Veranstaltungsberichte
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wir stehen vor dem 14.Jahrestag der deutschen Einheit. Nur wenige Wochen später begehen wir den 15.Jahrestag des Mauerfalls – ein Ereignis, das eigentlich Vorfreude auf die Gesichter zaubern müßte, gerade im Osten.
Doch nichts davon ist zu spüren: Ökonomische Sorgen, mitunter eine diffuse Angst vor dem, was kommt, verdrängen die Erinnerungen an die Zeit des mutigen Aufbruchs – eine Zeit, die bereits tief im letzten Jahrhundert versunken zu sein scheint.
Die deutsche Einheit wollen viele schon gar nicht mehr feiern. Und westlich der Elbe spiegelt sich noch immer Entsetzen auf den Gesichtern ob des hohen Stimmenzuwachses für PDS und Rechtsradikale bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg.
Lassen Sie mich mit einer Frage beginnen, die heute so provokant klingt, daß man schon fast dafür verprügelt wird: Haben wir nicht auch Grund, stolz auf die Leistung der vergangenen 15 Jahre zu sein? Welches Land der Welt hätte es geschafft, einen bankrotten Staat samt seiner Bevölkerung zu integrieren, ohne dabei selbst in die Knie zu gehen? Der Wechsel von einer Diktatur in die Demokratie ist weitgehend gelungen. Und haben die meisten Ostdeutschen ihr Schleudertrauma der Nach-Wendezeit nicht doch ganz gut in den Griff gekriegt?
Um 4 Jahre im Durchschnitt ist die Lebenserwartung der Ostdeutschen gestiegen, seit die DDR hinweg gefegt wurde – gibt es ein besseres Argument gegen die Verklärung der DDR?
Ich möchte im Folgenden einen Vorgang unter die Lupe nehmen, der für mich zu den Hauptursachen der heutigen Wirtschaftsmisere im Osten gehört – die massenhafte Vertreibung geistiger Eliten. Nur, wenn wir seine Dimension erfassen, können wir Maßnahmen ergreifen, um seine Langzeitfolgen zu mildern.
Jedem von uns fallen spontan Leute ein, die unter Schmerzen die DDR verlassen haben - Rudi Dutschke oder Ignaz Bubis, Hans-Dietrich Genscher oder Armin Müller-Stahl...
Sie sind der winzige Ausschnitt eines Millionen-Heeres, das ich die Dritten Deutschen nenne - Menschen, die ursprünglich in Ostdeutschland zuhause waren und die dann irgendwann in die Bundesrepublik flüchteten - unter politischem Druck, im Laufe von vierzig Jahren.
Viele waren es, zu viele. Ich könnte Reiner Kunze nennen oder Alexander Kluge, das „Ekel Alfred“, Sarah Kirsch, Klaus Staeck, Tausende von Professoren, Wissenschaftlern, Lehrern... selbst unter den Nobelpreisträgern Amerikas findet sich ein ehemaliger DDR-Bürger.
Schöpferisch und engagiert haben sie sich nach ihrer Emigration in ihre neue Heimat eingebracht, haben diese nach Kräften öffentlichkeitswirksam mitgeprägt. Im Osten dagegen fehlten bald ihre Begabungen. Im Osten wurden sie totgeschwiegen, samt ihrer Herkunft.
Wäre ihre Rückkehr für die Entwicklung der östlichen Bundesländer nach dem Mauerfall von Bedeutung gewesen?
Ich meine Ja. Im Bund mit den Klugen und Kreativen, die im Osten geblieben sind und jenen Westlern, die nicht Geldgier sondern Pioniergeist in den Osten trieb, hätte nach dem Mauerfall ein geistiges und moralisches Potential zur Verfügung gestanden, mit dem der Aufschwung Ost ganz anders in die Startlöcher gekommen wäre als geschehen.
Es geht hier nicht um zwanzig, dreißig Namen. Es geht – rechnet man den Verlust von Eliten im 3.Reich hinzu - um den Aderlaß eines halben Jahrhunderts.
1. Der Kahlschlag der 50-er Jahre
Bevor die SED im August 1961 die Bürger der DDR in Geiselhaft nimmt, hat sie etwa 3 Millionen Menschen in die Flucht geschlagen. Darunter eine immense Zahl von Wissenschaftlern.
Die 50-er Jahre werden zum Spiegel einer Massenflucht von Intellektuellen: Allein in den drei Jahren vor dem Mauerbau setzen sich fast 1700 von ihnen in den Westen ab, darunter 126 Universitätsprofessoren, 135 Dozenten und 234 Lehrbeauftragte. Die stärksten Verluste, hier vor allem im medizinischen Bereich, hat die Ostberliner Humboldtuniversität zu verkraften, die 291 ihrer Wissenschaftler einbüßt. Von der Leipziger Universität verschwinden zwischen 1958 und 1961 noch 206, aus Halle und Jena 260, Rostock und Greifswald verlieren 163 Lehrkräfte und Assistenten, die TU Dresden 93...
Das, wie gesagt, ist ein dreijähriger Ausschnitt aus der Ballade
„ Flucht und Vertreibung aus der DDR“ - ihm sind bereits zwölf
Jahre Verhaftung und Massenflucht vorausgegangen.
Bekanntermaßen ist das erste DDR-Jahrzehnt das der rigidesten Unterdrückung von allem, was nach geistiger Unabhängigkeit riecht, nach Religiosität und Bürgerlichkeit. Die Kirche gilt der SED als beinharter Klassenfeind, das Bürgerliche als Rudiment des absterbenden Kapitalismus, das von der Arbeiterklasse zu
überwinden ist – wenn nötig, mit Gewalt. Geistige Unabhängigkeit wird ausgemerzt, von Jahr zu Jahr drastischer.
Der ideologische Hammer saust vor allem dort nieder, wo der akademische Nachwuchs heranzubilden ist - an den Hochschulen und Universitäten. Mit Terror und Gesinnungsdruck wird den Lehrkräften das Arbeiten mitunter zur Hölle gemacht.
So kann man unmittelbar nach 1945 noch in beiden Teilen Deutschlands aus Professorenfedern die gleichen Reminiszenen an das „klassische Bildungsideal“ lesen, macht sich in reflexiven Reden, Artikeln und Traktaten ein Diskurs breit, bei dem es vor allem um das Versagen der deutschen Universitäten im Nationalsozialismus geht.
Schon nach kurzer Zeit aber driften die Universitäten auseinander: Während die westdeutschen Gelehrten ihre Idenditätsdebatte autonom, öffentlich und kontrovers betreiben, müssen sich ihre ostdeutschen Kollegen zunehmend zu den ideologischen Monopolansprüchen der herrschenden SED in Beziehung setzen. Schon Ende der 40-er Jahre kann hier von unreglementierter Öffentlichkeit keine Rede mehr sein.
Skrupellos besetzt die SED das humanistische Bildungsideal, reklamiert sie die Erziehung des gesamten akademischen Nachwuchses für sich - große Teile der Professorenschaft reagieren mit dem Rückzug in eine apolitische Expertenrolle.
Besonders scharf geraten die Vertreter der Geisteswissenschaften unter Druck. Und wer sich der Verkehrung von Realität und Propaganda nach dem NS-Terror nicht ein zweites Mal beugen will, wird zwangsemeritiert, entlassen, in den Westen abgedrängt.
Der intellektuelle Kahlschlag an den Hochschulen des Ostens hat begonnen. Zwischen 1948 und 1952 - dem Jahr, in dem offiziell der Sozialismus verkündet wird - räumt die SED-Führung brutal auf. Professoren wechseln nach ihrem Rausschmiß an bundesdeutsche Universitäten, und jeder Weggang hinterläßt eine klaffende Lücke.
Die DDR verliert die ersten Glanzlichter ihres humanistischen Lehrpotentials, und viele noch werden ihnen folgen. Die plötzlich vakanten Lehrstühle aber besetzt die Partei nun zielgerichtet mit Kadern, die nur noch selten an das Format ihrer Vorgänger
heranreichen, die dafür jedoch durch politische Zuverlässigkeit glänzen. Duckmäuser- und Denunziantentum machen sich breit.
Der Typus des Aufsteigers in Diktaturen ist stets der gleiche – es ist der Typus des Radfahrers, des Speichelleckers, des Leisetreters, oft genug des doppelgesichtigen Denunzianten, der nicht Freunde und Verwandte von seinem Verrat verschont. Dieser Typus breitet sich nun über Justizgebäude und Schulen, über Universitäten, Amtsstuben, Klinikflure... und lastet auf Ostdeutschland bis zum heutigen Tag.
Selbst im eigentlichen Zentralkomitee der DDR, dem sowjetischen KGB, mag dieser Typus nicht sonderlich beliebt gewesen sein... doch garantierte gerade er die nötige Stabilität an der Front zum westlichen Imperium. Das Interesse der Sowjets an Intelligenz und Wahrhaftigkeit in ihrem Marionettenstaat DDR endete genau dort, wo sie Macht und Einfluß gefährdet sahen - weshalb eben Genossen wie Honecker und Mielke Karriere machten, wie Axen, Gysi oder Hager... NS-Widerstandskämpfer wie Robert Bialek aber, Heinz Brandt oder Robert Havemann inhaftiert, in die innere und äußere Emigration getrieben und notfalls, wie Robert Bialek, auch „umgelegt“ wurden.
Die Spreu trennt sich vom Weizen im Laufe weniger Jahre.
Und etliche derer, die später selbst zu den Inhaftierten und Flüchtlingen zählen werden, lassen sich von den Sowjets zunächst vor deren Karren spannen.
Die SED vertreibt nicht nur die demokratischen Geister im Lehrkörper, sie vertreibt auch deren Studenten. Dabei räumt sie fast komplett jene Generation ab, die ich in der nachbarlichen Tschechoslowakei immer die Vaclav-Havel –Generation nannte. In Ostdeutschland ist die heute kaum noch auffindbar.
Diese Generation bringt ihren kritischen Geist im Westen ein.
Noch werden viele von ihnen dort mit offenen Armen empfangen, selbst im sogenannten ´linken´Milieu, das während der 60-er Jahre noch nicht von der geistigen Enge späterer K-Gruppen dominiert wird, sondern von der Glaubwürdigkeit eines Heinrich Böll.
2. Die Flucht aus der geschlossenen Anstalt
Wir schreiben nun schon die Hoch-Zeit des Kalten Krieges, ein Sprachbild, dessen Interpretation ich einmal mehr in Frage stelle: Für mich war der Kalte Krieg in erster Linie einer der sowjetischen Besatzer und ihrer deutschen Vasallen gegen die Bevölkerung der DDR; ein Kalter Krieg der Sowjets gegen die in den Sozialismus gezwängten Völker Osteuropas...
Der Versuch der PDS, begangenes Unrecht mit dem Schutzschild ´Kalter Krieg´ abzublocken, ist daher nicht nur zynisch, er stellt die tatsächliche Realität auf den Kopf: Nicht die DDR-Bürger befanden sich im Kalten Krieg - sie sehnten sich im
Gegenteil mehrheitlich danach, von ihren vermeintlichen Gegnern befreit zu werden.
Nach dem Mauerbau also hält der Drang Richtung Westen an, doch gelingt die Flucht aus der nunmehr geschlossenen Anstalt von Jahr zu Jahr seltener. Ausreiseanträge mit langen, schikanösen Wartezeiten und staatlich geregelter Menschenhandel halten Einzug und ersetzen das einstige Schleichen über die ´grüne Grenze´.
Nach einer Dekade vereinzelter Fluchtmanöver - allesamt Wagnisse unter Lebensgefahr - und verbreiteter Lähmung in der Bevölkerung forciert sich in den 70-er Jahren ein neues, nun legales Abschiedspotential; nach westlichen Schätzungen haben im Jahr 1976 bereits 100 000 DDR-Bürger einen Ausreiseantrag laufen.
Mit Konsequenz weiter ausgedünnt wird auch die demokratische Opposition, die „Entsorgung“ von Mut und Glaubwürdigkeit Richtung Westen hält unvermindert an. Dabei wird der Jenaer Widerstand nun ebenso ins Heer der zu Verstoßenden eingereiht wie Biermann, Bahro oder Reiner Kunze...
Doch werden die Methoden des Kaltstellens allmählich subtiler, konzentrieren sich die Staatsorgane zunehmend auf personen-zersetzende Gerüchte und die Organisation des beruflichen Mißerfolgs statt auf hohe Haftstrafen.
Auch diese, ein wenig der Schlußakte von Helsinki angepaßten Maßnahmen verfehlen keineswegs ihre Wirkung. Neue und bis zum Finale der DDR nicht mehr abreißende Ausreisewellen dünnen das Land weiter aus und legen seine Innovationsfähigkeit zeitweise lahm: 1984...1987... die Massenflucht über Ungarn im Frühherbst 1989...
Wäre nach dem Mauerfall ein dritter... ein vom Westen unabhängiger Weg für die DDR überhaupt noch möglich gewesen?
Im Nachwort meines im Februar 1990 erschienenen Buches „Lüg Vaterland.Erziehung in der DDR“ schrieb ich:
„ Die DDR hat keine Chance auf einen eigenen Weg, ein Aufbruchsfieber wie 1945 wird es nicht noch einmal geben. Über einen Zeitraum von vierzig Jahren schuf sich die Partei einen Apparat, den auch keine Wende so leicht aus den Angeln hebt. Die Köpfe der Oberen sind gefallen, der kolossale Rumpf bleibt. Der Mitläufer waren es am Ende so viele, daß, würden sie geschaßt, das Land in sich zusammenfiele wie ein Kartenhaus.
Und wer auch sollte sie ersetzen? Über ihren Bildungsapparat hat die Partei sortiert, bis endlich auf dem Stellwerk saß, wen sie für ltauglich hielt und Schwellen putzte, wen sie von höherer Bildung fernzuhalten gedachte. Mit dieser Strategie hat sie das Land um Talente und Persönlichkeiten gebracht in einem Ausmaß, das seinesgleichen sucht.“
Die Flucht- und Vertreibungswellen aus der DDR führten im Lauf der Jahrzehnte zu einer gesamtdeutschen Schieflage. Das Ausbluten von kritischer Intelligenz auf der einen und der enorme intellektuelle Zuwachs auf der anderen Seite haben Deutschland in eine gesamtdeutsche Schieflage gebracht, die noch längst nicht behoben ist.
Extrem ausgedünnt war im Osten am Ende jene Schicht, die ich die Hefe einer Gesellschaft nenne. Ohne deren Innovationsfähigkeit, Integrität und Engagement ist der Wechsel von einer Diktatur in die Demokratie nur schwer zu leisten.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Nie hieß DDR für mich Der Doofe Rest. Vielen mutigen und glaubwürdigen Menschen bin ich begegnet - in allen Generationen und in allen Schichten der Bevölkerung. Viele Begabungen habe ich kennengelernt, die sich tapfer durch die DDR wurstelten und immer mal wieder kleine, ermutigende Zeichen setzten. Auch haben wir alle in unserem geistigen Widerstand jeden noch so leisen dissidentischen Zungenschlag in einem Sowjetfilm genossen, jede Seite in einem verbotenen Arthur Koestler –Buch genutzt, um unsere Gehirnwindungen geschmeidig zu halten...
Dennoch: Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eine zunehmende geistige Enge eingestehen. Sie betraf besonders meine Generation, die man mit Macht zum „Neuen Sozialistischen Menschen“ geschmiedet hatte. Wie die Pech-Marie klebten wir an dem uns antrainierten Sozialismus-Glauben. Nicht wenige zürnten mit denen, die uns per Ausreiseantrag Richtung Westen verließen – sie zürnten so sehr mit den vermeintlichen „Versagern“ und „Verrätern“, daß für unsere Unterdrücker, die ja für den großen Fluchtdrang verantwortlich waren, kein Zorn mehr übrig blieb.
Und wie sind wir beispielsweise mit dem 17.Juni 1953 umgegangen – der immerhin ersten Erhebung in Osteuropa gegen die sowjetischen Besatzer und eine ihrer Marionetten-Regierungen? Für uns, die wir noch in den Windeln lagen, als sich das Volk erhob, roch - nach jahrelanger Gehirnwäsche - der Volksaufstand vor allem nach der Befreiung einer KZ-Aufseherin...
Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Uns fehlte der freie Meinungsaustausch mit Menschen aus aller Welt, uns fehlte ein Perspektivwechsel. Wir Eingeschlossenen waren zur Froschperspektive verdammt, wo wir ab und an dringend der Vogelperspektive bedurft hätten. Und im Land selbst nahm die Zahl der Mitbürger immer mehr ab, die einen weiteren Horizont hatten als man selbst.
Womit ich wieder beim Ausgangspunkt angelangt wäre:
Hätten die In- die-Flucht-Geschlagenen nicht massenhaft zur Rückkehr gedrängt werden müssen? Ihr in der Welt geweiteter Horizont wäre doch eine gute Ergänzung zur östlichen Aufbruchsstimmung gewesen.
Während der 90-er Jahre absolvierte ich zwei Lesereisen an amerikanischen Universitäten: In jedem zweiten German Department wurde ich mit den Worten begrüßt: ´Hallo, ich komme auch aus der DDR!´
Die meisten waren während der 50-er Jahre getürmt, manche noch als Kinder, an der Hand ihrer Eltern.
Mehr als hundert Schriftsteller hat der Osten im Lauf von vierzig Jahren verloren und etwa tausendfünfhundert bildende Künstler... darunter so renommierte Maler wie Gerhard Richter, Baselitz oder Penck... Und hat schon mal jemand die Pädagogen im Westen gezählt, die gebürtige DDR-Bürger sind?
Was für Aussichten, wäre auch nur die Hälfte von ihnen zurückgekehrt.
3. Verhinderte Rückkehr
1996 konstatiert der Verleger Wolf Jobst Siedler im Osten eine von Elite entleerte Region; er schlägt massive Rückwanderung
vor, unter anderem von zwei Dutzend märkischen Junkern und 2000 Berliner Juden...
Das klingt polemisch zugespitzt. Doch hätte die durch Massenabwanderung erzeugte intellektuelle Schieflage in Deutschland 1990 tatsächlich korrigiert werden müssen, um die Chancen der Ostdeutschen für die Zukunft zu erhöhen. Rückwanderungsabsichten hat es nach der Wende reichlich gegeben. Doch von den wenigen, die am Ende tatsächlich aufbrachen, haben noch weniger in ihrer alten Heimat neue Wurzeln geschlagen. Wieso?
Ziemlich rasch wurde klar, daß ihre Wiederkehr keineswegs erwünscht war. Die Genossen im Osten hatten nicht nur die Fleischtöpfe unter sich aufgeteilt, sondern auch die Immobilien der Vertriebenen. Ihre Beziehungsgeflechte, über Jahrzehnte gewebt, erwiesen sich 1990 bereits als so dicht, daß sie Eindringlinge geräuschlos abblocken konnten - zumal jene, die den Laden selbst noch aus eigener Erfahrung kannten und im Gegensatz zu den meisten „reinen Wessis“ selbst unauffällige Zeichen zu dechiffrieren vermochten.
Die Kalamität verdichtet sich nach 1990 geradezu symbolisch im Fall von Wolf Biermann. Der Liedermacher und Poet hat über Jahre versucht, in seine legendäre Wohnung in Ostberlin zurückzukehren. Biermann scheiterte bekanntlich, weil der Sprecher der PDS, Herr Harnisch, sich in Biermanns Wohnung längst breit gemacht hatte und sich höhnisch weigerte, da wieder rauszuziehen.
Damit sind wir bei den Nutznießern des jahrzehntelangen Aderlasses: Es sind genau jene, die ihn nach Kräften betrieben haben - ehemalige SED-Funktionäre, Stasispitzel, juristische Handlanger, Genossen Lehrer...
Sie halten die Stellen der Verjagten besetzt und gerieren sich nun als originäre Vertreter der Ost-Seelen. Süffisant verweist die PDS darauf, Religionsunterricht im Osten sei deplaziert, das Gelände längst säkularisiert. Zynisch läßt sie den Blick über östliche Gefilde schweifen, um festzustellen, Sozialdemokraten, Bürgerrechtler, Grüne oder Liberale dümpelten leider noch immer am Rand der Marginalität ...
Nur die Genossen selbst sind in Überfülle vorhanden... und ernten auch 2004 noch die Früchte des Schadens, den sie über Jahrzehnte angerichtet haben.
Einige der Emigranten allerdings haben sich von dieser Mafia nicht abschrecken lassen und sind in ihre alte Heimat zurückgekehrt – so, wie Erich Loest. Der Schriftsteller ist nicht nur wegen seiner Freunde zurück gekommen, sondern auch wegen seiner Feinde, denen er das Feld nicht kampflos überlassen wollte.
Über Leipzigs Grenzen hinaus versucht Loest seitdem, etwas mehr Niveau in den oft selbstgefälligen Diskurs seiner Mitbürger zu bringen. Er haut ihnen Wahrheiten um die Ohren, die sie nicht hören wollen. Er hält ihnen den Spiegel vor und versucht, ihnen das geschwundene Ansehen ihrer Stadt zu erklären, besonders nach Leipzigs Olympia-Fiasko. Dazu gehört Mut, denn Streicheleinheiten bekommt Loest dafür nicht.
Auf mich wirkt der Schriftsteller ein wenig einsam. Also stelle ich mir vor, nicht einer, sondern Hunderte der vielen tausend allein aus Leipzig geflohenen, verhafteten und in den Westen verkauften Bürger – Christen, Sozis, Parteilose - würden Loest heute zur Seite stehen... ihm und jenen demokratischen Kräften in der Stadt, die allmählich ebenfalls das Unbehagen packt. Was für einen fruchtbaren Diskurs könnte die Messestadt erleben – und ähnliche Chancen sähe ich auch für andere Städte des Ostens!
Statt dessen läuft im Jahr 2004 Herr Lafontaine in der „Heldenstadt“ zur Hochform auf – ein Mann, der weniger mit rechts oder links zu tun hat als mit Raffgier und persönlicher Eitelkeit. Erinnern wir uns: Wäre es nach Lafontaine gegangen, gäbe es noch heute die DDR, samt Wirtschaftsfiasco und Unterdrückungsapparat. Diesen Mann, flankiert von PDS-Genossen, im Osten das Pflaster treten zu sehen – 15 Jahre nach dem Sturz des SED-Regimes - schiefer kann ein Bild wohl nicht sein!
Hätte es der demagogische Saarländer, so frage ich mich, gewagt, so schamlos in Leipzig zu agieren, wenn sich mehr als nur eine Handvoll Aufklärer der heutigen Demonstranten angenommen... und mit ihnen sortiert hätte, welche ihrer Forderungen durchaus berechtigt sind, welche Parolen dagegen kontraproduktiv?
Das ganze einmal hochgerechnet: Hätten in den ostdeutschen Bundesländern Tausende von heimgekehrten Talenten, von Unternehmern, Wissenschaftlern, Ärzten, Künstlern oder Lehrern
den Umkehrschub einleiten und die ausgedünnte Ost-Elite wieder auffüllen können?
Ich denke Ja ! Mit welchem Innovationsschub hätte der Osten aufwarten können, dessen Bewohner ja durchaus von Pioniergeist beseelt waren! Vermutlich würden dann heute auch mehr als ein paar dünne Einzelstimmen daran erinnern, wer eigentlich die Wirtschaftsmisere im Osten verursacht hat. Denn das waren ja nicht die Sozis, die 40 Jahre lang verboten waren in der DDR – es waren die machthabenden Genossen der SED.
Seit der Wende tobt der Kampf um die Deutungshoheit von DDR-Geschichte. Und seit eben dieser Zeit beklagen die Sozialisten, man habe nach der Wende die Eliten der DDR ausgeschaltet.
Ich halte dagegen: Nicht nach der Wende sind die Eliten ausgeschaltet worden, sondern während einer vierzigjährigen Diktatur - sie flogen aus Gymnasien und Universitäten, verloren ihre Berufe, haben die Gefängnisse gefüllt und die Züge Richtung Westen.
Zurückgeblieben, mit einem oft kaum noch vernehmbaren Stimmchen, ist ein Häuflein Aufrechter, das einst das innere Exil dem äußeren vorzog. Zurückgeblieben ist ein lautstarkes Heer von Genossen, das nach dem Verschwinden ihres Unrechtsstaates heute besser noch lebt als zuvor.
Die interne Studie eines ostdeutschen Bundeslandes ergab, daß sich im Jahre 2004 etwa 42% seiner Lehrer in PDS-Nähe befänden - eine Zahl, die repräsentativ für den Osten sein dürfte. Ist es da ein Wunder, daß nicht wenige ostdeutsche Jugendliche mit DDR-Emblem auf der Brust herumlaufen oder FDJ-Bluse? Bei Stichproben solcher Vergangenheitsfans stelle ich immer wieder fest, daß deren Wissen über die DDR gleich Null ist. Was mich zur Frage verleitet, ob die Demokratie statt ewig gestriger DDR-Lehrer nicht demokratie-taugliche Pädagogen finanzieren sollte? Schule hat ja wohl einen Bildungsauftrag, oder nicht?
Keineswegs nur in den Schulen des Ostens – auch in anderen Bereichen sind über 40 Jahre gerissene Lücken zu schließen. Die Arme also weit geöffnet für gute Mitstreiter – seien es nun Heimkehrer oder solche, die nicht den Stallgeruch der DDR haben, weil sie schlicht und einfach reine Wessis sind. Auch deren Erfahrungen sind wichtig für Wirtschaft und Demokratie.
Vereint könnten die demokratischen Kräfte im Osten einen Diskurs beleben, in dem Denkschärfe, Mut und Glaubwürdigkeit wieder dominieren. Sie könnten beispielsweise daran erinnern, daß die SED/PDS, wie sich die Geiselnehmer der DDR-Bevölkerung eine Übergangszeit lang nannten, zwischen Januar und April 1990 – das war jener Zeitraum, in dem klar wurde, es werde die deutsche Einheit geben - geradezu flächendeckend
Volksvermögen in die eigenen Taschen geschaufelt haben, durch massenhafte Gründung von GmbH.
Ob die Wähler, die heute wieder bei der PDS ankreuzen, eine Sekunde lang darüber nachdenken – sich gar die Zahlen der gerafften PDS-Milliarden aus dem Bundestag holen, wo sie seit 1998 einsehbar sind? Ich bezweifle das.
Ostdeutschland hat viele Städte, die heute mit schweren wirtschaftlichen Verwerfungen zu kämpfen haben – und einer massiven Abwanderung junger Leute. Diese Abwanderung der Nach-Wendezeit aus dem innovationsschwachen Osten stellt für mich die absolut logische Fortsetzung einer massiven Vertreibung der Vor-Wendezeit dar.
Mit der fortgesetzten Bewegung Richtung Westen aber setzt sich die Schieflage in Deutschland fort, belastet der intellektuelle und moralische Kahlschlag noch immer die gesamtdeutsche Entwicklung.
4. Ein aufschlußreiches Ranking
Viele Brandenburger und Sachsen haben aus Angst vor dem Morgen das Gestern gewählt. Das ist nicht nur beschämend, es ist – was die Wirtschaftschancen anlangt – zum Kopfschütteln dumm. Denn die einzige Chance, die Wirtschaft im Osten anzukurbeln und damit neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist ein Klima, das Investoren anlockt. Ein Anwachsen rechtsradikaler Parteien aber schreckt internationale Interessenten ebenso ab wie der zunehmende Hang, die alten Unterdrücker wiederzuwählen.
Kürzlich wurde in der Wirtschaftswoche eine Studie veröffentlicht, in der die Wirtschaftsdynamik aller deutschen Bundesländer aufgelistet wurde. Das Resultat der Studie wirkt wie eine Illustration meiner Ausführungen:
Schlußlichter der 16 Bundesländer sind, was die Wirtschaftsdynamik anlangt, Brandenburg, Mecklenburg/Vorpommern und Berlin – genau jene Länder also, in denen die PDS derzeit mitregiert bzw. – wie in „Stolpe-Land“ – über Jahre ein geistiges Klima erzeugt wurde, das stark an DDR erinnert. Diese „Schlußlicht“-Länder, so stellen Wirtschaftsexperten fest, kriegen fast nichts geregelt, sind hoch verschuldet und haben mit ideologischem Krampf und politischen Streitereien bereits wichtige Investoren vergrault.
Und: Sie sind identisch mit jenen Bundesländern, in denen Fremde noch immer besonders aggressiv weggebissen werden ... und noch mehr gemieden und gemobbt wird, wer zu den Heimkehrern zählt.
Sichtbar herrscht ein Zusammenhang zwischen geistiger Enge und ausbleibender Wirtschaftsdynamik – wobei hier die vielen kreativen Nordlichter nicht unter den Tisch fallen sollen, die selbst unter den Verhältnissen in ihrem Land leiden.
Thüringen rangiert immerhin hinter den Bayern und Hessen, und noch weiter vorn in der Wirtschaftsdynamik finden wir Sachsen-Anhalt. Das allerdings erst seit gut einem Jahr: Sachsen-Anhalt ist, seit die PDS dort nicht mehr aus der Tasche von Herrn Höppner lugt und heimlich mitregiert, von Platz 12 auf Platz 4 hochgeschnellt.
Ganz oben an der Spitze liegt Sachsen: Das Land hat sich nie gescheut, aus dem Westen stammende Mitbürger in höchste Gremien zu wählen, wenn die als fähig erkannt wurden. Hier spielte am wenigsten eine Rolle, ob jemand aus der Nebenstraße kommt oder einer Stadt im Ruhrgebiet, aus Polen oder Amerika.
Bleibt zu hoffen, daß die Zunahme rechtsradikalen Denkens den Vorsprung nicht wieder zunichte macht.
Bleibt zu hoffen, daß östlich der Elbe jenes Klima entsteht, in dem willkommen geheißen wird, wer gut für die Zukunft des Ostens ist.
Die Bürgerrechtlerin Freya Klier weilte im Oktober 2004 zu einer viertägigen Lesereise in Thüringen. Stationen waren neben dem Kloster Volkenroda das Gustav-Freytag-Gymnasium Gotha, die Stadt- und Kreisbibliothek "Anna Seghers" Meiningen (Foto), das Rhön-Gymnasium Kaltensundheim, das Stadtmuseum "Alte Suptur" Stadtroda sowie das Orlatal-Gymnasium in Neustadt an der Orla.