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Länderberichte

Regionalwahlen in Delhi und weiteren Bundesstaaten

von Dr. Lars Peter Schmidt †, Dr. Malte Gaier

Wegweiser für die Parlamentswahlen 2014?

In Delhi, welches als National Capitol Territory of India laut indischer Verfassung einen Sonderverwaltungsstatus als Unionsterritorium einnimmt, waren am 4. Dezember rund 12 Millionen Bürger, darunter ca. 450.000 Erstwähler, zur Wahl der Kandidaten für die 70 Parlamentssitze aufgerufen. Mit deutlichem Stimmengewinn (31 Sitze) konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) erstmals - nach drei Wahlen und 15 Jahren ununterbrochener Regierung durch die Chief Ministerin Sheila Diskhit des Indian National Congress (INC) - eine Zäsur einleiten.

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Die Chief Ministerin reichte noch am Sonntagvormittag vor Abschluss der Stimmenauszählung ihren Rücktritt ein, nachdem die Kongresspartei mit nur acht Sitzen ihr bislang schlechtestes Ergebnis einfuhr. Die BJP wird damit voraussichtlich in den nächsten Wochen mit ihrem Spitzenkandidaten Harsh Vardhan den neuen Chief Minister von Delhi stellen. Der 58-jährige Mediziner Vardhan war bereits Gesundheits-, Justiz- und Bildungsminister von Delhi im BJP-geführten Kabinett von 1993 bis 1998. Sein Eintritt in die BJP erfolgte über seine frühe Mitgliedschaft im hindu-nationalistischen Verband RSS („Rashtriya Swayamsevak Sangh), welcher noch immer ein ungebrochen großes Mitspracherecht in Entschei-dungsfragen innerhalb der BJP hat.

Die eigentliche Überraschung der Delhi-Wahlen ist jedoch das mit 28 Sitzen starke Abschneiden der erst 2012 gegründeten Aam Aadmi Party („Partei des einfachen Mannes“, AAP) unter ihrer Gallionsfigur Arvind Kejriwal, einem prominenten Sozialarbeiter, ehemaligen Abteilungsleiter der indischen Steuerbehörde und früheren politischen Weggefährten des Protestführers Anna Hazare. Dieser formulierte öffentlichkeitswirksam mit seinen zivilgesellschaftlichen Massendemonstrationen die Idee einer „Non-Establishment“- und Antikorruptionsbewegung wie kein zweiter. Jedoch war es Kejriwal, der die sozialen Proteste des Jahres 2011 in Form einer Partei – der AAP, welche als Symbol bezeichnenderweise einen Besen wählte – erfolgreich politisch transformierte. Über die Korruptions- und Armutsbekämpfung hinaus spricht sich Kejriwal im Kern für die machtpolitische Emanzipation des Volkes beginnend auf Graswurzelebene nach dem Vorbild von Mahatma Gandhis Konzept von „Selbstherrschaft“ und Selbstbestimmungsrecht des einfachen Volkes (Swaraj).

Erstmals verlängerte die Wahlkommission die Möglichkeit der Stimmabgabe bis in den späten Abend. Bis zur Schließung der Wahllokale zeichnete sich eine Wahlbeteiligung von rund 67 Prozent ab, ein Ergebnis, das weit über der historischen „Wahl des Volkes“ in Delhi 1993 (61,75 Prozent) liegt. Einen Rekord stellt zudem die von der NRO Janaagraha ermittelte Zahl der „Phantomwähler“ auf: Laut Untersuchungsergebnissen der NRO seien gut 20 Prozent aller registrierten Wähler in Delhi entweder verstorben, verzogen oder nicht auffindbar.

Wie zu erwarten, hatten die um die Regierungsmehrheit in Delhi konkurrierenden Parteien die jüngsten drastischen Preissteigerungen von Lebensmitteln sowie das Dauerproblem der anhaltenden Energiekrise in den Mittelpunkt ihrer Wahlkampfkampagnen gestellt. So forderte etwa die BJP in ihrem Manifest die Reduzierung der Energiepreise um 30 Prozent und einen Ausbau des Stromnetzes. Zudem hatten mehrere Parteien die Zusprechung des vollen Bundesstaat-Status für Delhi, zu dem auch die Hauptstadt Neu-Delhi zählt, gefordert. Das Thema Sicherheit für Frauen in der Öffentlichkeit fand dagegen zwar eine klare Resonanz im Wahlkampf, dennoch fiel diese weit geringer aus, als allgemein erwartet worden war.

Besonders die AAP konnte mit dem Thema Korruption und ihrem selbsterklärten Kampf gegen die bestehenden Verhältnisse beim Wähler punkten. Im Vorfeld der Wahlen hatten Medien Statistiken über anhängige Verfahren gegen Wahlkandidaten in Delhi veröffentlicht. Demnach laufen gegen 46 Prozent der Kandidaten der BJP, gegen 21 Prozent der INC-Kandidaten und gegen sieben Prozent der AAP Ermittlungen. Als AAP-Führer hatte Kejriwal im Vorfeld erklärt, dass seine Partei nicht mit BJP oder INC koalieren werde. Diese Festlegung könnte für die AAP in den kommenden Tagen, wenn es um die Aufstellung einer neuen Regierungsmehrheit geht, verhängnisvoll sein und der Partei maximal eine machtvolle Oppositionsrolle im Parlament von Delhi verschaffen.

Die Möglichkeit von Neuwahlen, die im Falle einer Pattsituation zwischen INC, BJP und AAP diskutiert worden war, wird angesichts des dramatischen Stimmverlusts für den INC nun unwahrscheinlicher. Wichtig könnte die Koalitionswilligkeit der Abgeordneten von Kleinparteien sowie unhabhängiger Kandidaten sein. Trotz ihrer insgesamt nur drei errungenen Parlamentssitze, könnten sie sowohl der BJP als auch der AAP eine Mehrheit in Aussicht stellen.

Neben Delhi fanden auch in den Bundesstaaten Rajasthan, Madhya Pradesh, Chattisgarh und Mizoram Regionalwahlen statt. Bis auf Mizoram, wo ein klarer Wahlsieg der Kongresspartei bereits im Vorfeld als sicher galt, konnte die BJP in allen anderen Wahlen deutliche Siege davontragen: In Rajasthan wird Vasundhara Raje für die BJP (162 von 199 Parlamentssitzen) neue Chief Ministerin und beendet damit die fünfjährige INC-Regierung von Ashok Gehlot (21 Sitze). In Madhya Pradesh sichert der jüngste Wahlsieg der BJP (165 von 230 Sitzen; INC: 58 Sitze) die Fortführung ihrer seit 2003 amtierenden Regierung.

In Chattisghar zeichnete sich kurz vor Ende der Auszählung ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der BJP unter dem amtierenden Chief Minister Raman Singh und dem INC ab, welches jedoch die BJP mit 49 Sitzen für sich entschied, während der INC nur 39 Sitze erringen konnte (90 Sitze insgesamt). In Mizoram, wo die Auszählung der Stimmen laut Wahlkommission mehr Zeit in Anspruch nehmen wird, erwartet man einen klaren Sieg des amtierenden Chief Ministers Pu Lalthanhawla vom INC, nachdem deutlich wurde, dass die Oppositionsparteien keine gemeinsame Plattform im Vorfeld der Wahlen bilden konnten.

Die Ergebnisse der jüngsten Regionalwahlen vertiefen folgende politische Trends mit Blick auf die nationalen Parlamentswahlen im kommenden Frühjahr 2014:

Aufstieg kleinerer Regionalparteien auf Kosten der beiden großen Parteien: INC und BJP erhielten bei den Wahlen 2004 und 2009 zusammen weniger als fünfzig Prozent Stimmenanteil. Die Wahlen von Delhi haben mit dem Überraschungssieg der AAP deutlich gemacht, dass nunmehr auch eine sozialrevolutionäre populistische Kraft aus der urbanen Mitte der Gesellschaft Einfluss auf den Ausgang der nationalen Parlamentswahlen im kommenden Jahr haben könnte. Dies wäre eine neue Kraft neben den etablierten Parteien und den aufsteigenden, jedoch zumeist im ländlichen Milieu vertretenen regionalen Parteien. Es bleibt abzuwarten, ob sich die AAP über Delhi hinaus auch in anderen Bundesstaaten, v.a. im Süden und Osten des Landes etablieren kann.

Für die Parlamentswahlen 2014 ist davon auszugehen, dass kleinere Regionalparteien, welche ihre Wählerklientel auf der Basis von Regional- und Kastenzugehörigkeit, Ethnie und Sprache vertreten, von INC und BJP bei der Bündnisbildung mehr denn je umworben werden.

Vor dem Hintergrund der vier z.T. deutlichen Wahlsiege auf Regionalebene vertieft sich weiter das wirtschaftliche Erfolgsnarrativ der BJP und des Chief Minister von Gujarat, Narendra Modi. Dieser baut damit seine Rolle als glaubwürdigen zukünftigen Regierungschef weiter aus. Dem gegenüber steht der INC, der sich zunehmend durch eine Führungskrise auszuzeichnen scheint: Selbst wenn diese Wahlniederlage absehbar war, verstärken die Ergebnisse den Druck auf die Zentralregierung der United Progressive Alliance (UPA)-Koalition und die Kongresspartei enorm. Fünf Monate vor den indischen Parlamentswahlen muss sich die Kongresspartei nunmehr neu aufstellen. Auf der Gegenseite erfährt der BJP-Kandidat für das Amt des Premierministers Narendra Modi eine deutliche Stärkung und Bestätigung des personalisierten Wahlkampfes der BJP, welche sich fast ausschließlich auf den Kandidaten Modi und seine Leistungen beim Aufbau seines Bundesstaates Gujarat („Gujarat-Modell“) konzentriert.

Bis Ende November war offen geblieben, mit welcher Intensität die Spitzenkandidaten der beiden größten Parteien, INC und BJP, in den Vorwahlveranstaltungen zu den Wahlen in Delhi präsent sein würden. In den Augen vieler Beobachter hat die INC-Führung im Vorwahlkampf von Delhi das Feld zu früh für die BJP-Wahlauftritte von Narendra Modi geräumt, um zeitgleiche Auftritte der INC-Vorsitzenden Sonia Gandhi, ihrem Sohn und Nachwuchshoffnung Rahul Gandhi sowie von Premierminster Manmohan Singh zu vermeiden. Modi hatte diese Defensivtaktik ausgenutzt und wie am 30. November, als Premierminister Singh seinen Auftritt für die INC-Kandidatin Sheila Dikshit kurzerhand absagte, spontan zusätzliche Auftritte anberaumt.

Die Wahlergebnisse sowie von Medien und NRO veröffentlichte Umfragen zu aktuellen Beliebtheitswerten der Parteien spiegeln überwiegend das Wahlverhalten der urbanen Wählerschichten wider. Dagegen haben die Kongresspartei und die Gandhi-Nehru-Familie traditionell starken Rückhalt in den ländlichen Wahlkreisen. Diese versuchten die INC-geführte Regierung auch in den letzten Monaten mit einer Food Security Bill, einem staatlichen Ernährungs-Subventionsprogramm, welches maßgeblich auf Sonia Gandhi zurückgeht, für sich zu gewinnen. Entsprechend lässt sich das Wählerverhalten auf dem Land nur schwer voraussagen; hier könnte der INC jedoch bei den kommenden Parlamentswahlen erneut punkten.

Die Wahlen von Delhi führten exemplarisch vor Augen, dass der gegen die Regierungskoalition UPA gerichtete „Anti-Establishment“-Ansatz im Wahlkampf von BJP und AAP bei einer Mehrheit der urbanen Wählerschichten positiv aufgenommen wurde. Das stagnierende Wirtschaftswachstum, eine hohe Inflation, eine Paralyse des politischen Systems, die Energieversorgungskrise und wachsende Unsicherheiten angesichts sicherheitspolitischer Herausforderungen in der Region und im Inneren haben zu einer landesweiten Krisenwahrnehmung geführt. Dies korrespondiert mit dem Versprechen eines „Wandels“ (gegen Korruption, die dynastische Parteienherrschaft und Amtsmissbrauch), wie er im Wahlkampf von Delhi zu vernehmen war. Insgesamt formiert sich so ein wachsender Unmut gegenüber der Regierung.

Auch außenpolitisch könnten die Wahlergebnisse, die in den indischen Medien bereits als „Halbfinale“ zu den Parlamentswahlen im Mai 2014 bezeichnet werden, Auswirkungen haben: Anstehende Annäherungsinitiativen mit Pakistan, wie beispielsweise ein Besuch von Premierminister Singh in Islamabad sowie die vieldiskutierte und geforderte Ratifizierung eines Grenzabkommens mit Bangladesh werden nun zusätzlich erschwert, da das schwache Wahlabschneiden die Legitimität der INC-Regierung untergräbt. In der Vorwoche der Wahlen ließ der pakistanische Premierminister Nawaz Sharif bereits verlauten, dass seine Regierung jedes demokratische Wahlergebnis des indischen Volkes akzeptieren und auch mit einem gewählten indischen Regierungschef Narendra Modi, dessen Rolle als Chief Minister während der Ausschreitungen gegen die Muslime von Gujarat 2001 und 2002 noch nicht vollständig aufgearbeitet ist, verhandeln werde.

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