Veranstaltungsberichte
Bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Köthen referierte der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Klaus Schroeder über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und dessen Schwerpunkte in Sachsen-Anhalt. Der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin betonte, dass es sich bei dem Geschehen vor 55 Jahren um einen demokratischen Aufstand gehandelt habe, wie es nur wenige Beispiele in der deutschen Geschichte gibt. Erst nach massivem Eingreifen der sowjetischen Streitkräfte wurde die Erhebung niedergeschlagen. Nach wissenschaftlichen Erkenntnisse, vor allem im Zuge des 50. Jahrestages 2003 sowie nach Öffnung der DDR-Archive, ist nun erwiesen, dass es sich keineswegs ausschließlich um einen Arbeiteraufstand gehandelt habe, sondern dass die Erhebungen alle Teile der Bevölkerung umfassten: Etwa eine Million Menschen beteiligten sich in über 700 Orten am Widerstand gegen das SED-Regime.
Schroeder referierte zunächst die Vorgeschichte mit Normerhöhung und Bekanntgabe des „Aufbaus des Sozialismus in der DDR“ sowie letztlich das Umschwenken zum „Neuen Kurs“. Dennoch konnte die SED ihre Herrschaft nicht mehr stabilisieren – zu groß war die Enttäuschung und – angesichts finanzieller Nöte – auch Verzweiflung weiter Teile der Bevölkerung. Am 16. Juni kam es in Berlin zu ersten Arbeitsniederlegungen von Bauarbeitern am Prestigeobjekt „Stalinallee“, am Morgen darauf war das ganze Land von den Unruhen erfasst.
Der Referent sprach auch über Mythen, die sich um den 17. Juni 1953 ringen, etwa um den Einfluss des RIAS. Dieser Rundfunksender agierte keineswegs als „Propaganda- und Hetzorgan“, wie die SED ihrerseits propagierte, sondern weigerte sich sogar, Resolutionen zu verlesen, berichtete freilich über die Ereignisse. Auch das Schicksal von Erna Dorn kam zur Sprache – eine mit einer bereits inhaftierten früheren KZ-Aufseherin verwechselte geistig verwirrte Frau, die ihrerseits in Halle von Aufständigen befreit worden war, was die SED als Beweis für einen „faschistischen Putsch“ auslegte und Erna Dorn in einem Prozess zum Tode verurteilen und hinrichten ließ.
Hinsichtlich der Ereignisse in Sachsen-Anhalt hob Schroeder hervor, dass sich aus den Opferzahlen herauslesen lasse, dass die früheren Bezirke Magdeburg und Halle zu den Hochburgen des Aufstandes gehörten. Etwa die Hälfte aller offiziell bestätigten Todesopfer stammten aus dem heutigen Sachsen-Anhalt. Dabei war Halle neben Berlin der zweitintensivste Schauplatz. Auch Industriestandorte wie Leuna, Bitterfeld, Eisleben und die heutige Landeshauptstadt Magdeburg gehörten zu den bestreikten Orten. Gemeinsam mit André Gursky, dem Leiter der Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale), referierte Schroeder beispiele für den Volksaufstand. So kam es Halle-Ammendorf zum Streik von zunächst 3.000 Lokomotivarbeitern. Diese marschierten in die Innenstadt, fanden Mitstreiter und versuchten, Häftlinge aus dem berüchtigten Gefängnis „Roter Ochse“ zu befreien. Dies gelang allerdings nicht, es kam zum Einsatz von Waffengewalt durch die Sicherheitsorgane. Bei anderen Befreiungsaktionen lässt sich dokumentieren, dass ausschließlich politische Gefangene frei kamen, denn die Aufständigen unterschieden diese klar von kriminellen oder inhaftierten NS-Tätern.
Auch an den Forderungen lässt sich nachlesen, dass die Demokratisierung und vor allem die deutsche Einheit das größte Ziel der Streikenden waren: Rücktritt der SED-Führung, Bildung einer Regierung aus fortschrittlichen Arbeitern, Zulassung demokratischer Parteien nach westlichem Vorbild, demokratische Wahlen innerhalb von vier Wochen, Freilassung aller politischer Gefangener, Abschaffung der Zonengrenzen, Rückzug der Volkspolizei, Normalisierung des sozialen Lebensstandards, keine Repressionen gegen Streikende. Doch das genaue Gegenteil geschah. Nach Niederschlagung des Aufstandes forcierte die SED ihren Druck und den Diktaturcharakter ihres Regimes: Verfolgungswelle mit harten Strafen gegen (oftmals vermeintliche) „Rädelsführer“, Umstrukturierung der Sicherheitskräfte mit Einsatzleitungen in Bezirken und Kreisen, Bildung einer Sicherheitskommission im Politbüro (Vorgänger des Nationalen Verteidigungsrates), Vorbereitung von Isolierungs- und Internierungslagern – erstgenannte für politische Häftlinge und „Feine des Sozialismus“, zweitgenannte für Ausländer im Kriegsfall, wie es allerdings in fast allen Ländern üblich ist. Wie stark der 17. Juni 1953 als Trauma im Bewusstsein der SED-Oberen saß, zeigte sich noch im September 1989, als Erich Mielke die obersten Generäle seines Ministeriums für Staatssicherheit fragte: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Deren Antwort lautete beruhigend: „Der wird nicht stattfinden ... dafür sind wir ja da.“