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Veranstaltungsberichte

Religion zwischen Anpassung und Abgrenzung

von Michael Mertes

Die Botschaft des Chanukkah-Festes für den Glauben in der Moderne

Alle monotheistischen Religionen stehen von der Herausforderung, die Balance zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Glauben und Vernunft immer wieder neu zu finden. Das schwächt nicht ihre Identität, sondern stärkt sie. Zu diesem Ergebnis kam ein Seminar, das die KAS Israel gemeinsam mit dem Interreligiösen Koordinierungsrat in Israel (ICCI) am 10. Dezember 2012, am dritten Abend des Chanukkah-Festes, veranstaltete.

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In seiner Begrüßung wies Michael Mertes, Leiter der KAS Israel, auf die enorme politische Bedeutung des Themas hin. Die monotheistischen Glaubensgemeinschaften müssten nicht nur untereinander den Dialog pflegen, sondern sich auch darauf einstellen, dass in einigen Weltgegenden – vor allem in Europa – ein kämpferischer „säkularer Fundamentalismus“ Religion aus dem öffentlichen Raum herausdrängen wolle. Die Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Politik sei eine unaufgebbare Errungenschaft der Moderne. Aber zur Idee der Menschenrechte gehöre eben auch zentral die Religionsfreiheit. Daran sei gerade heute, am Jahrestag der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10. Dezember 1948) mit besonderem Nachdruck zu erinnern.

Rabbiner Dr. Ron Kronish, der Direktor des ICCI, unterstrich die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen seiner Organisation und der KAS Israel. Der interreligiöse Dialog sei ein wichtiger Beitrag zum Frieden im Nahen Osten. Es gehe dabei sowohl um den Respekt vor der Verschiedenheit des anderen als auch um die Erkenntnis gemeinsamer Verantwortung in der Welt.

In seinem Vortrag zum Thema „Die Auseinandersetzung mit Hellenisierung und Säkularismus – damals und heute“ untersuchte Professor Israel Levine, ob es zutreffe, dass das Judentum seine Identität vor allem durch konsequente Abgrenzung von der nichtjüdischen („heidnischen“) Welt behauptet habe, und ob eine Strategie der Abgrenzung sein Überleben in der säkularen Moderne sichere. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Überlebensfähigkeit des Judentums auf zwei Pfeilern ruhe: der Treue zum Einen Gott und dem Festhalten an der Torah auf der einen Seite und der Fähigkeit zur Anpassung an die zeitgenössische Kultur der Umgebung auf der anderen.

Anhand von Passagen aus dem Zweiten Makkabäerbuch sowie anderer Quellen und Zeugnisse wies er nach, dass das Judentum im 2. vorchristlichen Jahrhundert sich sehr wohl für hellenistische Einflüsse geöffnet habe, ohne den Kern seiner Identität aufzugeben. Es liegt nahe, diese Frage gerade an Chanukkah zu untersuchen, denn während dieser achttägigen Festzeit wird an die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem (164 v. Chr., 3597 jüdischer Zeitrechnung) nach dem erfolgreichen Makkabäeraufstand erinnert. Nach Ansicht von Professor Levine taugt dieses Fest gerade nicht als Beleg für die Forderung nach völliger Abgrenzung. Betrachte man den historischen Kontext, dann sehe man vielmehr eine Medaille mit zwei Seiten (die es als archäologisches Fundstück tatsächlich gibt): Auf der einen Seite sieht man hellenistische Symbole und griechische Schriftzeichen, auf der anderen jüdische Symbole und hebräische Schriftzeichen.

Kadi Iyad Zahalka interpretierte die Leitfrage des Abends im Licht des Spannungsverhältnisses zwischen Vernunft und Glauben im Islam. Er erläuterte dies am Beispiel der vom abbasidischen Kalifen al-Ma’mun (Abu Dscha’far Abdallah al-Ma’mun, 786-833, Kalif von Bagdad 813–833) eingerichteten Inquistion (Mihnah). Al-Ma’mun habe mit Gewalt versucht, eine von der griechischen Philosophie inspirierte, eher rationalistische Auffassung vom Koran durchzusetzen, und in diesem Sinne die Lehre von der Zeitlichkeit und Erschaffenheit des Korans zur Staatsdoktrin erklärt.

Die Vertreter der Auffassung, der Koran sei das ewige und unerschaffene Wort Gottes, seien systematisch verfolgt worden. Al-Ma’mun habe den berühmtesten Vertreter der Lehre von der Unerschaffenheit des Korans, Ahmad ibn Hanbal, vor die Mihnah zitieren lassen. Hanbal habe sich jedoch auch durch Einkerkerung und Misshandlungen nicht von seiner Überzeugung abbringen lassen. Dadurch sei er zu einem der Väter der Salafiyya geworden, denn seine Auffassung sei die heute im sunnitischen Islam vorherrschende Theologie. Die Mihnah war nur 15 Jahre lang, von 833 bis 848 tätig. Ihr Ende markierte das Scheitern des Anspruchs der abbasidischen Kalifen, über Fragen der Rechtgläubigkeit entscheiden zu können und zu dürfen.

Kadi Zahalka erläuterte, dass der Streit über das Wesen des Korans bis heute im sunnitischen Islam weiterlebe. Der traditionalistischen („salafistischen“ oder „hanbalitischen“) Richtung stehe die Auffassung gegenüber, dass es keinen Widerspruch zwischen Koran und Moderne gebe; vielmehr dürfe der Koran im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und gesellschaftlich-kultureller Veränderungen zeitgemäß gedeutet werden. Die innenpolitischen Auseinandersetzungen in Ägypten könne man auch als Ausdruck der Auseinandersetzung des Islam mit der (westlichen) Moderne interpretieren.

An dieses Fazit schloss Reverend Samuel Fanous mit der Bemerkung an, der Glaube dürfe sich nicht einmauern, er müsse „das Fenster zur Welt“ öffnen. Die Öffnung zur Gegenwart sei keine Bedrohung, sondern eine Chance zur Bereicherung. Nach christlicher Auffassung gelte der Gedanke des Apostels Paulus „Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1 Thess. 5,21). Man dürfe man die Öffnung zur Gegenwart nicht als Aufforderung zur Assimilation missverstehen. Pluralismus sei etwas Gutes, aber es sei noch nie jemand bereit gewesen, für den Pluralismus sein Leben zu opfern.

Die Grenzziehung zwischen Staat und Kirche (Staat und Synagoge, Staat und Moschee) dürfe niemals verwischt werden. Als das Christentum nach der konstantinischen Wende Staatsreligion geworden sei, habe es damit begonnen, anderen Glaubensgemeinschaften immer wieder jenes Martyrium zuzufügen, das es in der Zeit davor selbst habe erdulden müssen. Als „Märtyrer“ bezeichnete Reverend Fanous alle Menschen, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden, gleich um welchen Glauben es sich handelt. Er wandte sich jedoch gegen eine doktrinäre Auffassung von Glauben und erläuterte dies am Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Die Hinwendung zum leidenden Nächsten sei ein Gebot des Herzens, das auch ohne lange theologische Traktate unmittelbar einleuchte.

Die anschließende Diskussion zeugte von einem lebhaften Interesse im erfreulich großen Publikum. Unter anderem wurde die Frage nach der definitorischen Abgrenzung von Salafisten, Wahhabiten und Muslimbrüdern gestellt und erörtert. Ein Teilnehmer meinte, es bestehe ein gemeinsames Interesse aller drei monotheistischen Religionen, der zunehmend religionsfeindlichen Atmosphäre in säkularisierten Gesellschaften Hand in Hand entgegenzutreten, ohne zugleich die Trennung von Staat und Religion aufzugeben. Ein anderer Teilnehmer regte an, dass bei der nächsten interreligiösen Dialogveranstaltung auch ein säkularer Redner auftreten sollte, der den Standpunkt des Agnostizismus oder Atheismus vertrete.

Die überaus positive Resonanz nach dem Ende der Veranstaltung zeigte, dass das Thema des Seminars und die Thesen der Referenten „einen Nerv getroffen“ hatten. Die politisch höchst brisante Frage nach der Überlebensfähigkeit und der Rolle von Religion in einer säkularisierten Welt soll in künftigen Veranstaltungen vertiefend behandelt werden.

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