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Veranstaltungsberichte

Neu bedacht: Orientalismus vs. Okzidentalismus

Am 1. November 2012 veranstalte die Konrad-Adenauer-Stiftung in Kooperation mit dem Center for the Study of European Politics and Society an der Ben-Gurion Universität in Be’er Sheva einen Experten-Workshop zum Thema „Neu bedacht: Orientalismus vs. Okzidentalismus“. Wissenschaftler aus Israel, Deutschland und Italien erörterten die Entwicklungen der vergangenen Jahre und untersuchten die Frage, welche Spuren der Arabische Frühling in der Wahrnehmung des „Orients“ hinterlassen hat.

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Das Konzept des Orientalismus

Michael Mertes, Leiter der KAS Israel, eröffnete die Veranstaltung im Konrad-Adenauer-Konferenzzentrum in Jerusalem und betonte die Bedeutung eines offenen und vorurteilsfreien Austauschs zwischen „Morgenland“ und „Abendland“.

Edward Said hatte in seinem viel beachteten Werk „Orientalism“ aus dem Jahre 1978 die These vertreten, dass der Orient innerhalb des intellektuellen Diskurses in Europa als rückständig, exotisch und unzivilisiert dargestellt werde. Ein solches Bild des Orients diene der Abgrenzung und sei geprägt von Dominanzvorstellungen und Herrschaftsansprüchen. Said stützte sein Werk primär auf französische und englische Quellen des 18. Jahrhunderts.

Prof. Tobias Schumacher bemängelte, dass die Auseinandersetzung mit Saids Thesen abgenommen habe und keine bedeutende Rolle in der akademischen Welt mehr spiele. Die islamistischen Organisationen, die im Zuge der Umbrüche der arabischen Welt immer mehr an Bedeutung gewönnen, würden in den westlichen Medien oftmals verzerrt dargestellt. Daher sei eine akademische Auseinandersetzung unerlässlich. Prof. Schumacher behandelte in seinem Vortrag auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU hinsichtlich des Arabischen Frühlings. Dabei stellte er zunächst fest, dass europäische Außenpolitik für sich in Anspruch nehme, auf gemeinsamen Werten zu beruhen. Die europäischen Akteure sprächen gleichwohl nicht mit einer Stimme, sondern seien in ihren jeweiligen Handlungen von nationalen Interessen dominiert. Als wirksamstes Instrument zur Durchsetzung europäischer Außenpolitik identifizierte er Wirtschaftssanktionen. Von dieser Möglichkeit einer „negativen Konditionierung“ habe die EU während des Arabischen Frühlings jedoch keinen Gebrauch gemacht.

Auch Prof. Raffaela A. Del Sarto beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der Rolle der EU als „normative Macht“. Dabei konzentrierte sie sich auf die Auswirkungen der Unruhen in der arabischen Welt auf die südlichen Grenzregionen Europas. Sie stellte fest, dass die EU ihre Normen und Regeln vor allem in Form von Ausbildung lokaler Beamter exportiere. Hiermit grenze sie sich von anderen „Imperien“ ab, welche ihre Interessen vornehmlich militärisch durchgesetzt hätten.

Das Christentum als Vermittler zwischen Morgenland und Abendland?

Bruder Nikodemus Schnabel OSB, Direktor der Görres-Gesellschaft in Jerusalem, zeigte den Teilnehmern eine gänzlich andere Perspektive auf. Er beschäftigte sich mit der Frage, ob das Christentum im Nahen Osten eine Vermittlerrolle einnehmen könne. Das Christentum erscheine wie geschaffen als Brücke zwischen „Orient und Okzident“, da es in seiner Theologie doch „Jerusalem“ (die Hebräische Bibel und die Weisheit des Alten Orients) und „Athen“ (die Vernunftorientierung der griechischen Philosophie und Gedankenwelt) miteinander vereinige. Das Christentum sei unvorstellbar ohne die großen Theologieschulen und Kirchenväter der heutigen arabischen Welt – oder ohne die großen Synoden, theologischen Denker und Märtyrer des heutigen Europas.

Dennoch scheine das Christentum mit dieser Brückenfunktion überfordert zu sein. Einerseits würden die Christen der arabischen Welt von den Christen der westlichen Hemisphäre als „archaische, rückständige, vor-aufklärerische Fremdwesen“ angesehen, andererseits würden die arabischen Christen von ihren muslimischen Mitbürgern aufgrund ihres westlichen Lebensstils und ihrer Verbindung zu den Christen der westlichen Hemisphäre mit Argwohn betrachtet. Pointiert fasste Bruder Nikodemus zusammen, dass die arabischen Christen für den Westen nicht westlich genug seien und für die arabisch-islamische Welt nicht hinreichend arabisch. Die Herausforderungen der Zukunft lägen nicht so sehr auf arabischer, sondern eher auf europäischer Seite: Das so genannte „christliche Abendland“ müsse sich wieder stärker seiner Wurzeln im Orient bewusst werden und lernen, sich mit beiden Traditionen – der abendländischen wie der morgenländischen – zu identifizieren. So könne das westliche Christentum nicht nur eurozentrische Stereotype aufbrechen und das östliche Christentum als bereicherndes und ergänzendes Korrektiv neu entdecken, sondern darüber hinaus würde der Islam in seiner Gedanken- und Glaubenswelt für die Europäer viel von seiner Fremdheit verlieren.

Die Muslimbrüder

Prof. Yoram Meital, Vorsitzender des Chaim Herzog Centers für Nahoststudien und Diplomatie der Ben Gurion Universität in Be’er Sheva präsentierte in seinem Vortrag die Perspektive der Muslimbrüder. Diese habe sich gewandelt: die Muslimbrüder seien zunehmend auch eine soziale Bewegung, welche die Gesellschaft durch Bildung und soziales Engagement in einer großen Breite durchdrungen habe. Seit die Bruderschaft in Ägypten an der Macht sei, habe eine Anpassung an die politische Realität eingesetzt. Oft klaffen die martialische Rhetorik und die tatsächlichen Handlungen auseinander. So sei sich die Bruderschaft darüber im Klaren, dass eine Aufkündigung des Friedensvertrages mit Israel unkalkulierbare Folgen haben würde. Das ägyptische Militär würde gegen einen solchen Schritt gewiss protestieren, und die dringend benötigten Finanzhilfen aus dem Ausland würden versiegen. Insgesamt resümierte Prof. Meital, dass die Muslimbruderschaft eine einflussreiche, allerdings moderater gewordene Bewegung sei.

Zwischen Europa und dem Nahen Osten: Die Türkei

Prof. Dror Zeevi vom Institut für Nahoststudien der Ben Gurion-Universität hob zunächst die strategische Bedeutung der Partnerschaft zwischen Israel und der Türkei hervor. Seit dem Zwischenfall mit der Gaza-Flottille habe diese allerdings stark gelitten. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches habe die Türkei ihre strategische Ausrichtung neu definieren müssen; nach dem Zerfall der Sowjetunion habe sie erneut vor der Frage gestanden, ob sie sich in Richtung Europas oder der arabischen Welt orientieren wolle.

Auch Prof. Ehud Toledano untersuchte die Frage, ob die Türkei nach ihrem eigenen Selbstverständnis ein Teil Europas oder ein Teil der islamisch geprägten Nahostregion sei. Es habe in dieser Frage immer wieder ein Hin und Her gegeben. Dabei habe nie ernsthaft in Frage gestanden, dass die Türkei als Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses ihre Westorientierung beibehalte. Negative Reaktionen in Europa auf die Perspektive einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Türkei seien allerdings als Zurückweisung interpretiert worden und hätten das Pendel in Richtung islamisch geprägter Nahostregion ausschlagen lassen. Dazu gehörten auch die Annäherungsversuche der Türkei an Syrien und den Iran vor einigen Jahren; Toledano betonte aber, dass solche Pendelausschläge nicht nachhaltig seien. Es sei und bleibe das große Bestreben der Türkei, der Europäischen Union eines Tages beizutreten.

Die Beziehung zu den arabischen Staaten beschrieb Prof. Toledano aufgrund der Vergangenheit des Osmanischen Reiches als nicht unkompliziert – im kollektiven Gedächtnis dieser Länder sei dies eine Zeit der Fremdherrschaft gewesen, und die Türkei werde als Erbin dieser imperialen Macht durchaus zurückhaltend betrachtet, auch wenn viele Araber Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan als vorbildlichen sunnitischen Staatsmann hoch schätzten.

Die Bewegung der Salafisten

Neben der Muslimbruderschaft, die von einigen westlichen Analytikern mittlerweile als „moderat“ eingestuft wird, erstarkte im Zuge der Unruhen in der arabischen Welt auch die Bewegung der Salafisten. Der Salafismus verfolge ein rückwärtsgewandtes Ideal des Islam, welches sich streng an den Zuständen im Mekka des 7. Jahrhunderts orientiere, so Eli al-Sheykh. Im Zentrum der Lehre stünden die Gefährten Mohammads bzw. deren Nachkommen, auf die auch der Begriff Salafisten zurückgeht (as-Salaf as-Salih, „ehrwürdige Vorfahren“). Im Mittelpunkt der angestrebten politischen Ordnung stehe die Durchsetzung der Scharia. Das Verhältnis zu Islamisten, in deren Fokus primär die Politik steht, sei ambivalent. Salafisten würden zu einer starken isolationistischen Haltung neigen, welche eine Abgrenzung vom Islamismus der Moslembrüder einschließe.

Rechtsextremer Populismus und Islamophobie in Europa

Frao Prof. Nonna Mayer von der Sciences Po in Paris befasste sich in ihrem Vortrag mit „Populismus, Islamophobie und neuer Judaeophobie in Frankreich und Europa.“ Sie wählte Frankreich als Beispiel, da es durch seine Kolonialgeschichte sowohl viele muslimische Einwanderer als auch eine große jüdische Gemeinde und eine starke extreme Rechte hat. Mehrere Faktoren hätten das Entstehen von Angst vor dem Islam begünstigt: Die andauernde Wirtschaftskrise, der globale islamistische Terrorismus und die Auswirkungen des Arabischen Frühlings.

Populismus sei stets darauf ausgerichtet, die Ängste der Bürger zu instrumentalisieren, an Emotionen zu appellieren und scheinbar einfache Lösungen zu präsentieren. Weiter konkretisierte Prof. Mayer die Ausprägungen des Populismus im rechten politischen Spektrum. Das Kernelement sei der sogenannte „Nativismus“. Laut diesem Konzept nehmen Anhänger des rechten Populismus ausschließlich „native“ Bewohner einer Nation als gut war, und sämtliche „ausländische Elemente“ als Bedrohung.

Der speziell gegen den Islam gerichtete Populismus sei keine neue Erscheinung, sondern sei schon 1987 nachweisbar. Damals verbreitete eine fremdenfeindliche Partei in Norwegen den so genannten „Mustafa-Brief“ – ein gefälschtes Dokument, in dem ein gewisser Mohammad Mustafa das Bild eines islamisierten Norwegen entwarf. Die Islamophobie habe sich jedoch nach den Anschlägen des 11. September 2001 intensiviert. Neu sei, dass sich populistische Politiker „demokratischer Sprache“ bedienten. So würden Werte wie Meinungsfreiheit, Toleranz und Gleichberechtigung instrumentalisiert, um Parolen gegen den Islam zu legitimieren.

Ferner wandte sich Prof. Mayer dem erstarkten Antisemitismus in Frankreich zu. Dieser gründe sich nicht mehr auf biologistisch-genetische Argumente, sondern auf zunehmend anti-zionistische und israelkritische Einstellungen. Die jüdische Bevölkerung werde als Kollektiv mit erdachten Eigenschaften wahrgenommen, das Individuum rücke in den Hintergrund. Anlass zur Sorge gebe vor allem die Tatsache Fakt, dass anti-islamische und antisemitische Einstellungen gerade in der jungen Bevölkerungsschicht überrepräsentiert seien.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die „Orientalismus“-These weiterhin aktuell ist. Die Wahrnehmung des „Morgenlandes“ als einer aus Sicht des „Abendlandes“ exotischen, fremde und unheimlichen Welt manifestiert sich heute in Vorurteilen vieler „nativer“ Europäer gegenüber Judentum und Islam. Es gehört zu den Zielen der Konrad-Adenauer-Stiftung, durch Förderung des Dialogs zwischen den Zivilgesellschaften der Länder Europas und des Nahen Ostens solche Vorurteile überwinden zu helfen. Der Workshop über „Orientalismus vs. Okzidentalismus“ leistete einen wichtigen Beitrag dazu, die Herausforderungen zu identifizieren, die im Blick auf dieses Ziel zu meistern sind.

Simon Perger und Elena Müller

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