Länderberichte
Eine zwar knappe aber doch eindeutige Mehrheit im Unterhaus erlaubt es David Cameron Prime Minister in No. 10 Downing Street zu bleiben, ohne einen Koalitionspartner zur Mehrheitsbildung zu benötigen. Alle diesbezüglichen Spekulationen waren damit Makulatur. Vor ihm steht eine fünfjährige Amtszeit mit z.T. erheblichen Herausforderungen.
Wahlergebnis
Nach einer spannenden Wahlnacht und ausgelöst durch die erwähnten exit polls stand am Mittag des nächsten Tages nach Überschreiten der Mehrheitsgrenze von 326 Sitzen fest, dass David Cameron erneut britischer Prime Minister aus eigener Kraft und ohne Koalitionspartner sein würde. Mit seinem Besuch bei Queen Elizabeth am Freitagmittag leitete er den dafür erforderlichen formalen Schritt ein.
Seit 16.00 Uhr am Freitagnachmittag stand nach Auszählung aller 650 Wahlkreise das offizielle Endergebnis fest:
Die Conservatives erzielten rund 2 Mio. Stimmen mehr als Labour und legten gegenüber der Wahl 2010 zwar nur 0,8% der Stimmen aber 24 Sitze zu. Labour konnte sogar 1,5% mehr Stimmen erzielen, verlor aber 26 Sitze. Die LibDems verloren 15,2% Stimmen und 49 Sitze, UKIP legte 9,5% Stimmen zu, konnte aber nur 1 Sitz erzielen. Die SNP schließlich legte zwar nur 3,1% der Stimmen zu, bekam aber zusätzlich 50 Sitze.
An Hand dieser Zahlen wird noch einmal deutlich, welche Verzerrungen das britische Mehrheitswahlrecht mit sich bringt, wenn die eindeutig drittstärkste Kraft nach Wählerstimmen (UKIP) lediglich einen Sitz erhält und die schottische SNP mit knapp 5% immerhin 56 Sitze und damit drittstärkste Fraktion wird und erhebliches Gewicht im neuen Parlament bekommt.
Das Wahlergebnis wirft auch Frage nach der Verlässlichkeit der Umfragen und Umfrageinstitute auf. Zu deren Ehrenrettung sei angemerkt, dass alle Umfragen bis zuletzt immer auch einen Anteil von 20-25% unentschlossene Wähler registriert haben und das Verhältniswahlrecht und die zahlreichen knappen Wahlkreise eine Prognose ausgesprochen schwierig machten. Das Ergebnis der exit polls hingegen war bemerkenswert präzise und wich nur bei den Torie-Stimmen deutlicher Endergebnis ab. Was letztlich die unentschlossenen Wähler bewogen hat das Ergebnis so entscheidend zu Gunsten der Conservatives zu verschieben bleibt natürlich Spekulation, einige Umfragen nach der Wahl wie z.B. von Lord Ashcroft deuten jedoch darauf hin, dass es letztlich die „leadership“ Kompetenz Camerons gegenüber Miliband und die Wirtschaftskompetenz der Conservatives allgemein waren, die eine wichtige Rolle gespielt haben. Ob das zuletzt im Wahlkampf von den Tories intensiv bemühte Schreckgespenst einer Labour-SNP Koalition ebenso wirksam war, bleibt dahingestellt.
Der neue/alte Prime Minister und der Rücktritt dreier Parteivorsitzender
Das Wahlergebnis zeigt jeweils eindeutige Sieger und Verlierer dieser Wahl: Zu den Wahlsiegern zählen Prime Minister David Cameron selbst und seine Konservative Partei, die entgegen aller Erwartungen (auch in der eigenen Partei) letztlich einen klaren Wahlsieg heimfuhren. Für Cameron muss es eine besondere Genugtuung gewesen sein, sein Makel aus der Wahl 2010 (bei der er keine absolute Mehrheit erzielen konnte) nun überwunden zu haben und es allen seine Kritikern „gezeigt“ zu haben, der er eine Wahl auch „richtig“ gewinnen kann. Aber auch die Abgeordneten in der Partei, von denen viele befürchten mussten ihre knappen Wahlbezirke zu verlieren, haben eine nicht erwartete Performance gezeigt und ihre Fraktion nun sogar um 24 Sitze ausgebaut. Zu den Wahlsiegern auf konservativer Seite muss aber auch der australische Wahlkampfmanager Lynton Crosby gezählt werden, dessen Konzept sich auf die Wirtschaftskompetenz zu konzentrieren offensichtlich aufgegangen ist.
Der zweite eindeutige Wahlsieger ist die schottische SNP und ihre Vorsitzende und Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon. Es gelang ihr nicht nur die Niederlage beim Referendum im September 2014 in einen furiosen und engagierten Wahlkampf umzuwandeln, sondern auch die Mitgliederzahlen der SNP explodieren zu lassen und sich selbst zum eigentlichen „shooting star“ des Wahlkampfes zu machen. In allen TV Auftritten und im Straßenwahlkampf machte „Nicola“ eine überzeugende Figur, der nahezu vollständige Wahlsieg in Schottland war der verdiente Lohn (allerdings auch durch das Wahlsystem begünstigt) dafür. Ihre koalitionären Avancen gegenüber Miliband verdeutlichten gerade gegen Ende des Wahlkampfes welchen Einfluss die SNP in Westminster (dort mit dem ehemaligen First Minister Alex Salmond als streitlustigen Fraktionsführer) auszuüben gedachte, ein Faktor, der Labour im Wahlkampf sicher mehr geschadet als genutzt hat.
Sturgeon machte in Interviews am Morgen nach der Wahl auch klar, wie es um die weitere Frage der schottischen Unabhängigkeit bestellt ist: Im Rahmen der Wahlen zum schottischen Parlament 2016 wird die SNP die schottische Unabhängigkeit wieder auf ihre Fahnen schreiben. Wenn die SNP dann wieder eine Mehrheit erzielen sollte (wovon im Moment auszugehen ist), wird sie sicher in absehbarer Zeit erneut ein Referendum darüber anstreben.
Auf der Verliererseite stehen vor allem Labour und LibDem, teilweise aber auch UKIP.
Die LibDems haben für ihre Regierungsbeteiligung als Juniorpartner der Koalition aber auch für ein nicht eindeutiges programmatisches Profil einen hohen Preis gezahlt. Von 56 Abgeordneten bei der Wahl 2010 sind noch ganze 8 übrig geblieben, prominente Opfer sind der ehemalige Minister Vince Cable oder auch Danny Alexander (chief secretary des Finanzministeriums), die jeweils ihr Abgeordnetenmandat verloren. Unmittelbare Konsequenz war der Rücktritt des Parteivorsitzenden Nick Clegg, der zwar seinen Sitz halten konnte, aber die parteipolitischen Konsequenzen aus der Niederlage zog.
Zweiter eindeutiger Verlierer war Labour und Ed Miliband. Der Verlust nahezu aller Sitze in Schottland (bis auf einen) und zahlreiche Verluste in England gegen konkurrierende Conservative Abgeordnete besiegelten ein Endergebnis, welches mit minus 26 Sitzen noch deutlich unter dem Ergebnis von 2010 lag. Angesichts der großen Erwartungshaltung in einem wie auch immer gearteten Bündnis mit SNP in die No.10 Downing Street einziehen zu können, war dies besonders schmerzhaft. Persönliche Niederlagen wie die des designierten Schatzkanzlers Ed Balls (gegen junge Conservative Abgeordnete Andrea Jenkyns) oder des designierten Außenministers und Labour Wahl-kampfmanagers Douglas Alexander (er verlor klar in seinem schottischen Sitz gegen die SNP-Konkurrentin Mhairi Black) verdeutlichten wie tief diese Niederlage sitzt. Auch hier zog Spitzenkandidat und Parteivorsitzender Ed Miliband unmittelbare Konsequenzen und erklärte am Tag der Wahl seinen sofortigen Rücktritt.
Schließlich gehört letztlich auch UKIP zu den Wahlverlierern. Nach dem Höhenflug bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2014 mit gut 27% der Stimmen begann ein kontinuierlicher Sinkflug in den Umfragen, lediglich bei 2 Nachwahlen 2014 unterbrochen, bei denen es gelang zwei Überläufer aus der Konservativen Partei als UKIP Kandidaten ins Parlament zu wählen (Mark Reckless und Douglas Carswell). Zwar belegte UKIP mit 12,6% der Stimmen anteilig den dritten Platz und lag in vielen Wahlbezirken in England an zweiter Stelle. Die anvisierten Wahlsiege beispielsweise in Thurrock, Rochester and Stroot und Thanet South konnten jedoch nicht erzielt werden. Lediglich Douglas Carswell behauptete seinen Erfolg bei der Nachwahl und wird als einziger UKIP Abgeordneter für den Bezirk ins Parlament einziehen. Mark Reckless hingegen verlor seinen Sitz wieder an seinen konservativen Gegenkandidaten. Besonders spektakulär war jedoch die Niederlage des UKIP Parteivorsitzenden und emblematischen Europaabgeordneten Nigel Farage, der in South Thanet rund 2800 Stimmen hinter seinem Konkurrenten der Conservatives blieb. Er hatte vor der Wahl noch vollmundig versprochen zurückzutreten, falls dies eintreten solle, nun meinte er lediglich, dass er nun eine Pause machen wolle und man dann bei den nächsten UKIP-Vorstandwahlen im Herbst weiter sehen wolle. Ein Rücktritt sieht wohl anders aus, siehe Miliband oder Clegg!
Zentrale Herausforderungen
Sobald das Parlament am 18.Mai offiziell seine Arbeit aufnimmt und die Regierung nach der Regierungserklärung am 27.5. (Queens Speach) ebenfalls wieder zur Tagesordnung übergeht, werden die Fragen nach Herausforderungen und Prioritäten wieder zentraler in den Mittelpunkt rücken. Was kann realistischerweise von Cameron und seiner Mannschaft erwartet werden, welche Wahlversprechen werden in den Vordergrund rücken, welche Probleme zu ernsthaften Hindernissen?
Als erstes wäre da die Frage der Einheit des Vereinigten Königreichs. Cameron machte bereits bei seinen ersten Äußerungen am Morgen des Freitag klar, dass dies seine allererste Priorität sei, wobei die mächtige SNP ein harter und kompromissloser Gegner sein wird, der mit maximalen finanziellen und politischen Forderungen die britische Regierung erheblich unter Druck setzen wird. Es ist zu erwarten, dass die versprochenen Zugeständnisse hinsichtlich fiskaler Autonomie umgesetzt werden, vermutlich dann aber auch mit mehr Verantwortung bei der Ausgabenpolitik und Steuererhebung verbunden. Die territoriale Ordnung des Königreichs und die Frage wie mit dem gestiegenen Selbstbewusstsein und Bestreben nach Autonomie bzw. Unabhängigkeit politisch und gesellschaftlich umgegangen werden soll, werden eine zentrale, komplexe und alles andere als einfache Aufgabe werden. Ein weiterer Wahlsieg der SNP bei den Regionalwahlen in Schottland 2016 wird dies noch weiter zuspitzen.
Das Wahlergebnis hat auch gezeigt, dass das praktizierte Mehrheitswahlrecht im Prinzip im Prinzip hinfällig ist, denn die tatsächliche Sitzverteilung weicht eklatant von den Zustimmungswerten ab. Eine radikale Veränderung bedarf jedoch substantieller parlamentarischer Mehrheiten und sicher auch der Zustimmung in der Bevölkerung, beides ist mehr als ungewiss, von daher wird dies vermutlich keine unmittelbare Priorität haben.
In der Wirtschafts- und Sozialpolitik sind weniger Überraschungen zu erwarten. Hier kann man davon ausgehen, dass die im Wahlprogramm verankerten Maßnahmen zumindest die Richtschnur für die politischen Entscheidungen sein werden. Es wird also weiter davon auszugehen sein, dass eine Konsolidierung des Haushaltes oberste Priorität hat, was angesichts der enormen Defizite sicher auch richtig und wichtig ist.
Zum Abschluss einige Bemerkungen zur zukünftigen Europapolitik. Viel ist in den letzten Stunden darüber spekuliert worden, inwieweit dieses Wahlergebnis einen Austritt Großbritanniens aus der EU beschleunigen wird. Die einfache Formel Wahlsieg Cameron + EU-Referendum = Brexit greift nicht nur zu kurz, sie lässt einige zentrale Fakten außer Betracht.
Einige Schlagzeilen beispielsweise in der deutschen Presse unmittelbar nach Be-kanntgabe des Ergebnisses vermittelten fast den Eindruck als hätte UKIP 60 Sitze erzielt und würde nun einen schwachen David Cameron ohne absolute Mehrheit mit einer extremen Anti-EU Politik in die Enge treiben.
Tatsache ist, dass Cameron aus dieser Wahl gestärkt und nicht geschwächt hervorgeht, er ist eindeutiger Wahlsieger, was ihm die Autorität verleiht, die ihm sein Teilsieg 2010 versagt hat. Damit ist ihm sicher keine 100%ige Loyalität in der eigenen Fraktion gewiss und es wird auch sicher seine berüchtigten backbencher nicht davon abhalten ihn immer wieder unter Druck zu setzen. Er hat aber zunächst eine wesentlich stärkere Ausgangsposition und ist nicht auf taktische Manöver angewiesen, wie dies angesichts fehlender eigener Mehrheiten in der Vergangenheit der Fall war. Er wird aber auch stärker als früher auf seine Partei und Faktion zugehen müssen. Der Wahl des Fraktionsführers (chief whip) kommt da eine zentrale Bedeutung zu. Die Bereitschaft zur Gefolgschaft wird aber zunächst größer sein, das kann und sollte er nutzen, um seine europapolitischen Ziele vor allem innerparteilich klarer und realistischer abzustecken. In diesem Sinne stellt Nils Pratley im Guardian völlig zu Recht fest, dass es 4 Gründe gibt, warum Camerons Erfolgsaussichten Großbritannien in der EU zu halten gestiegen sind:
Erstens seine gestiegene und schon er-wähnte persönliche Autorität, zweitens das bei dieser Wahl klar erkennbare Ergebnis, dass die wirtschaftliche Kompetenz der Tories den Ausschlag gegeben hat und die EU-Befürworter nun argumentieren können, dass wirtschaftliche Stabilität mit einer EU-Mitgliedschaft verbunden ist, drittens dass UKIP seinen emblematischen Anführer Nigel Farange (vorläufig) verloren hat und viertens dass der zweite große Wahlgewinner, die SNP, ebenfalls eine pro europäische Partei ist.
Ein so erstarkter Parteivorsitzender und Prime Minister ist für die Causa EU-Mitgliedschaft zwar keine einfache und keine Erfolg-garantierende aber doch eine optimistischer stimmende Option als dies ein schwacher und durch die SNP konditionierter Labour Prime Minister Ed Miliband gewesen wäre.
Auch die Annahme, dass Großbritannien unter Labour per se ein einfacherer und verlässlicherer Partner in der EU gewesen wäre ist mindestens gewagt, wenn nicht gar politisch naiv. Eine Lektüre des Labour Manifestos offenbart beispielsweise, dass auch dort das Thema Europa nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Neben einer zwar grundsätzlichen Befürwortung Europas ist dort ebenso wie bei den Tories von einem nicht näher spezifizierten „reformed Europe“ die Rede und auch unter Labour hätte es nach vorhersehbaren Entscheidungen in Brüssel (Vertragsveränderungen im Zuge der Bankenunion oder weiteren Entwicklungen in der Eurozone) ein Referendum gegeben mit mindestens ebenso ungewissen wenn nicht gar negativem Ausgang.
Großbritannien hat entgegen aller Prognosen ein klares und eindeutiges Wahlergebnis bekommen (dank des Mehrheitswahlrechts), die ungeliebte Koalitionsoption ist vorerst vom Tisch und die Regierung Cameron hat ein eindeutiges Mandat. Eine Wiederwahl 2020 hat er ja im Wahlkampf bereits ausgeschlossen, es liegt nun am ihm in den nächsten 5 Jahren den Beweis anzutreten, dass er nicht nur überraschend Wahlen gewinnen kann sondern auch, den „Job erledigen„ kann (to finish the job), wie er ein ums andere Mal im Wahlkampf versprach.
So kommt auch Jochen Buchsteiner in der FAZ zu der Schlussfolgerung: „Mit seiner eindrucksvollen Bestätigung im Amt steigen die Chancen, dass er sich in den kommenden zwei Jahren gegen die Ausstiegswilligen in seiner Partei behaupten kann und - mit ein bisschen gutem Willen der EU - das Land an einem „Brexit“ vorbeisteuern wird.“
Das Ergebnis der Wahl vom 7.5. war, so darf man bei aller Vorsicht durchaus schlussfolgern, ein gutes Ergebnis für Großbritannien und kann auch durchaus ein gutes Ergebnis für Europa sein.
Den kompletten Länderbericht samt Tabellenangaben finden Sie ob en als PDF-Datei zum Download.