Das politische Bildungsforum Thüringen lud in Kooperation mit dem Katholischen Forum des Landes Thüringen am 15.03.22 den FAZ-Journalisten und Kenner des Nahen Ostens Dr. Rainer Hermann in die Brunnenkirche nach Erfurt ein. Die Veranstaltung trug den gleichnamigen Titel seines erst kürzlich im Februar erschienenen Buchs „Afghanistan verstehen“.
Am Dienstagabend strömten viele interessierte Bürgerinnen und Bürger trotz des regnerischen Wetters in die Brunnenkirche in der Nähe des Erfurter Domplatzes. Die erste Präsenzveranstaltung des Bildungsforums in diesem Jahr traf auf großen Anklang und allen Beteiligten war anzumerken, wie sehr man sich darauf freute. Um 18 Uhr hieß Niklas Wagner, Akademieleiter des katholischen Forums, das Publikum sowie die Referenten herzlich willkommen und bedankte sich im Vorfeld für das Interesse an diesem Thema, obwohl es momentan vom Krieg in der Ukraine überschattet werde. Es folgte eine kurze biografische Vorstellung Rainer Hermanns, der Volkswirtschaftslehre und Islamwissenschaften in Freiburg, Rennes, Basel und Damaskus studiert hat und als Korrespondent u. a. aus Istanbul, Kuweit und Abu Dhabi berichtete. Durch die Veranstaltung führte Anna-Lena Malter, Stipendiatin der Journalistischen Nachwuchsförderung der Adenauerstiftung, die neben ihrem Studium bereits als freie Journalistin tätig ist.
„Herr Hermann, wie fühlt es sich an, in ein Land zu fliegen, aus dem Menschen normalerweise schnell entkommen möchten?“ „Ich fühle mich privilegiert“, antwortete der Journalist auf die Einstiegsfrage der Moderatorin. „Es ist ein Privileg zu wissen, dass ich dieses Land jederzeit verlassen und in ein sicheres Land wie Deutschland zurückkehren kann.“ Hermannver kehrte erst vor ein paar Tagen aus Saudi-Arabien zurück und berichtete von seiner Taxifahrt in Riad zum Flughafen. Sein Taxifahrer Zabihullah und dessen Herkunft war während des Vortags immer wieder von Bedeutung, da er aus der pakistanischen Grenzregion zu Afghanistan Waziristan kommt. Eine der Regionen weltweit mit der größten Dichte von islamistischen Extremisten und Terroristen, so Hermann. „Die Taliban, das sind gute Leute“, antwortete ihm jedoch der Taxifahrer am vergangenen Freitag.
Die junge Journalistin fragte Hermann was die Kardinalfehler der ausländischen Mächte in den vergangen zwei Jahrhunderten waren. Hermann fasste darauf zusammen: „Die Geschichte Afghanistans ist eine Geschichte fremder Mächte. Diese fremden Mächte haben Entscheidungen getroffen, die mitverantwortlich dafür sind, dass Afghanistan nicht zur Ruhe kommt.“ Um die IST -Situation zu verstehen holte der Journalist aus und erklärt dem Publikum die verhängnisvollen Eingriffe der Briten und der Sowjetunion im 19. Und 20. Jahrhundert und des Westens im 21. Jahrhundert. Auf der Empore stand eine große Leinwand- darauf zu sehen die Ländergrenzen Afghanistans zu seinen Nachbarländen. Hermann umkreiste während er sprach immer wieder bestimmte Regionen. Man müsse sich auch die Geografie anschauen, um die Ereignisse zu verstehen. Besonders die vom Western vorangetriebene Idee, aus Afghanistan einen Zentralstaat zu machen, sei fatal gewesen und habe ihn zu einem verhassten Staat und einer Korruptionsmaschine gemacht.
Auf die Frage, ob der Westen nun in Afghanistan gescheitert sei, entgegnete Hermann, dass die Betrachtung von dem Ziel abhänge, das mit der Intervention verknüpft werde. Er ist der Meinung, dass der zwanzigjährige Einsatz keineswegs umsonst gewesen sei. Eine Generation habe erfahren was Freiheit bedeutet und es habe viele Verbesserungen im Leben der städtischen Afghanen gegeben- auch wenn diese mittlerweile wieder vorüber seien.
Im Folgenden skizzierte der Journalist die heutigen Taliban, die aus realpolitischen Anhängern bis zu IS Sympathisanten bestehen würden. Grundsätzlich glaube er nicht, dass sie sich verändert haben. Sie seien weiterhin stark in der konservativen Stammeskultur des südafghanischen Dorfes verwurzelt, woher sie gekommen sind. Die Bilanz nach sieben Monaten an der Macht sei ernüchternd. Die Taliban hätten Rachemorde begangen und seien mit ihren Anordnungen zu alten Herrschaftsmethoden übergegangen. Die größten Verlierer ihrer Rückkehr seien die Mädchen und Frauen. Die afghanische Wirtschaft sei im freien Fall und die humanitäre Situation katastrophal. Familien in Not würden ihre Töchter verkaufen, um sich über Wasser zu halten. „300 Dollar bekommen sie für ein Mädchen“, erläuterte Hermann und blickte dabei in entsetzte Gesichter. Außerdem seien die Taliban durch einen inneren Machtkampf geschwächt und regierungsunfähig, da es unter ihnen keine Technokraten gebe. Eine Gefahr für Europa könne es dann geben, wenn die Taliban keine Mittel mehr haben den regionalen Ableger des IS zu bekämpfen.
Doch wie soll sich der Westen gegenüber den Taliban und ihrem Emirat verhalten? Der Westen stehe vor einem Dilemma. Leiste er Zahlungen an Afghanistan, unterstütze er somit das Taliban-Regime. Würde der Westen jedoch nicht zahlen, zerfiele das Land wirtschaftlich, so der Experte. Er bewertete die Situation wie folgt: „Alle Zahlungen einzustellen ist unverantwortlich gegenüber den Zivilisten, die mit Unterernährung und Armut zu kämpfen haben. Außerdem hat dies unerwünschte Folgen für die Nachbarländer. Zum einen eine Zunahme der Fluchtbewegung und dass die geschwächten Taliban den IS nicht weiter zurückdrängen können und somit die Anschlagsgefahr im Ausland steigt.“ Deshalb sei er der Meinung, dass Nothilfe nicht an Bedingungen geknüpft sein dürfe. „Dies widerspreche den grundlegenden humanitären Normen“. Darüber hinaus gehende Entwicklungshilfe soll laut dem Journalisten aber an Bedingungen geknüpft sein. Gleichwohl, müsse der Westen zwar den Dialog mit den Taliban führen, jedoch ohne sie anzuerkennen.
Malter fragte ihn abschließend noch, wie er die zukünftige Entwicklung des Landes einschätze. Dazu sagte Herman: „Afghanistan wird auf lange Zeit nur sehr schwer zu regieren sein. Wir haben es mit einem Staat zu tun, der wiederholt gescheitert ist und ein Vakuum hinterlassen hat oder der zumindest immer wieder auf der Kippe zum Scheitern verharrte.“ Die Schwierigkeit das Land zu regieren bestehe aus der großen Last der Geschichte von einem halben Jahrhundert Krieg, einer ausgeprägten Heterogenität der Volksgruppen und einer schwachen Wirtschaft, einem unglaublichen Bevölkerungswachstum von einer Million Neugeborener pro Jahr sowie einem Fachkräftemangel. Das Fazit des Journalisten fiel dementsprechend so aus: „Was also blüht, ist ein Afghanistan irgendwo zwischen Gaza der Hamas und einem gescheiterten Staat wie Somalia.“
Im Anschluss wurde die Diskussionsrunde eröffnet, an der sich das interessierte Publikum rege beteiligte und dem Journalisten viele Fragen stellte. Die Leiterin des politischen Bildungsforums in Thüringen Maja Eib übernahm das Schlusswort und bedankte sich bei allen Beteiligten für den interessanten Vortrag und den aktiven Austausch.