Veranstaltungsberichte
Schmalkalden, Gebesee, Günserode, Wiehe
(08.03. bis 12.03.2004)
„Aus einem Land kann man auswandern, aus der Muttersprache nicht.“ Mit diesen bewegenden Worten begann Avital Ben-Chorin in vier Orten den Bericht zu ihrem Leben, das sie aus Thüringen bis nach Israel führte.
Geboren wurde Avital Ben-Chorin 1923 als Erika Fackenheim in Eisenach, wo ihr Großvater Dr. Julius Fackenheim als berühmter Arzt tätig war. Über seine jüdische Herkunft wusste das Mädchen zunächst nichts, denn Religiösität spielte in der assimilierten Familie keine Rolle, wenngleich ein Urgroßvater als liberaler Rabbiner in Mühlhausen agiert hatte. Gern erinnert sich Avital an ihre Kindheit am Rennsteig im Thüringer Wald.
Doch schon 1930 war die Idylle getrübt, denn mit Wilhelm Frick übernahm erstmals ein Nationalsozialist ein Ministeramt auf Landesebene. Als drei Jahre später Hitler an die Macht kam, gab es die ersten Boykotte gegen Juden: Auch in Eisenach fanden sich SS-Angehörige vor Geschäften oder Arztpraxen ein. In der Stadt fand ein antisemitischer Umzug statt, begleitet von Pöbeleien und Hetze. Auch im Religionsunterricht war der Politikwechsel deutlich zu spüren: Die Lehrer unterschieden fortan zwischen „bösen Juden“ und dem „lieben Jesus“. Bei jüdischen Kindern wie der zehnjährigen Erika wuchs dagegen erst recht das Bewusstsein, Jüdin zu sein. Zugleich stieg die Kenntnis über den Zusammenhang der jüdischen Religion mit dem Volk Israel, zumal sie jüdischen Religionsunterricht beim zionistischen Jugendbund erhielt.
Als 1935 ein nationalsozialistischer Lehrer die „arischen“ Kinder der Klasse immer stärker gegen die jüdischen aufhetzte, was zu Übergriffen, Prügeleien und Ausgrenzungen unter den Altersgenossen führte, stieg in Erika die Sehnsucht nach Erlösung aus diesem Alptraum. In der „Jugend-Alia“ sah sie eine Hoffnung: Jugendliche gingen nach Palästina, um dort in Kibbuzim zu arbeiten, zu lernen und die Wurzeln für einen Staat Israel zu legen. Nach Aufenthalt einem Berliner Übergangsheim verließ Erika ihre Thüringer Heimat und siedelte mit 13 Jahren nach Palästina über, wo sie in der Haifa-Bay ein neues Zuhause fand. Noch war das Land sehr dünn besiedelt, auch gab es ständig Unruhe zwischen den arabischen Bewohnern und den jüdischen Einwanderern. Vier Jahre lebte das Mädchen in einem Kinderheim.
Die Sorgen um die Eltern in Deutschland nahm mit Kriegsausbruch stets zu. Die Familie, die sich stets als patriotische Deutsche erwiesen und im ersten Weltkrieg gekämpft hatte, bekam keine Genehmigung zur Ausreise aus dem Reich; der Großvater musste nach 50 Jahren seine Praxis schließen und verstarb 1943 in Theresienstadt. Auch die Eltern wurden nach Theresienstadt deportiert, später gar nach Auschwitz. Lange gab es noch Kontakte der Tochter zu den Eltern, doch nach Kriegsende bekam sie keine Nachricht von ihnen. „Keine Nachricht war die Nachricht“, formulierte es Avital Ben-Chorin an jenem Abend in Schmalkalden in der Gewissheit, dass ihre Familie zum Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie geworden war.
Die junge Frau baute sich im entstehenden Israel ein neues Leben auf. Sie erlernte die hebräische Sprache, die neu zu leben begann, und erkannte in der Bibel die Grundlage für die Existenz des Menschen, denn Sprache, Kultur, Geschichte, Glauben seien alle auf die Heilige Schrift zurück zu führen. Auch nahm sie einen neuen Vornamen an und nannte sich nach einem Berg des Golan. Zudem habe es eine Avital als Nebenfrau von König David gegeben. Sie traf Philosophen wie Martin Buber und Elke Lasker-Schüler und lernte 1942 den Dichter Schalom Ben-Chorin kennen, den sie heiratete.
Ihr Leben lang beschäftigte die Familie der Dialog der Religionen, nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Aussöhnung mit Deutschland. Doch zunächst musste der neu gegründete Staat Israel vor seinen Feinden beschützt werden: Schon am Tag des UNO-Teilungsbeschlusses für Palästina, das in einen arabischen und einen jüdischen Teil gespalten werden sollte, fielen die ersten Schüsse, denn im Gegensatz zu den Juden, die für diesen Plan waren, erklärten sich die Araber nicht damit einverstanden, Teile ihres Landes für die jüdischen Menschen herzugeben. Als David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 den Staat Israel ausrief, fielen sieben arabische Armeen ins Land ein und versuchten, den neuen Staat im Keim zu ersticken.
Avital Ben-Chorin war nun als Soldatin rekrutiert, bewachte das belagerte Jerusalem. Doch die symbolträchtige Stadt fiel nicht, und die Israelis verteidigten ihren Staat, wenngleich in mehreren Kriegen und mit Terroranschlägen bis heute unter großen Blutverlusten auf beiden Seiten.
Den Dialog der Religionen setzte Schalom Ben-Chorin bis zu seinem Tod fort, Avital bis zur Gegenwart. Innerhalb des Judentums trat die Familie für religiöse Reformen ein: 1958 entstand die erste progressive jüdische Gemeinde. Zur allmählichen Aussöhnung mit Deutschland, das viele Überlebende des Holocaust noch Jahrzehnte nach dem Krieg als das Land der Mörder ihrer Angehörigen ansahen, trugen die Ben-Chorins bei, indem neben den christlich-jüdischen Dialog auch ein deutsch-jüdischer trat. Dies manifestierte sich in gegenseitigen Besuchen deutscher und israelischer Gruppen im jeweils anderen Land.