Asset-Herausgeber

Veranstaltungsberichte

60. Jahrestag des Volksaufstandes von 1953

Vortrag des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Polen Rüdiger Freiherr von Fritsch

Vortrag des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland in Polen Rüdiger Freiherr von Fritsch im Rahmen der Debattenreihe „Gespräche über Deutschland“ organisiert durch das Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz und die Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen Oppeln, 27. Juni 2013

Asset-Herausgeber

Sehr geehrte Damen und Herren,,

haben Sie herzlichen Dank für die Einladung, heute hier zu sprechen – vor allem aber für Ihr Interesse an einem – genau betrachtet: eigentümlichen - historischen Ereignis, dem Volksaufstand in der DDR von 1953.

Was scheint mir so eigentümlich an diesem Datum? Nun, kaum ein Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte hat vom Mut so vieler gezeugt - und dürfte zugleich so geringe Spuren im nationalen Gedächtnis wie aber auch im politischen Handeln der Deutschen hinterlassen haben, wie eben jener Volksaufstand vom 17. Juni 1953.

Und mehr noch: Geringer noch sind die Spuren jener Erhebung, die man wahrlich zu den bedeutenden Ereignissen auch der europäischen Freiheitsgeschichte rechnen kann, im kollektiven Gedächtnis unseres Kontinents und im Bewusstsein anderer Länder und Völker. Warum ist das so? Mit dieser Frage will ich mich auseinandersetzen, zunächst aber der Frage nachgehen: Was eigentlich ist damals geschehen?

„Arbeiterunruhen in Ost-Berlin“ – so assoziierte man lange Zeit, wenn überhaupt, die Ereignisse jenes Juni-Tages vor 60 Jahren. Heute wissen wir: Bereits dieser verengte Blick auf die Geschehnisse jener Zeit ist ein Erfolg der Ost-Berliner Propaganda gewesen. Dass es in der Hauptstadt Unruhen gegeben hatte, war nicht zu leugnen, schließlich war es vom Westen aus für jeden sichtbar gewesen. Doch was sonst im Lande geschah, ließ sich leicht kaschieren in einer Zeit, die weder Internet noch Fernsehen kannte, und in der es in den sozialistischen Ländern weder ausländische Korrespondenten gab, noch funktionierende Telefonverbindungen.

Die Wahrheit verschwand in den Archiven der Staatssicherheit. Und erst deren Öffnung nach 1989 hat uns einen Blick darauf erlaubt, was 1953 tatsächlich geschehen ist.

Heute wissen wir:

-Der Aufstand vom 17. Juni 1953 erfasste praktisch die gesamte „Sowjetisch Besetzte Zone“ Deutschlands, wie man die DDR damals noch nannte. Von den etwas 18 Millionen Einwohnern, die der ostdeutsche Staat seinerzeit hatte, beteiligten sich, so wissen wir heute, wohl mehr als 1 Million Menschen in mehr als 700 Orten an den Protesten.

-Und in vielen Orten ging der Aufstand wesentlich weiter als in Berlin:

In Bitterfeld, in Halle, in Görlitz übernahmen die Aufständischen zeitweise die Macht. Komitees und Streikleitungen wurden gebildet.

-Der Aufstand war keine spontane Eruption eines Tages: An vielen Orten hatte es seit dem Ende der 40er Jahre Widerstand dagegen gegeben, dass nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland erneut ein totalitäres Regime errichtet wurde. Und so brutal der Aufstand auch niedergeschlagen wurde – er hörte mit dem 17. Juni auch nicht auf. An vielen Orten kam es bis in den Juli hinein zu Arbeitsniederlegungen und Protesten.

-Die Bilder, die man im Westen nach 1953 kannte, waren vom Protest der Arbeiter bestimmt. Doch getragen wurde der Aufstand gleichermaßen von Bauern und Angestellten, von Studenten und Akademikern, ja selbst Angehörige der SED und der Sicherheitskräfte haben sich ihm vereinzelt angeschlossen.

Der Aufstand vom 17 Juni 1953 war ein Aufstand des ganzen Volkes.

Der unmittelbare Auslöser der Volkserhebung war die Tatsache, dass die Arbeitsnormen der Bauarbeiter erhöht worden waren. Faktisch bedeutete dies, dass die Einkommen gesenkt wurden. Dieser Vorgang war der berühmte Funke, der das Pulverfass zur Explosion brachte: Innerhalb weniger Stunden breitete sich die Erhebung im ganzen Lande aus, und seit Jahren angestauter Unmut bahnte sich den Weg des Widerstandes. Die Gründe waren vielfacher Natur: Unterdrückung und Schikanen, Beschränkungen und Bevormundung, religiöse Verfolgung und existentielle Bedrohung.

Was sich ereignete, war eine klassische revolutionäre Erhebung, die keine Anstifter und keine Anführer brauchte, keine ideologischen Vorarbeiten oder Parolen. Was als Protest gegen die Erhöhung von Arbeitsnormen begann, schlug im Nu um in die Forderung nach Freiheit, nach Demokratie – und auch nach nationaler Einheit.

Für die kommunistische Führung war diese Entwicklung hoch gefährlich. Von der ungeheuren Dynamik des Aufstandes, von der massenhaften Beteiligung und der revolutionären Wucht der Bewegung wurde sie restlos überrascht. Beinahe kopflos flüchtete die Ost-Berliner Führung unter den Schutz der sowjetischen Machthaber. Aber nicht nur Ost-Berlin und Moskau traf die Entwicklung restlos unvorbereitet: die Bundesregierung in Bonn und die westlichen Alliierten waren gleichermaßen überrascht.

Im Nu wurde offensichtlich, dass die möglichen Weiterungen der Erhebung unabsehbar waren – in der DDR, aber weit über diese hinaus. Und so griff die Sowjetmacht mit größter Brutalität zum äußersten Mittel: 16 Divisionen wurden in der gesamten DDR eingesetzt, um den Aufstand niederzuschlagen, es gab Schwerverletzte im ganzen Land und Tote, möglicherweise mehr als Hundert. Genau werden wir es wohl nie wissen.

Allein in Berlin werden drei Divisionen mit 20.000 Mann und 600 Panzern eingesetzt, um die freiheitlichen Regungen der Ost-Deutschen zu unterdrücken. 20 Menschen, vielleicht mehr, wurden hingerichtet, unter ihnen auch sowjetische Soldaten, die den Befehl verweigert hatten. In den folgenden sechs Wochen werden 13.000 Menschen verhaftet, viele von ihnen angeklagt und zum Teil zu langen Haftstrafen verurteilt.

Sobald die sozialistische Führung die Geschicke wieder in der Hand hielt, hatte sie auch rasch Erklärungen für das eigentlich Undenkbare parat. Schließlich war der selbsternannten Arbeiterpartei das Schlimmste geschehen, was ihr passieren konnte: Die Arbeiter – und viele andere mehr – hatten sich gegen sie erhoben.

In Polen ist diese schwerste Erschütterung, die Kommunisten passieren konnte, nur allzu vertraut: Arbeiter, die sich gegen die selbsternannte Arbeiterpartei erheben.

Und weil dem nicht sein durfte, war schnell die billigste und zugleich perfideste Erklärung bei der Hand: Es habe sich, so hieß es forthin, um einzelne Taten faschistischer Provokateure gehandelt, die von westlichen Agenten gesteuert worden seien.

Wie absurd die Behauptung war, die Nazi-Hydra erhebe wieder ihr Haupt, zeigt sich an den tatsächlichen Zielen der Aufständischen. Stellvertretend für viele seien hier die Forderungen des Streikkomitees aus Bitterfeld genannt, die es – in der Hoffnung auf Einsicht höheren Ortes! – in einem Telegramm an die Ost-Berliner Führung wie folgt formulierte:

-„Sofortiger Rücktritt der Regierung,

-freie demokratische und direkte Wahlen,

-Öffnung der Zonengrenzen,

-Freilassung der politischen Häftlinge,

-Normalisierung des Lebensstandards,

-Zulassung aller großen demokratischen Parteien Westdeutschlands“.

Es bedarf schon ideologisch besonders verblendeten Denkens, diese Forderungen als faschistische Provokation zu verteufeln.

Wie sehr die Protestierenden darauf bedacht waren, ihre Erhebung friedlich und gewaltfrei zu halten, zeigt sich in einem zweiten Telegramm, das die Bitterfelder ebenfalls am 17. Juni an Wladimir Semjonow schickten, den sowjetischen Hohen Kommissar in Ost-Berlin – und somit eigentlichen Machthaber in der DDR. Darin baten sie ihn - ich zitiere - „alle Maßnahmen, die gegen die Arbeiterschaft gerichtet sind, sofort aufzuheben, damit wir Deutsche wirklich den Glauben in uns behalten können, dass sie tatsächlich der Vertreter einer werktätigen Regierung, ein Freund des Friedens und der Völkerverständigung sind.“ Ende des Zitats.

Es ist leicht, im Rückblick zu sagen, solch ein Verhalten sei naiv oder gar anbiedernd gewesen. Aus der revolutionären Situation jener Stunden heraus belegt es vielmehr ein Höchstmaß an pragmatischem und gewaltfreiem Vorgehen. Man will die Eskalation um jeden Preis vermeiden. Doch die Hoffnung trügt, Zynismus und brutaler Gewalteinsatz ersticken den Protest der Hundertausende im Keim. Und nicht genug, dass man den Menschen die Freiheit verweigerte – man nahm ihnen auch die Ehre: Westliche Agenten seien sie, Faschisten, die darauf zielten, die NS-Diktatur wieder aufleben zu lassen.

Heute, wo wir einen so viel besseren Überblick über das damalige Geschehen haben und Forderungen wie jene der Bitterfelder kennen, wissen wir: Das ganze Gegenteil war wahr: Die Deutschen im Osten hatten es unternommen, den ersten flächendeckenden Aufstand im sozialistischen Machtbereich zu wagen – aus dem Mut der Verzweiflung heraus, aber auch aus dem verzweifelten Wunsch, nicht erneut in Diktatur und Unterdrückung leben zu müssen.

Der 17. Juni 1953 ist in seinen wesentlichen Zielen gescheitert. Dennoch ist sein Beitrag zur deutschen Geschichte unschätzbar: Ein Volk, das noch wenige Jahre zuvor eine Diktatur teils hingenommen, teils aktiv unterstützt hatte, lehnte sich für die Freiheit auf. „Wir wollen freie Menschen sein!“ – so lautete einer wichtigsten Parolen der Aufständischen.

Was diese Erhebung für das Ansehen der Deutschen bedeutete, wurde im westlichen Ausland rasch erkannt. Ich zitiere einen Redner auf einer Massenkundgebung in Paris Anfang Juli 1953: „Die Arbeiter von Ost-Berlin haben Deutschland seine Würde wieder gegeben.“ Und die New York Times urteilte am Tage nach dem Aufstand: „ Wir wissen jetzt, und die Welt weiß es, dass in dem deutschen Volk ein Mut und ein Geist leben, die die Unterdrückung nicht ewig dulden werden.“.

Doch mit diesem großen Erbe sind wir eigentümlich umgegangen – wir Deutsche, aber die Menschen außerhalb Deutschland gleichermaßen.

Ich sagte bereits: Die Verantwortlichen im Westen wurden vom Aufstand genauso überrascht wie jene im Osten. Niemand in Washington, Paris oder London wusste recht, wie mit der Situation umzugehen. Ihr ganzes Bestreben in den Tagen und Wochen nach der Erhebung blieb darauf gerichtet, jegliche Eskalation zu vermeiden, in West-Berlin für Ruhe und Ordnung zu sorgen und Weiterungen in der sowjetisch besetzten Zone zu verhindern. Die Situation zwischen den Blöcken war, in der Realität des Kalten Krieges, angespannt genug und die weitere Entwicklung in der Sowjetunion unmittelbar nach Stalins Tod nur schwer abzuschätzen.

In der Bundesrepublik war die Solidarität mit den Landsleuten im Osten groß, aber letztlich eben ohnmächtig. Doch wurde zumindest alles unternommen, das Geschehene in Erinnerung zu halten. Die Straße westwärts des Brandenburger Tores, das die Teilung Berlins, Deutschlands und der Welt markierte, wurde in „Straße des 17. Juni“ umbenannt – sie heißt so bis heute. Und der Tag selber wurde kurz darauf zum „Tag der Deutschen Einheit“ erklärt. Seither war er für uns Westdeutsche unser nationaler Gedenktag – nicht unser Nationalfeiertag. Denn die Nation, die geteilt war, hatte – so die Überlegung – keinen Grund zu feiern – aber Anlass ihrer Teilung zu gedenken wie jener mutigen Menschen, die sich 1953 im Osten Deutschland erhoben hatten.

Sehr genau erinnere ich mich daran, wie jener Tag in der Schule begangen wurde: Wir erhielten kleine Anstecknadeln mit dem Brandenburger Tor und die Lehrer erklärten uns, was sich 1953 zugetragen hatte. Das war Anfang der 60er Jahre, doch bald darauf verblasste die Erinnerung.

Das hatte weniger mit Zeitablauf zu tun, als mit politischem Wandel.

Im Bemühen, die Konfrontation der Blöcke zu überwinden, begann der Westen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre eine auf Ausgleich und Entspannung angelegte Politik. Diese war richtig und sie hat ihre großen Erfolge gehabt. Denken wir allein daran, dass ohne sie die „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ mit ihren Vereinbarungen von Helsinki nicht zustande gekommen wäre. Diese waren seit 1974 in den sozialistischen Ländern die Berufungsgrundlage für mutige Menschen und ihre Forderungen nach Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Und sie gaben den westlichen Regierungen das Recht, sich einzumischen und sich für jene Menschen einzusetzen.

Aber in eine solche Zeit und politische Entwicklung schien eben ein Gedenken an ein Ereignis nicht mehr zu passen, das nicht für Wandel durch Annäherung stand, sondern für revolutionären Protest und Umbruch.

Im Westen Deutschlands gab es immer mehr Stimmen, die den Aufstand von 1953 als „anti-kommunistisch“ diskreditieren – was genau eigentlich war mit diesem schwammigen Begriff gemeint? Und zwischen den großen Parteien gab es eine hartnäckige Debatte darüber, ob man diesen Gedenktag überhaupt weiter begehen sollte. Zumindest wurde er im Laufe der Jahre durch einen weiteren Tag ergänzt, der nicht an der Idee der Einheit der Nation anknüpfte, sondern an der – unbestreitbaren – Erfolgsgeschichte des westdeutschen Teilstaates. Begangen wurde nunmehr der 23. Mai – der Tag an dem 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet worden war.

Seit 1986 war ich als junger Diplomat an der westdeutschen Botschaft in Warschau im Einsatz. Und wenn wir, wie alle Botschaften, einmal im Jahr einen Nationalempfang gaben, so geschah dies eben am 23. Mai – den 17. Juni zu feiern, hätte einen Affront bedeutet, eine Geste, die nicht im Einklang gestanden hätte mit dem Bemühen um Versöhnung, Annäherung und Ausgleich mit Polen.

Im Rückblick scheint es leicht, sich hierüber moralisch urteilend zu erheben. Doch wir dürfen nicht übersehen, dass die Politik der Bundesrepublik Deutschland damals vor einer mehrfachen Herausforderung stand: Sie wollte zum einen am Ziel der nationalen Einheit festhalten und sich zum anderen auch für jene grundlegenden Freiheits- und Demokratievorstellungen einsetzen, die das Wertefundament unserer Gesellschaft bilden. Dies bedeutete, oppositionelle Bestrebungen in sozialistischen Ländern zu unterstützen. Vor allem aber war die westdeutsche Poltitik auch gefordert, Aussöhnung und Ausgleich zu suchen – in diesem konkreten Fall mit Polen – für von Deutschen begangenes Unrecht und Verbrechen zur Zeit des 2. Weltkrieges. Und dazu musste sie in erster Linie das Gespräch mit der gegenwärtigen Führung suchen, ganz gleich ob diese einem ideologisch passte oder nicht.

Gleichwohl: Im Westen dünnte die Erinnerung an 17. Juni aus den genannten Gründen aus – im Osten war ein Gedenken selbstverständlich stets unmöglich gewesen. Natürlich wurden die Erzählungen an die mutige Erhebung von 1953 an die Jüngeren weitergegeben. Und zu gerne erhob man an jedem 17. Juni abends gemeinsam im Gasthaus demonstrativ und öffentlich das Glas auf das Wohl der Arbeiterklasse. Was hätte die mithörende Staatssicherheit hiergegen schon sagen können?!

Doch mit dieser Erinnerung verband sich für die Deutschen in der DDR eben auch die Erfahrung, dass der Weg der revolutionären Auflehnung gegen den sozialistischen Gewaltapparat und die sowjetischen Panzer sich als schreckliche Sackgasse erwiesen hatte. Nicht nur waren die Freiheitsregungen unterdrück worden, waren Menschen ermordet oder eingesperrt worden, nein, es hatte auch einen ungeheuren Aderlass gegeben: Allein im Jahr 1953 haben mehr als 320.000 Menschen die DDR verlassen. Ließen die Verhältnisse in der DDR sich nicht ändern, so verließen die Menschen eben die DDR. Eine immer grausamere Grenzsicherung und schließlich der Bau der Berliner Mauer 1961 waren die Reaktion der Machthaber hiergegen.

Und so richteten sich die Bemühungen vieler, die sich mit Unfreiheit und Unterdrückung, mit Ungerechtigkeit und totalitärer Arroganz nicht zufrieden geben wollten, auch im Osten Deutschlands zunehmend auf den inneren Wandel, auf die Schaffung einer bessseren DDR. Widerstand und Protest hat es im Osten Deutschlands immer gegeben – doch der mutige Volksaufstand von 1953 war nicht länger Bezugspunkt.

Einer jener Männer, die sich später in der DDR mutig gegen sozialistische Herrschaft auflehnten, ist Joachim Gauck. Ich bekenne, wir Deutschen sind stolz darauf, einen solchen Mann heute als unser Staatsoberhaupt zu haben. In einer Rede, in der er vor wenigen Tagen des sechzigsten Jahrestages des Volksaufstandes in der DDR gedacht hat, hat er sehr offen die Tatsache skizziert, dass und warum die Freiheitsrevolution von 1953 kein Bezugspunkt der Freiheitskämpfer von 1989 war – und er hat beklagt, ich zitiere, dass „wir noch immer weit davon entfernt sind, den 17. Juni mit der gleichen Emphase zu benennen, wie die Tschechen ihren Prager Frühling oder die Polen ihre Solidarność. Auch in diesen Ländern verlor sich in Zeiten der Diktatur so mancher Traum in Enttäuschung, in Repressionen, manchmal sogar in einer Blutspur,“ so hat Joachim Gauck weiter ausgeführt und hinzugefügt: „Und trotzdem sind unsere europäischen Nachbarn voller Selbstbewusstsein, wenn sie ihre Erinnerungen an das Aufbegehren an die nächste Generation weitergeben.“

Polen kann auch hier, so die Botschaft des deutschen Bundespräsidenten, Vorbild für die Deutschen in der Frage sein, wie sie mit einem der großen Daten deutscher und europäischer Freiheitsgeschichte umgehen sollten.

Und zugleich wünschen wir Deutschen uns, dass jenes Datum und das mutige Handeln der Ostdeutschen 1953 in Polen und Europa mehr bekannt wäre. Manche polnische Medien haben den Jahrestag dieser Tage zum Anlass genommen, die Ereignisse von1953 in Erinnerung zu rufen. Hier in Oppeln ist die Präsentation: „Opposition und Widerstand in der DDR“ gezeigt worden.Und in Warschau läuft derzeit eine Ausstellung unter der Überschrift: „Chcemy byc wolni!“,

Als ich mich vor etwas mehr als einem Jahr in Warschau mit polnischen Experten zusammengesetzt habe, um jene Ausstellung anzustoßen, hat einer von ihnen spontan gesagt:

„Sie haben völlig recht, eine solche Ausstellung müssen wir machen – wir wissen viel zu wenig über den Volksaufstand in der DDR.“ Und er hat hinzugefügt: „Wissen Sie, was ich als Historiker zu Zeiten der Volksrepublik darüber gelernt habe? Die Anführer waren alles alte Nazis!“

Die Propaganda der sozialistischen Bruderparteien hat also ganze Arbeit geleistet. Es kann nicht verwundern, dass in Polen vor 1989 genau diese Verleumdung der Aufständischen, die die SED in die Welt gesetzt hatte, übernommen und von der offiziellen Propaganda weiter verbreitet wurde. Und begierig wurde sie durch die Behauptung ergänzt, die Aufständischen hätten die Existenz der polnischen Westgrenze in Frage stellen wollen. Und vor einer solchen Bedrohung konnte das Land bekanntlich nur jene Partei schützen, die im Bunde mit der Sowjetunion war – die PVAP.

Tadeusz Mazowiecki hat bei der Eröffnung der Ausstellung in Warschau vor wenigen Tagen zu recht beklagt, dass in Polen viel zu wenig bekannt ist über dieses deutsche und europäische Freiheitsdatum. Und er hat dazu aufgerufen, sich mehr damit zu beschäftigen.

Ja, wir wissen immer noch zu wenig voneinander, zu wenig über das, was die Menschen dies- und jenseits der Oder erlebt haben, mit welchem historischen Gepäck sie unterwegs sind.

Über die großen Etappen der Geschichte und darüber, wie es dabei um Ursache und Wirkung, um Schuld und Verantwortung bestellt ist, haben wir uns verständigt. Aber wir wissen zu wenig über die Tiefe des Geschehens, über die Wirklichkeit des Alltags im Zweiten Weltkrieg – oder über die unterschiedlichen Erinnerungen, die unsere Großväter uns mitgegeben haben über das Bürgerkriegs-Geschehen in Schlesien Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Und zu oft sind unsere Vorstellungen über den anderen eben auch noch von Stereotypen und Vorurteilen geprägt. Deswegen ist es gut, wenn das deutsche Fernsehen auf die Präsentation eines solchen Fehlurteils – die Darstellung der „Armia Krajowa“ in der Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“ – damit reagiert, dass es den polnischen Botschafter ausführlich zu Wort kommen lässt und dass es überdies anschließend eine ausführliche Dokumentation anfertigt und ausstrahlt.

Und deswegen ist es – ohne die beiden Ereignisse vergleichen zu wollen – beispielsweise auch gut, wenn in Polen der Versuch unternommen wird, sich vom überlieferten Stereotyp zu lösen, die Deutschen seien gar nicht in der Lage, eine revolutionäre Erhebung wie jene von 1953 auf die Beine zu stellen.Und von der Vorstellung, möglicherweise könnte ja etwas dran gewesen sein an der Behauptung, die Anführer jenes Aufstandes – die es im übrigen gar nicht gegeben hat, daran ist der Aufstand ja auch mit gescheitert! – seien faschistische Provokateure gewesen.

Mit den erwähnten Berichten in den polnischen Medien und mit den Ausstellungen hier und in Warschau, mit einem Namensartikel von Joachim Gauck in der „Gazeta Wyborcza“ und mit Veranstaltungen wie der heutigen arbeiten wir gemeinsam daran, die Sicht auf den 17. Juni 1953 auch hierzulande neu auszurichten. Gemeinsam können Deutsche und Polen einer neuen Generation jenen deutschen Volksaufstand zurückholen in die Erinnerung – als einen großen Tag europäischer Freiheitsgeschichte, der die Kette der Auflehnungen begründete, jener Erhebungen, die 1989 unter so großem Anteil Polens im Sieg der europäischen Völker über die Diktatur endeten.

Und was kann, was sollte der 17. Juni heute den Deutschen bedeuten?

Eines auf jeden Fall: Ein Volk, dass eine so oft mit Niederlagen und Irrtümern verbundene Geschichte hat, kennt auch Tage, an die es sich mit Stolz erinnern darf.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit

Asset-Herausgeber

comment-portlet

Asset-Herausgeber

Asset-Herausgeber