nahm er im Sommer 1917 ein rechtswissenschaftliches Studium in Göttingen auf, wurde aber bald darauf zum Militärdienst einberufen. Als Pazifist und Demokrat in die Heimat zurückgekehrt, wechselte er zur Volkswirtschaftslehre und setzte sein Studium in Tübingen und Marburg fort. Seine 1922 veröffentlichte Doktorarbeit über die Arbeitsleistung im deutschen Kalibergbau war noch vom Geist der dominierenden Historischen Schule getragen. Röpke gehörte allerdings zu einer jungen Generation ambitionierter Ökonomen, die Anschluss an innovative Trends der Geld-, Außenwirtschafts- und Konjunkturtheorie suchten. Mit seiner ebenfalls 1922 erschienenen Habilitationsschrift etablierte er sich als einer der führenden Konjunkturtheoretiker der Weimarer Republik. Nach Zwischenstationen in Jena und Graz übernahm Röpke 1929 einen Lehrstuhl an seiner Heimatuniversität Marburg.
In der 1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise profilierte sich Röpke als Konjunkturtheoretiker, der grundsätzlich die Notwendigkeit von Strukturanpassungen sah und deshalb wenig von defensiven und symptombezogenen Maßnahmen der Stabilisierung hielt. Je länger die Krise anhielt, desto mehr empfand er aber, dass die ökonomische Krise in eine psychologische Krise umgeschlagen sei. In dieser Situation einer „sekundären Depression“ brauche es eine „Initialzündung“ des Staats, um ökonomische Anpassungsprozesse wieder in Gang zu setzen. Nur auf diese Sondersituation bezogen plädierte er ab 1930 für eine aktive Konjunkturpolitik, wie sie bald darauf John Maynard Keynes als generelles Mittel befürwortete. Auf dem Gebiet der Außenhandelstheorie, die in jenen Jahren mit der quälenden Reparationsfrage und mit der interalliierten Verschuldung konfrontiert war, vertrat Röpke ausgeprägt freihändlerische, auf Reintegration der Weltwirtschaft abzielende Positionen. Entschieden trat er deshalb den Autoren des „Tat-Kreises“ entgegen, die für wirtschaftliche Autarkie warben und die Krise zuspitzen wollten, um eine „Konservative Revolution“ in die Wege zu leiten. Der Kampf um die wirtschaftliche Stabilisierung der Weimarer Republik diente Röpke erklärtermaßen auch dazu, einen Zivilisationsbruch durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten zu vereiteln.
Emigration in die Türkei und die Schweiz
Auch nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 trat Röpke noch einige Male mit offensichtlicher Kritik hervor, so dass seine Stellung unhaltbar wurde. Gerade noch rechtzeitig setzte er sich im Mai 1933 in die Niederlande ab und fand mit seiner Frau und drei kleinen Kindern über die Schweiz schließlich Zuflucht in der Türkei. Dort plante der modernistische Staatsgründer Kemal Atatürk eine Reorganisation der Universität Istanbul nach westlichen Maßstäben. Deutsche Emigranten wie Röpke, der von der Universität Marburg aufgrund des neu erlassenen Reichsbeamtengesetzes in den Ruhestand versetzt wurde, waren dort daher hochwillkommen. Vier Jahre lehrte Röpke unter schwierigen Umständen an der Universität Istanbul und legte in dieser Zeit als Frucht seiner Vorlesungen unter anderem 1937 den eingängigen Lehrbuchklassiker Die Lehre von der Wirtschaft vor. Im selben Jahr wechselte er an das „Institut universitaire de hautes études internationales“ in Genf, wo er ein stimulierendes Umfeld fand und seinen publizistischen Resonanzraum erheblich ausweiten konnte, nicht zuletzt über die Neue Zürcher Zeitung, der er bis zuletzt als Autor engstens verbunden blieb.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und die Umzingelung der Schweiz durch deutsche Truppen gefährdeten Röpkes Existenz aufs Neue. Möglichkeiten zur Emigration in die USA ließ er jedoch verstreichen. In den Kriegsjahren arbeitete er an einer Trilogie, die als Diagnose des totalitären Zeitalters und als freiheitliches Reformprogramm angelegt war. Im ersten, 1942 erschienenen Teil Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart übte Röpke eine fundamentale Kulturkritik an Vermassung und Kollektivierung und ging damit den geistigen und soziologischen Ursachen für den Niedergang liberaler Gesellschaften und für die Herausbildung totalitärer Regime nach. Dabei setzte er sich – ähnlich wie parallel Karl Popper und Friedrich August von Hayek – dezidiert mit den wissenschaftlichen Großtrends von Positivismus, Rationalismus und Szientismus auseinander, die der Planbarkeit und Steuerbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft das Wort redeten.
Der zweite Teil der Trilogie mit dem Titel Civitas humana (1944) entfaltete das therapeutische Gegenprogramm einer dezentristischen Ordnung, die auf kleine Einheiten wie kommunale Selbstverwaltung, Föderalismus und unternehmerischen Mittelstand setzte. Dazu rechnete er im Unterschied zu anderen Liberalen auch eine griffige Antimonopolpolitik und Marktordnungspolitik, eine auf Ausgleich bedachte Sozialpolitik und eine als „Sprungfeder der Selbstverantwortung“ gedachte Gesellschaftspolitik. Nicht zuletzt sah er auch Spielraum für begrenzte Anpassungsinterventionen, mit denen Marktprozesse flankiert, aber nicht korrigiert werden sollten. Im Unterschied zum klassischen Laisser-faire-Liberalismus war es ihm also nicht damit getan, marktwirtschaftlichen Kräften Freiraum zu lassen, sondern er sah auch die Notwendigkeit, die Marktwirtschaft durch die politische Definition ihres Spielfeldes und ihrer Spielregeln ordnungspolitisch zu schützen und die gesellschaftlichen Bedingungen zu verbessern, unter denen Menschen Selbstbestimmung ausüben, Gemeinschaften kultivieren und Verantwortung übernehmen können. Er prägte hierfür die Formel eines „Dritten Weges“ – nicht als Ausdruck der Äquidistanz zwischen Liberalismus und Sozialismus, sondern mit dem Anspruch, die Substanz des Liberalismus vor Selbstgefährdungen zu bewahren und zugleich gegen das Aufkommen totalitärer Ordnungsvorstellungen zu immunisieren.
Die Deutsche Frage
Im Frühjahr 1945 erschien unter dem nüchternen Titel Internationale Ordnung der abschließende Teil der Trilogie. Sein Leitmotiv war es, die Desintegration der Weltwirtschaft, wie sie seit der konkurrierenden Schutzzollpolitik des späten 19. Jahrhunderts um sich gegriffen hatte und während des Zweiten Weltkrieges in Vorstellungen von internationaler Planwirtschaft gipfelte, zu überwinden. Im Wettlauf mit den Kriegsereignissen legte er im Juni 1945 ein Buch vor, das im Lichte dieser grundsätzlichen Zeitdiagnose den Weg Deutschlands von Bismarck zu Hitler interpretierte und Konsequenzen für die Nachkriegsordnung aufzeigte. Röpke zog in Die deutsche Frage aus dem historischen Irrweg Deutschlands drei Schlussfolgerungen, die im Sommer 1945 völlig aussichtslos erscheinen mussten. Erstens plädierte er zur Überwindung der jahrelangen Planwirtschaft für die Rückbesinnung auf eine marktwirtschaftliche Ordnung, zweitens empfahl er, die Machtkonzentration unter Führung Preußens durch eine konsequent föderalistische Ordnung zurückzudrängen. Drittens sprach er sich dagegen aus, um jeden Preis an der Einheit Deutschlands festzuhalten. Vielmehr vertrat er die Auffassung, dass im Zweifelsfalle die Freiheit der drei westlichen Besatzungszonen einer Einheit unter sowjetischen Bedingungen vorzuziehen sei. In den Nachkriegsjahren engagierte sich Röpke intensiv in den deutschlandpolitischen Diskussionen und in der Debatte um eine Wirtschafts- und Währungsreform. Er konnte sich bestätigt fühlen, als 1948 Ludwig Erhard die Währungsreform mit einer Wirtschaftsreform verband und mit der Freigabe vieler Preise einen entscheidenden Schritt zur Etablierung einer marktwirtschaftlichen Ordnung setzte. Auch die deutschlandpolitische Entwicklung mit der Parallelgründung von Bundesrepublik und der DDR bestätigte Röpkes Prognose.
In den 1950er und 1960er Jahren flankierte Röpke von Genf aus als wirkmächtiger Publizist die Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard („ein Massengrab falscher Voraussagen“), allerdings ab Mitte der 1950er Jahre mit wachsender Sorge vor ordnungspolitischen Sündenfällen. Die populäre Formel „Wohlstand für alle“ aus dem für Adenauer und Erhard so erfolgreichen Bundestagswahlkampf 1957 war gar nicht nach seinem Geschmack. Je eindrucksvoller der wirtschaftliche Aufstieg der Bundesrepublik verlief, desto mehr thematisierte Röpke in seinen Schriften, dass Wohlstandssteigerung für sich genommen nicht der letzte Maßstab der Gesellschaftsordnung sein könne. In seinem letzten großen Buch unter dem bezeichnenden Titel Jenseits von Angebot und Nachfrage ging er 1958 hart mit materialistischen Zeittendenzen ins Gericht – sowohl mit marktwirtschaftlich getriebenem Wohlstandsstreben als auch mit der Expansion des Fiskal- und Wohlfahrtsstaats.
Röpke befürwortete in der Ära Adenauer/Erhard die Zurückdrängung planwirtschaftlicher Elemente, die fiskalische Disziplin und die Orientierung an der Geldwertstabilität und nicht zuletzt alles, was die junge Bundesrepublik wieder in die Weltwirtschaft integrierte. Große Sorgen bereitete ihm jedoch die Entwicklung der europäischen Integration. Ihr Sinn konnte für Röpke nur darin liegen, einen echten Binnenmarkt und außenwirtschaftliche Öffnung zu ermöglichen. Eine nach außen durch Zollpolitik abgeschottete Blockbildung und einen industrie- und agrarpolitischen Dirigismus nach innen lehnte er ab. Trotz solcher integrationspolitischen Bedenken sympathisierte er zunehmend mit Adenauer und de Gaulle, denen er als konservativen Führungspersönlichkeiten Europas noch am ehesten zutraute, dem progressiven Zeitgeist, für den der amerikanische Präsident John F. Kennedy oder der britische Premierminister Harold Wilson standen, etwas entgegenzusetzen. In seinen letzten Jahren verstärkten sich bei Röpke, dessen Schriften in viele Sprachen übersetzt wurden und der mit seiner wirtschaftspolitischen Publizistik weit über den deutschen Sprachraum hinauswirkte, kulturkritische Töne. Mit seiner Zeitkritik richtete er sich gegen Tendenzen eines sogenannten „sinistrismo“, in denen er eine Unterschätzung der kommunistischen Bedrohung und eine Selbstgefährdung der westlichen Zivilisation angelegt sah. Insbesondere war Röpke bis zuletzt ein erklärter Gegner von keynesianischen Vorstellungen von Vollbeschäftigungs-, Verteilungs- und Konjunkturpolitik, die Staatsverschuldung, Wachstumsverluste und Inflation als Begleiterscheinungen in Kauf nahmen. Am 12. Februar 1966 erlag er in seiner Wahlheimat am Genfer See einem Herzinfarkt.
Röpke als intellektueller Vordenker im Kalten Krieg
Wilhelm Röpke gehört wie Raymond Aron, Walter Lippmann, Salvador de Madariaga oder Arthur Koestler zu den Theoretikern und Intellektuellen, die als Vordenker des Westens im Kalten Krieg gelten können. Mit seinem ökonomischen und kultursoziologischen Werk, mit seiner weitgespannten, auf politische Entscheidungssituationen ausgerichteten Publizistik und seinem internationalen Netzwerk war er nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern weit darüber hinaus eine repräsentative Stimme für die Revitalisierung liberalen Denkens.
Angelegt war diese Rolle schon in seinen frühen Positionierungen in den 1920er und 1930er Jahren. Er sah seinerzeit durchaus die nationalen Eigenheiten und die ideologischen Besonderheiten von Massenbewegungen wie Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Er erkannte aber wie José Ortega y Gasset auch früh die Ähnlichkeiten in deren Gesinnungen – den ästhetischen Hang zum Kolossalen in der Architektur, zur Monotonie und zur Uniformität, die ständige Mobilisierung der Massen durch eine Monopolpartei, den „vertikalen Imperialismus“, der auf eine immer tiefere Durchdringung und Unterwerfung gesellschaftlicher Ordnung unter den Primat der Politik drang – und nicht zuletzt die aus dem umfassenden Steuerungsanspruch abgeleitete Hinwendung zur Planwirtschaft, bei der nicht mehr wie in der Marktwirtschaft der „Gerichtsvollzieher“, sondern der „Scharfrichter“ zur letzten Instanz wurde. Mitte der 1930er Jahre war bei Röpke in diesem Sinne ein Totalitarismus-Begriff etabliert, der sich dadurch von gängigeren politikwissenschaftlichen Ansätzen wie bei Hannah Arendt oder Carl Joachim Friedrich unterschied, dass er den integralen Zusammenhang von politischer und wirtschaftlicher Freiheit betonte. Wo die ökonomische Ordnung politisch durchdrungen wird, ist für Röpke politische Freiheit unmöglich und der Weg in eine totalitäre Ordnung vorgezeichnet – gleichviel, welchen Inhalts die Ideologie ist, in deren Namen die maßlose Macht ausgeübt wird. Von dieser Warte aus sah Röpke die auf Abschreckung beruhende Blockbildung nach 1945 treffend voraus – die deutsche Teilung als unvermeidbares Nebenprodukt eingeschlossen.
Das Hauptmotiv seines politischen Denkens lag darin, westliche Gesellschaften gegen die Verlockungen totalitärer Experimente zu immunisieren. Die Stärkung dezentraler Einheiten, in denen Selbstwirksamkeit erfahren werden kann, das Vertrauen auf marktwirtschaftliche Ordnungsstrukturen, die Erziehung zur Freiheit, die Begrenzung von Staatstätigkeit, die Gewährleistung von Währungsstabilität, die weltwirtschaftliche Integration durch Freihandel und anderes mehr sind für ihn Grundbedingungen einer freien Gesellschaft, die mehr als Wohlstand bietet. Die frühe Bundesrepublik erschien ihm insofern als bemerkenswerte Erfolgsstory für die Rückbesinnung auf eine Werteordnung und eine wirtschaftliche Ordnung, die dem Totalitarismus etwas entgegenzusetzen hatte. Röpke folgte konservativen Denkvorstellungen, wenn er für ein Kulturideal und eine Gesellschaftsordnung plädierte, die aus natürlichen Bindungen hervorgeht und die nicht zweckgerichtet nach Maßstäben einer ausformulierten Ideologie konstruiert werden muss. Ein ideologisch aufgeladener Gegen-Totalitarismus, wie ihn geläuterte Ex-Kommunisten wie Arthur Koestler vertraten, erschien ihm untauglich und gefährlich. Er plädierte für eine „natürliche Ordnung“: „eine ruhige, gelassene Besinnung auf Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Ehrfurcht vor dem Leben und den letzten Dingen, pflegliche Bewahrung und Befestigung der geistig-religiösen Grundlagen“. Röpke unterschied den Liberalismus als unvergängliche, aus antiken und christlichen Vorstellungen gespeiste Idee ausdrücklich von konkreten sozialen Bewegungen.
Marktwirtschaft ist nicht genug
Als wesentliche Merkmale der liberalen Idee, für die er sich auf Autoren wie Montaigne, Montesquieu oder Tocqueville bezog, führte er Humanismus, Personalismus und Universalismus an. Der Liberalismus zeichnete sich für ihn durch eine Vernunftorientierung aus, die aber nicht in die Hybris einen konstruktivistischen Rationalismus umschlug. Er pflegte eine Haltung des Realismus und der Skepsis, rechnete also mit dem Menschen in all seiner Durchschnittlichkeit und Fehleranfälligkeit und setzte deshalb auf Institutionen wie Eigentum, Konkurrenz und Selbstverantwortung, um das Streben nach Eigennutz mit dem Gesamtinteresse in einer offenen Gesellschaft zu verbinden. Pendant einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die auf eine wirtschaftliche Dekonzentration hinwirkte, war eine politische Ordnung, die auf Gewaltenteilung, Föderalismus, Gemeindefreiheit und Subsidiarität aufbaute. Der von Röpke geprägte Slogan „Marktwirtschaft ist nicht genug“ umfasste dabei eine doppelte Botschaft. Einerseits ging es ihm darum, das marktwirtschaftliche Prinzip nicht durch planwirtschaftliche und interventionistische Alternativen in Frage stellen zu lassen. Andererseits ging es ihm darum, dass für eine Ordnung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, materieller Wohlstand nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist.
Der Kampf gegen zentralistische, planwirtschaftliche, protektionistische und wohlfahrtsstaatliche Tendenzen gehörte zu dieser Positionierung dazu. Überdehnte Steuerungsansprüche, die Abschottung von der Weltwirtschaft oder die Expansion der Staatsausgaben durch eine „Finanzpolitik der großen Kelle“ führten nach seiner Wahrnehmung nicht nur zur ökonomischen Schwächung westlicher Gesellschaften, sondern untergruben auch die Bereitschaft der Menschen, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung wahrzunehmen, und machten sie für totalitäre Ordnungsvorstellungen anfällig. Selbstbesinnung der westlichen Gesellschaften im Sinne einer Vergewisserung über die eigenen kulturellen Voraussetzungen und daraus abgleitet ein sorgsamer, maßvoller Umgang mit politischen und wirtschaftlichen Institutionen waren für Röpke die Voraussetzung dafür, dem Kommunismus mit innerer Widerstandskraft entgegenzutreten.
Entsprechend harsch fiel auch seine Kritik an intellektuellen Tendenzen der 1950er und 1960er Jahre aus, die die westlichen Gesellschaften aus linksideologischen Motiven mit Selbstkritik überzogen, Sympathie für kommunistische Ordnungsvorstellungen hegten oder zumindest auf sträfliche Weise die Bedrohung durch den Kommunismus unterschätzten und in eine schwächliche Appeasement-Haltung gerieten. Sehr früh und klar plädierte Röpke daher für eine militärische Sicherheitsallianz des Westens, die eine glaubhafte Abschreckungsdoktrin vertrat. In den Debatten um die Wiederbewaffnung und militärische Westintegration übte Röpke scharfe Kritik am einseitigen, nach seiner Einschätzung naiven und gefährlichen Pazifismus und Neutralismus, wie ihn neben anderen sein Studienfreund Gustav Heinemann vertrat. Als leichtfertig und demoralisierend erschienen ihm auch ökonomisch motivierte Bestrebungen von Unternehmen, mit der Sowjetunion einen Ost-West-Handel auf Augenhöhe zu etablieren.
Außenpolitische Einsprüche
Zum Menetekel geriet ihm das Doppelkrisenjahr 1956: Röpke zweifelte und verzweifelte an der Führungsrolle der USA, als diese in der Suezkrise Frankreich und Großbritannien nicht beistanden und im Einvernehmen mit der Sowjetunion die Verstaatlichung des Suez-Kanals durch Ägypten hinnahmen. Dass der Westen auch tatenlos zusah, als der ungarische Freiheitskampf durch die Sowjetunion niedergeschossen wurde, deutete er sorgenvoll als Renaissance der Appeasement-Haltung der 1930er Jahre. Aus seiner Sicht war der kommunistische Totalitarismus noch bedrohlicher als der nationalsozialistische Totalitarismus, weil die ökonomisch hergeleitete Ideologie des Kommunismus viel leichter in andere Länder zu übertragen war als die rassistisch begründete Ideologie der Nationalsozialisten.
Anders als viele andere Ökonomen war sich Röpke also auch der sicherheitspolitischen Dimension des Kalten Kriegs bewusst. Da er allerdings den amerikanischen Präsidenten Kennedy und Johnson in dieser Hinsicht nicht traute und ohnehin mit der politischen Kultur der USA fremdelte, entwickelte sich der Adenauer-Fan Röpke in seinen letzten Jahren zu einem temperamentvollen Gaullisten, der die Fähigkeit Frankreichs überschätzte, als militärische Führungsmacht Europas an die Stelle der USA zu treten.
Dass der Kalte Krieg sich nicht nur an der Demarkationslinie zwischen Ost und West mitten in Europa abspielte, sondern weltweit ausgetragen wurde, registrierte Röpke sehr genau. Nachdem im Zuge der Dekolonisierung eine Reihe von neuen Staaten vor allem in Afrika und Asien ihre Unabhängigkeit errungen hatte, wandte sich Röpke wiederholt gegen eine in doppelter Weise naive Entwicklungshilfepolitik. Zum einen kritisierte er, dass dank der materiellen Unterstützung des Westens viele Regime stabilisiert wurden, die ideologisch mit dem Kommunismus sympathisierten. Zum anderen erachtete er eine Entwicklungshilfepolitik als verfehlt, die, auf marxistischen oder keynesianischen Prämissen beruhend, auf Verstaatlichungen, Dirigismus und Planwirtschaft abzielte und damit eine echte Integration der jungen Staaten in die Weltwirtschaft erschwerte. Hier gab der Westen nach Röpkes Auffassung ohne Not viel geistiges Terrain preis. So berechtigt Röpkes Kritik an diesen Ansätzen der Entwicklungspolitik an den vielfach sozialistisch inspirierten Befreiungsbewegungen war, schoss er – ähnlich wie bei seinen Hoffnungen auf de Gaulle – bisweilen übers Ziel hinaus – so etwa, indem er einige Ausprägungen des südafrikanischen Apartheidsregimes gegen internationale Kritik von links verteidigte.
Röpkes aktuelle Relevanz
Fünfzig Jahre nach seinem Tod wird Röpke nur noch selten in ökonomischen Fachdebatten rezipiert. Präsenter blieb er in seiner historischen Rolle als Kultursoziologe und Publizist. Diese schien allerdings nach dem Epochenjahr 1989 lange Zeit überholt. Entgegen Francis Fukuyamas irriger These vom „Ende der Geschichte“ waren in den letzten Jahren aber Entwicklungen zu registrieren, die wieder Erinnerungen an die Zwischenkriegszeit – mit der großen Instabilität der Demokratien, mit der weltwirtschaftliche Ordnungskrise und nicht zuletzt mit dem Auftreten totalitärer Bedrohungen, wach werden ließen. So gewann Röpkes ökonomisches Denken wieder an Gegenwärtigkeit, als nach 2008 darum gerungen wurde, ob die Antwort auf die Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise in antikapitalistischen und globalisierungskritischen Reflexen oder in einer Rückbesinnung auf ordnungspolitische Regeln zu suchen sei. Neue Lesbarkeit gewann Röpkes Werk auch durch die wachsenden Probleme, in die viele westliche Wohlfahrtsstaaten seither durch übermäßige Verschuldung, mangelnde Tragfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und nachlassende Wettbewerbsfähigkeit hineingerutscht sind. Spätestens seit 2014, als Russland die Krim annektierte, sind in Europa auch wieder sicherheitspolitische Bedrohungen greifbar, die mit der Konstellation im Kalten Krieg vergleichbar sind. Und wie in den 1930er Jahren stellt sich die Frage, ob die westliche Welt eine gemeinsame Ordnungsvorstellung hat und diese in eine kohärente sicherheitspolitische Strategie übersetzen kann oder ob sie durch geistige Orientierungslosigkeit in eine Appeasement-Politik verfällt. Trotz aller Rede von der „Zeitenwende“ hat selbst der Ausbruch des Ukraine-Kriegs 2022 hierauf noch keine klare Antwort gegeben. Vor diesem Hintergrund ist Röpkes heutzutage vor allem aus vier Perspektiven noch oder wieder relevant:
Zum einen gibt sein Werk nach wie vor Orientierung, um den Allerweltsbegriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ ordnungspolitisch zu klären und konsistent zu machen. Röpke betonte stets die kulturellen Voraussetzungen und Bindungen der wirtschaftlichen Ordnung und begründete damit die Notwendigkeit, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Ordnung kohärent zusammenzudenken. Insbesondere die beliebige Addition von marktwirtschaftlichen und sozialistischen Ordnungsmerkmalen war aus seiner Sicht unverträglich. Auch indem er die grundlegende Bedeutung von Währungsstabilität und Haushaltsdisziplin betonte, berührte er Herausforderungen, die derzeit viele westliche Länder, namentlich die Eurozone, umtreiben. Ebenso gibt Röpkes Werk heute noch und wieder Orientierung in den Debatten zur Sozialpolitik. Die Fehlentwicklungen, unter denen derzeit viele Länder leiden, sah Röpke bereits voraus. So ist seine Vorstellung einer ordnungspolitisch reflektierten, marktkonformen Sozialpolitik, die Abhängigkeiten vom Staat reduziert und selbstbestimmtes Leben durch Eigenverantwortung, Vorsorge und Vermögensbildung ermöglicht, wieder relevant. Auch der Verlust an Regeldenken in der Wirtschaftspolitik war ein Leitmotiv in Röpkes Denken: Politische Eingriffe in Marktpreise, Innovationslenkung, rückwärtsgewandte Beschäftigungspolitik, branchenspezifische Subventionierungen und anderes mehr, was derzeit beispielsweise die Energie-, Wohnungsbau- oder Industriepolitik prägt, hat Röpke bereits in der Weimarer Republik kritisiert und dagegen ein ordnungspolitisch fundiertes Reformprogramm gesetzt.
Zweitens bietet Röpkes Werk auch Orientierung in den Debatten um Globalisierung und Freihandel. Seit der Finanzmarktkrise 2008 sind globalisierungskritische, protektionistische und sogar autarkistische Stimmungen wieder auf dem Vormarsch. Erst seitdem Donald Trump in den USA am Ruder ist und die Welt mit einer hektischen und erratischen Schutzzollpolitik in Atem hält, wächst in Europa wieder die Einsicht dafür, dass Freihandel erstrebenswert ist, weil er ökonomischen Wohlstand schafft und zur Zivilisierung und Reduzierung von Interessenkonflikten beitragen kann. Mit Röpke lässt sich verstehen, dass eine außenwirtschaftliche Integration von Gleichgesinnten höchst erstrebenswert ist, auch und gerade, weil damit im Inneren auf die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft geachtet werden muss.
Besondere Aktualität haben in den letzten Jahren drittens seine Warnungen vor Fehlentwicklungen der europäischen Integration gewonnen. Röpke warb stets für eine marktwirtschaftlich und freihändlerisch ausgerichtete Integration. Die Notwendigkeit einer europäischen Währungsunion hätte er nicht eingesehen. Erst recht hätte er sich gegen die Vergemeinschaftung von Schulden positioniert. Sektorale Planwirtschaften, wie sie von Beginn an im Kohle- und Agrarsektor angelegt waren, lehnte er dezidiert ab. Entsprechend kritisch würde er heutige Tendenzen kommentieren, die unter dem Begriff der „strategischen Autarkie“ auf die industrie- und innovationspolitische Lenkung ganzer Branchen zielen. Überhaupt lässt sich mit Röpke auch besser verstehen, warum die Europäische Union derzeit mit ihrem überbordenden Dirigismus an Akzeptanz und an Funktionalität verliert. Mit Röpke lässt sich argumentieren, warum die Europäische Union gut beraten wäre, aus der Sackgasse kleinteiliger, hektischer und widersprüchlicher Regulatorik wieder herauszukommen und stattdessen einer Philosophie der berechenbaren und konsistenten Regelsetzung zu folgen und dem Grundprinzip der Subsidiarität wieder mehr Geltung zu verschaffen.
Mit Röpkes Kritik am Ost-West-Handel der 1950er Jahre im Hinterkopf erkennt man zu guter Letzt auch klarer, wie naiv und fahrlässig die Vorstellung war, man können Putins Russland besänftigen und zivilisieren, indem man sich in die energiepolitische Abhängigkeit begab. Röpke hat früh davor gewarnt, dass eine solche ostpolitische Arglosigkeit sich nicht auszahlt und dass die westliche Welt gut beraten ist, ihre Interessen klar zu definieren und daraus auch die notwendigen sicherheitspolitischen Konsequenzen zu ziehen. Man muss nicht von einer Renaissance des Kalten Krieges sprechen, aber es ist wieder eine Situation eingetreten, in der sich die westliche Welt darauf besinnen muss, welche Werte sie ausmachen, und wie sie ihre politische Ordnung nach innen und außen verteidigen muss. Manche Antworten werden dazu selbstredend anders ausfallen müssen, als Röpke sie während des Kalten Krieges gegeben hat, aber die intellektuelle Haltung von Realismus und Unerschrockenheit, mit der er zu seiner Zeit auf solche existentiellen Herausforderungen reagierte, ist auch heute wieder gefragt.
Bibliografie
- Hans Jörg Hennecke: Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung. Zürich 2005.
- Wilhelm Röpke: Die deutsche Frage. Erlenbach-Zürich 1945.
- Ders.: Maß und Mitte. Erlenbach-Zürich 1950.
- Ders.: Jenseits von Angebot und Nachfrage. Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1958.
- Ders.: Gegen die Brandung. Zeugnisse eines Gelehrtenlebens. Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1958.
- Ders.: Wort und Wirkung. Ludwigsburg 1964.
- Marktwirtschaft ist nicht genug. Gesammelte Aufsätze. Hg. von Hans Jörg Hennecke. Waltrop/Leipzig 2009.
Dieses Essay ist zuerst auf dem Public History Portal Geschichtsbewusst erschienen.