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Veranstaltungsberichte

Der jüdische Beitrag zum europäischen Integrationsprojekt

von Michael Mertes

Ergebnisse eines internationalen Workshops an der Ben-Gurion-Universität des Negev

Am 7. Mai 2013 – zwischen den Europatagen des Europarates (5.Mai) und der EU (9. Mai) – veranstalteten die KAS Israel und das Studienzentrum für europäische Politik und Gesellschaft an der Ben-Gurion-Universität des Negev (BGU) einen internationalen Workshop über den jüdischen Beitrag zum europäischen Integrationsprojekt. Das Thema wurde in allen seinen zeitlichen Dimensionen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – erörtert. Deutlich wurde dabei, wie sehr Europa und Israel aufeinander bezogen sind.

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Eröffnet wurde der Workshop von Dr. Sharon Pardo, dem Leiter des Studienzentrums für europäische Politik und Gesellschaft an der Ben-Gurion-Universität des Negev. Er zitierte aus einer Rede, die der tschechisch-französische Schriftsteller Milan Kundera 1985 in Jerusalem gehalten hatte: „Da die Juden selbst nach der tragischen Enttäuschung, die sie in Europa erfahren haben, diesem europäischen Weltbürgertum treu geblieben sind, taucht Israel, ihre kleine, endlich wiedergefundene Heimat, vor mir wie das wahre Herz Europas auf, ein seltsames Herz außerhalb des Körpers.“

Mithilfe dieses Zitats umriss Pardo das Themenspektrum des Workshops, der die jüdischen Hoffnungen und Enttäuschungen im Blick auf Europa ebenso zum Gegenstand haben sollte wie die erfolgreiche und schwierige Nachbarschaft zwischen Israel und der EU.

Das erste Panel unter der Leitung von Harold Paisner, dem Präsidenten der BGU-Stiftung, galt zwei herausragenden deutsch-jüdischen Persönlichkeiten, die auf sehr unterschiedliche Weise das moderne Europa durch ihre Visionen und Überzeugungen mitgeprägt haben: Walther Rathenau (geboren 1867, von Rechtsextremisten in Berlin ermordet am 24. Juni 1922) und Fritz Bauer (geboren 1903, gestorben in Frankfurt a.M. 1968).

Botschafter a.D. Dr. Hubertus von Morr portraitierte Walther Rathenau als Industriellen und Schriftsteller, liberalen Politiker und Intellektuellen von europäischem Rang. Die Familie Rathenau habe den enormen Aufschwung in Wirtschaft und Wissenschaft mitgefördert, der das noch junge, seit 1871 bestehende Deutsche Reich innerhalb weniger Jahre und Jahrzehnte in den Rang einer weltweit angesehenen Großmacht katapultierte.

Rathenau habe grenzüberschreitend gedacht und – vergleichbar mit den Repräsentanten der Londoner Bloomsbury-Gruppe – Brücken zwischen den wirtschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen Eliten seiner Zeit gebaut. Als Beispiel nannte v. Morr die Begegnung Rathenaus mit André Gide in Colpach.

Vor allem arbeitete v. Morr heraus, dass Rathenau schon lange vor seiner allzu kurzen Amtszeit als Reichsaußenminister zukunftsweisende Modelle für die Integration Europas entwickelt habe. In vieler Hinsicht sei der Schuman-Plan nach 1945 bereits vor 1914 von Rathenau vorweggenommen worden. Das gelte sowohl für die geographische Dimension der ursprünglichen europäischen Gemeinschaft als auch für die Grundannahme, dass wirtschaftliche Integration den Prozess der politischen Integration vorantreiben werde. „Die Wirtschaft ist unser Schicksal“ sei Rathenaus anti-ideologisches Credo gewesen – heute sei diese Erkenntnis zur wahlpolitischen Devise „It’s the economy, stupid!“ verkümmert.

Es gehöre zur Tragik dieses von Rechtsextremisten nach dem Ersten Weltkrieg als „Erfüllungspolitiker“ denunzierten deutschen Patrioten, dass er seiner Zeit weit voraus gewesen sei. Er habe Deutschland und Europa vor den großen Katastrophen bewahren wollen, die er mit erstaunlich klarem Blick heraufdämmern sah.

Franco Burgio von der Europäischen Kommission, Brüssel, würdigte den sozialdemokratischen Richter und Staatsanwalt Fritz Bauer als einen Juristen, der 1949 bewusst in die Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt sei, um seinen Landsleuten zu zeigen, dass Rechtsstaatlichkeit sich mit Untertanengeist nicht vertrage.

Als Ankläger im „Remer-Prozess“ 1952 habe er erreicht, dass das Handeln der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 von der Justiz als rechtmäßig anerkannt wurde, weil der NS-Staat „kein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat“ gewesen sei.

Als Ankläger im Frankfurter „Auschwitz-Prozess“ 1963 habe er Gericht und Öffentlichkeit davon überzeugt, dass die SS-Besatzung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz sich nicht zu ihrer Verteidigung darauf berufen konnte, sie habe „nur Befehle ausgeführt“. Ein verbrecherischer Befehl sei rechtlich ungültig. Die Überzeugung, dass es übergeordnete Rechtsnormen gebe, an denen sich staatliches Handeln messen lassen müsse, sei ein Grundgedanke der europäischen Integration.

Im Anschluss an diesen Vortrag sprach Michael Mertes, Leiter der KAS Israel, über die Bedeutung der Shoah für das europäische Integrationsprojekt. Mit Bezug auf Franco Burgio hob er hervor, dass große Strafverfahren wie die Nürnberger Prozesse oder der Eichmann-Prozess in Jerusalem das Bewusstsein für die Existenz von Rechtsnormen oberhalb der nationalstaatlichen Ebene geschärft hätten.

Gleichwohl hätten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten – bis Ende der 1980er Jahre – der Krieg und die Absage an den Nationalismus im Zentrum europäischer Erinnerungs- und Geschichtspolitik gestanden. „Europa“ sei als Gegenprogramm zum zerstörerischen Souveränitätsfetischismus der europäischen Nationen konzipiert und legitimiert worden. In dieser Zeit habe sich in Deutschland die Überzeugung durchsetzen können, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung auch für das besiegte Deutschland gewesen sei.

Erst seit den 1990er Jahren sei die Shoah als eine vom Krieg zwar nicht losgelöste, aber doch zu unterscheidende Katastrophe in den Vordergrund des europäischen Geschichtsbewusstseins getreten. Allerdings sei Europa heute noch mindestens eine Generation von einem gemeinsamen Geschichtsbild entfernt – und zwar deshalb, weil es noch nicht gelungen sei, die mittel- und osteuropäischen Narrative über die Jahrzehnte von 1945 bis 1989 in eine gemeinsame Erzählung aller Europäer zu integrieren.

Botschafter Andrew Standley, Leiter der EU-Delegation in Israel, sprach in der ersten Nachmittagssitzung über die Beziehungen zwischen der EU und Israel. Es war zugleich eine Bilanz seiner Tätigkeit als EU-Botschafter in Israel, die 2009 begann und im Sommer 2013 enden wird. Standley betonte, das Verhältnis zwischen Israel und der EU sei deutlich enger und besser, als die Berichterstattung in den Medien es gelegentlich vermuten lasse. Zur Begründung verwies er vor allem auf die europäisch-israelischen Wirtschaftsbeziehungen und auf die intensive Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung.

Im Blick auf Bemühungen der EU, den israelisch-palästinensischen Friedensprozess wieder in Gang zu setzen, hob Standley hervor, dass die israelische Siedlungspolitik keineswegs das einzige Hindernis auf dem Weg zu einer Einigung sei; klar sei aber auch, dass der Siedlungsdausbau eine Zwei-Staaten-Lösung immer weiter erschwere und deshalb bei den Europäern, die seit der Erklärung von Venedig 1980 für eine solche Lösung eingetreten seien, auf Unverständnis und Kritik stoße. Die EU verstehe sich als „normative power“, weil ihre gemeinsame Grundlage weder Sprache, Ethnizität oder Religion sein könnten, sondern nur die von allen Europäern geteilten Werte.

Botschafter Alvaro Albacete Perea, Beauftragter der spanischen Regierung für die Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft und zu jüdischen Organisationen, sprach anschließend über die europäische Bedeutung von „Sefarad“. Dieses Wort ist die hebräische Bezeichnung für Spanien – es steht aber auch für ein kulturelles Konzept gedeihlichen Miteinanders von Muslimen, Juden und Christen, wie es auf der Iberischen Halbinsel im Mittelalter lange Zeit herrschte. Endgültig vorbei war dieses Zusammenleben mit dem Abschluss der Reconquista 1492, der Vertreibung der Juden, die sich nicht hatten taufen lassen, aus allen Territorien der spanischen Krone sowie dem Vormarsch der Spanischen Inquisition.

Es gebe heute, so Albacete, in seinem Land ein neues Bewusstsein dafür, wie sehr sich Spanien durch die Verfolgung und Vertreibung der Juden selbst geschadet habe. Zugleich sei man stolz darauf, dass Spanien lange Zeit für ganz Europa ein Modell gelingender kulturell-religiöser Pluralität gewesen sei. Man könne Geschichte natürlich nicht ungeschehen machen, aber die spanische Regierung lege heute großen Wert darauf, die Verbindungen zu jenen sephardischen Juden, in deren Familien über Jahrhunderte hinweg die Erinnerung an die Blütezeit von „Sefarad“ tradiert worden sei, neu zu knüpfen und zu stärken.

Im abschließenden Panel, das von Dr. Sharon Pardo moderiert wurde, ging es um die Entwicklung der europäisch-jüdischen Gemeinschaft nach der Shoah.

Skeptisch über deren Zukunftsaussichten äußerte sich Dr. Dov Maimon vom Jewish People Policy Institute. Die Hoffnungen, dass sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Europa ein europäisches Judentum als dritte Säule neben dem israelischen und dem US-amerikanischen Judentum etablieren könne, hätten sich nicht erfüllt. Israel und Europa, so Maimon, legten den Imperativ „Nie wieder!“ gegensätzlich aus. Das führe zu einer wechselseitigen Entfremdung, durch die die europäischen Juden unter enorme Spannungen gesetzt würden.

Für Israelis stehe im Vordergrund, dass man das eigene Schicksal nie wieder von anderen bestimmen lassen möchte, während für die meisten Europäer die endgültige Absage an Krieg als Mittel der Politik entscheidend sei. Israelische Identität definiere sich national und religiös, während Europa sich zunehmend als postnational und postreligiös verstehe. Während Israelis den Akzent auf kollektive Selbstbestimmung setzten, betonten die Europäer den Vorrang der individuellen Menschenrechte.

Europa stelle die europäischen Juden vor eine unmögliche Wahl: entweder sich zu assimilieren um den Preis, dass die ihre kollektive Identität aufgäben – oder ihre kollektive Identität zu bewahren um den Preis, dass sie mehr und mehr zum Fremdkörper würden.

Dr. Shlomo Shpiro vom Argov Center for the Study of Israel an der Bar Ilan-Universität stellte am Beispiel der (west)deutsch-israelischen Geheimdienst- und Militärzusammenarbeit in den 1950er Jahren dar, welche – vor den Augen der Öffentlichkeit verborgene – Bedeutung Israelis deutscher Herkunft für die Annäherung zwischen dem jungen Staat Israel und der jungen Bundesrepublik hatten.

Für Israel sei es um die Sicherung der eigenen Existenz gegangen; deshalb sei es den Vertretern des jüdischen Staates akzeptabel erschienen, mit deutschen Partnern zusammenzuarbeiten, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs dem NS-Regime gedient hätten. Von der (west)deutsch-israelischen Zusammenarbeit hätten beide Seiten profitiert – die Bundesrepublik nicht zuletzt dadurch, dass sie auf diese Weise geheimdienstliche Informationen erhielt, die ihr von den Nachrichtendiensten ehemaliger Kriegsgegner im Westen vorenthalten wurden.

Unter den politischen Akteuren auf (west)deutscher Seite nannte Shpiro Franz Josef Strauß und Konrad Adenauer. Adenauer sei es natürlich immer auch darum gegangen, Deutschland in die Völkergemeinschaft zurückzuführen. Er habe aber zugleich aus einem genuin moralischen Impetus heraus gehandelt – namentlich bei den Regelungen zur Wiedergutmachung Anfang der 1950er Jahre, gegen die es im Deutschen Bundestag viel Widerstand gegeben habe.

Mit der Bekämpfung des Antisemitismus durch die EU befasste sich András Baneth von der European Training Academy. Er stellte dabei sowohl die in diesem Zusammenhang einschlägigen Normen (z.B. das „Exkommunikationsverfahren“ nach Art. 7 des Vertrages über die Europäische Union) als auch die zuständigen Institutionen (z.B. die Wiener Agentur der Europäischen Union für Grundrechte – FRA, European Union Agency for Fundamental Rights –) vor. Auch die Rolle des Straßburger Europarates kam zu Sprache, vor allem die Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, Venice Commission).

Baneth warnte davor – nicht zuletzt im Blick auf Ungarn, sein eigenes Heimatland –, die rechtlichen und institutionellen Möglichkeiten Europas im Kampf gegen Antisemitismus zu überschätzen. Letzten Endes komme es darauf an, dass die Immunkräfte in den einzelnen Gesellschaften gestärkt würden. Der Staat könne dazu durch das Bildungssystem einen wesentlichen Beitrag leisten.

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