Es mangelt nicht am Willen
„Die politische Bildung der Jugend ist generell schlecht. Ichschätze, nur etwa 20 Prozent der Jugendlichen sind politisch informiert“, sagt Bilguun D. Der studierte Logistikmanager leidet seit seiner Geburt an Parese und nahm dieses Jahr am KAS Community Advocacy Program (KASCAP) teil. Seit 2020 fördert das Public Policy Impact Program die politische Beteiligung junger Menschen mit Behinderung in der Mongolei. Ziel ist es, ihre soziale und politische Teilhabe zu stärken und ihnen Führungskompetenzen zu vermitteln. Eine Woche lang treffen sie sich mit Expertinnen, Experten und Führungskräften aus verschiedenen Bereichen. Dabei tauschen sie Wissen und Erfahrungen aus und knüpfen nachhaltige Netzwerke.
Die fehlende politische Bildung ist jedoch nicht das Ergebnis von Desinteresse an gesellschaftlichem Engagement, betont Bilguun. Eine Umfrage der mongolischen Nationalen Menschenrechtskommission aus dem Jahr 2023 bestätigt seine Einschätzung. Besonders stark ist das Interesse bei den 18- bis 35-jährigen Menschen mit Behinderung. 85,7 Prozent der Befragten nahmen an der Parlamentswahl 2020 teil, 84,1 Prozent an den Kommunalwahlen im selben Jahr und 84,7 Prozent an der Präsidentschaftswahl 2021.
Diese hohe Beteiligung ist auch auf staatliche Bemühungen zurückzuführen, den Wahlprozess für Menschen mit Beeinträchtigung zugänglicher zu machen. Bei den Parlamentswahlen 2024 wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen: Stimmzettel in Blindenschrift, Vergrößerungsgläser in Wahlkabinen und besser zugängliche Wahllokale. Diese Schritte sollen die Wahlbeteiligung erhöhen und eine geheime, freie Stimmabgabe ermöglichen. Behinderte Menschen, die kein Wahllokal aufsuchen können, werden von mobilen Wahlkommissionen besucht und können von zuhause aus wählen.
Trotz der ergriffenen Maßnahmen gibt es weiterhin viele Herausforderungen. Die freie und geheime Stimmabgabe bleibt eine zentrale Schwierigkeit für Menschen mit Behinderung. Bei der Präsidentschaftswahl 2021 gaben 90 Prozent der Befragten an, dass sie ohne Unterstützung nicht hätten wählen können. Besonders für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung fehlt ein klarer rechtlicher Rahmen, der den Einfluss von Betreuern einschränkt.
In vielen Wahllokalen war die Barrierefreiheit bei den Parlamentswahlen unzureichend, nicht selten fehlten die notwendigen Vorrichtungen für Wähler mit einer Behinderung. Die Nationale Menschenrechtskommission kritisiert zudem, dass das Gesetz zwar für landesweite Wahlen barrierefreie Kabinen und Informationsanzeigen vorschreibt, dies jedoch bei Kommunalwahlen nicht der Fall ist. Dies senkt die ohnehin niedrige Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen weiter und führt zu einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung forderte bereits 2023 eine bessere Umsetzung des Übereinkommens, das das Recht auf Unterstützung bei Wahlen garantiert. Doch bis heute ist es in der mongolischen Gesetzgebung nur unzureichend verankert.
Fehlende Barrierefreiheit begünstigt die Isolation
Ein weiteres großes Hindernis ist die fehlende Barrierefreiheit und die teils katastrophale Infrastruktur, besonders für Fußgänger. „Die schlechte Infrastruktur ist einer der größten Faktoren, die unsere Teilnahme einschränken“, erklärt Bilguun. „Treppen sind ein gutes Beispiel. Für Menschen mit einer Gehbehinderung sind sie oft unüberwindbare Hindernisse. Es ist unrealistisch, alle Treppen durch Rampen zu ersetzen. Das Hauptproblem ist, dass viele Treppen zu steil und ohne Handlauf gebaut sind.“ Dies gefährdet nicht nur behinderte Menschen, sondern generell alle Menschen, die sich im öffentlichen Raum bewegen. Normen und Standards sollten die Interessen aller schützen und die besten Lösungen bieten. Diese müssen in der Mongolei konsequent eingeführt und überwacht werden.
Herr Darkhiihuu, Leiter der NGO „Center for Independent Living of Arkhangai Province“ und Teilnehmer des KASCAP-Programms, stimmt Bilguun zu. Er leidet ebenfalls an Parese und engagiert sich aktiv im gesellschaftlichen Leben. In letzter Zeit hat er an vielen Schulungen und Aktivitäten teilgenommen, deren Zahl gestiegen ist. Dennoch sieht er, dass schlechte Straßen und fehlende Infrastruktur ein großes Hindernis für die selbständige Teilnahme an sozialen Aktivitäten darstellen.
Der mangelnde oder eingeschränkte Zugang zum öffentlichen Raum führt zur Diskriminierung eines erheblichen Teils der mongolischen Bevölkerung. Nach Angaben des Nationalen Statistikausschusses lebten Ende 2023 in der Mongolei 111.200 Menschen mit Behinderung, was etwa 3,1 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Diese im Vergleich zu Ländern wie Deutschland oder Österreich niedrige Quote lässt vermuten, dass die staatliche Statistik von der tatsächlichen Lebensrealität abweichen könnte.
Um die Lebensqualität und Teilhabe dieser Menschen zu verbessern, hat die Mongolei in den letzten Jahren ihre Gesetze reformiert und neue Strukturen geschaffen. Ein wichtiger Schritt war die Verabschiedung des Gesetzes über die Rechte von Menschen mit Behinderung im Jahr 2016, gefolgt von der Einrichtung der Generaldirektion für ihre Entwicklung im Jahr 2018. In mehreren Provinzen wurden zudem spezielle Entwicklungszentren eröffnet.
Trotz dieser Fortschritte bleibt die Situation ernüchternd: Menschen mit Behinderung gehören weiterhin zu den am stärksten isolierten Gruppen der Gesellschaft. Eine Studie des Instituts für Philosophie der Akademie der Wissenschaften aus dem Jahr 2023 zeigt, dass ihre Isolationsrate bei 42,9 Prozent liegt – 23,3 Prozentpunkte höher als bei Menschen ohne Behinderung im selben Haushalt und 28,1 Prozentpunkte über dem Durchschnitt anderer Bevölkerungsgruppen.
Ungeachtet der Unterzeichnung internationaler Abkommen durch die Mongolei, die die Rechte von Menschen mit Behinderung schützen sollen, zeigt die Praxis ein anderes Bild. Viele können noch immer nicht gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Die rechtlichen Grundlagen sind zwar vorhanden, doch fehlt es oft an der praktischen Umsetzung und den notwendigen Ressourcen, um echte Inklusion zu gewährleisten.
Repräsentation im Parlament als Allheilmittel
Ein Lösungsansatz der mongolischen Regierung besteht darin, den Anteil von Menschen mit Behinderung im Parlament zu erhöhen. In den Beratungen zur Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung wurden Empfehlungen ausgesprochen, die Gesetzeslage zu ändern und besondere Maßnahmen zur Förderung ihrer politischen Teilhabe zu ergreifen. Besonders hervorgehoben wurde die Unterstützung von Menschen mit Hör-, Seh- und geistiger Beeinträchtigung sowie die Förderung von Kandidaten kleinerer Parteien, die ebenfalls eine Behinderung haben.
Bei den diesjährigen Parlamentswahlen wurden durch die jüngsten Verfassungsänderungen erstmals 126 Abgeordnete gewählt. Es wurde erwartet, dass die Vertretung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen im Parlament zunimmt. 78 Abgeordnete wurden durch das Mehrheitswahlrecht und 48 durch das Verhältniswahlrecht gewählt. Die regierende Mongolische Volkspartei (MPP) setzte ein Zeichen, indem sie O. Saranchuluun, die gehbeeinträchtigte Geschäftsführerin der NGO Akhilis Mongolia, auf Platz vier ihrer Liste platzierte. Die Demokratische Partei (DP) nominierte J. Bayasgalan, einen im Rollstuhl sitzenden Schauspieler, auf Platz sieben. Beide schafften den Einzug ins Parlament und sind damit die ersten Menschen mit Behinderung in der mongolischen Legislative.
Die Motivation hinter der Nominierung könnte nicht uneigennützig gewesen sein. Das 2023 verabschiedete Parteiengesetz sieht eine erhöhte finanzielle Unterstützung für Parteien vor, die behinderte Menschen erfolgreich ins Parlament bringen. Leider schafften es viele der Empfehlungen zur Förderung des politischen Engagements von Menschen mit Behinderung nicht ins Gesetz. Dazu gehört auch die Verpflichtung, 20 Prozent der staatlichen Fördermittel für die Stärkung besonders vulnerabler Gruppen auszugeben. Ebenso fehlen klare Bestimmungen zur Unterstützung von diesen Menschen, die für sogenannte „kleine“ Parteien kandidieren.
Die Wirkung der zahlreichen Gesetze und Richtlinien zur Unterstützung der politischen Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung, einschließlich Regelungen zum Wahlrecht, bleibt hinter den Erwartungen zurück. Es fehlt an einem System, das die Umsetzung überwacht und Verantwortliche bei Nichteinhaltung zur Rechenschaft zieht. Oft bleiben die Maßnahmen politischer Parteien zur Förderung der Teilhabe rein symbolisch und hängen stark von der Initiative einzelner Führungspersonen oder einflussreicher Politiker ab. Letztlich bleibt die Kandidatur über Parteilisten die einzige realistische Chance für Menschen mit Behinderung, ins Parlament einzuziehen. Direktmandate bleiben weitgehend unerreichbar.
Direktkandidaturen finanziell nicht stemmbar
Ein Hauptgrund dafür ist die hohe finanzielle Hürde. Allein die gesetzlich erlaubte und von den Parteien erwartete Eigenbeteiligung an den Wahlkampfkosten liegt bei über 300.000 Euro – eine Summe, die für die meisten Menschen mit Behinderung in der Mongolei unerschwinglich ist. Um diesem Problem zu begegnen, empfiehlt der 23. Bericht der Nationalen Menschenrechtskommission verschiedene Unterstützungsmaßnahmen auf allen Wahlebenen. Dazu gehören die Finanzierung von Werbematerialien, barrierefreie Fahrzeuge, Werbeflächen sowie die Bereitstellung von Gebärdensprachdolmetschern und persönlichen Assistenten.
Die Regierung plant, gesetzliche Regelungen für finanzielle Unterstützung, Vergütung und Steuererleichterungen zu schaffen. Angesichts der bisherigen schleppenden Umsetzung bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Pläne tatsächlich realisiert werden.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass die beiden behinderten Parlamentarier ihren Status infolge von Unfällen erlangt haben. Dies schmälert ihre Behinderung und die damit verbundenen täglichen Herausforderungen keineswegs. Ihre berufliche und politische Karriere begann jedoch lange vor den Unfällen, und sie hatten Zugang zu Ressourcen und Möglichkeiten, die den meisten Menschen mit Behinderung in der Mongolei nicht zur Verfügung stehen.
Barrierefreiheit als unerreichbarer „Traum“
Trotz der Zugänglichkeit von Wahllokalen und Abstimmungsprozessen bleibt die politische Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung stark eingeschränkt. Barrierefreie Infrastruktur, zugängliche Transportmittel, umfassende Informationen und ein gleichberechtigter Wettbewerb fehlen weiterhin. Seit 2006 wird über die Schaffung hindernisfreier öffentlicher Räume, Gebäude und Einrichtungen diskutiert. Doch die mangelhafte Umsetzung, fehlende Kontrolle und das Desinteresse großer Teile der Gesellschaft machen die bestehenden Gesetze und Standards weitgehend wirkungslos. Die alltäglichen Hindernisse lassen die gesetzlich zugesicherten Rechte oft wie ein unerreichbarer „Traum“ erscheinen.
Niederreißen von geistigen Barrieren
Ein weiterer Grund für die geringe politische Repräsentation von Menschen mit Behinderung liegt in ihrer Wahrnehmung durch die Gesellschaft. Der Ausschluss aus dem öffentlichen Raum und die daraus resultierende geringe Sichtbarkeit führen dazu, dass viele Menschen in der Mongolei kaum Erfahrungen mit Beeinträchtigten sammeln können. Dies verstärkt die Entstehung von Vorurteilen.
Oft zweifeln Menschen an den geistigen Fähigkeiten körperlich behinderter Personen. Dieser Zweifel, kombiniert mit dem Gefühl eines Mangels an politischem Wissen und praktischen Erfahrungen bei den Betroffenen, führt häufig zu fehlendem Selbstvertrauen. Doch genau dieses Selbstvertrauen ist entscheidend für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben. Um diese Unsicherheit zu überwinden und politisch aktiv zu werden, entschied sich Herr Bilgun für die Teilnahme am KASCAP-Programm.
Dieses Programm stärkt das Selbstvertrauen von Menschen mit Behinderung, indem es Wissen, Erfahrung und Netzwerke vermittelt. Es zeigt auf, dass eine Überwindung der bestehenden Missstände nur durch die aktive Beteiligung der Betroffenen selbst möglich ist. Ausländische Organisationen wie die KAS können dabei zwar Unterstützung bieten, das eigene Engagement der Beeinträchtigten jedoch nicht ersetzen.
Herr Darkhihu stimmt dem zu. Mit seiner NGO motiviert er andere Menschen mit Behinderung, sich trotz aller Schwierigkeiten politisch zu engagieren. Die Entwicklung der Mongolei, sagt er, hängt von ihrer Beteiligung ab.