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Veranstaltungsberichte

Christliche Kirchen der Ukraine übernehmen Verantwortung für die Entwicklung der Zivilgesellschaft

von Nico Lange
Auf einer vielbeachteten Konferenz unter dem Namen „Die Rolle der Kirchen beim Aufbau der Zivilgesellschaft“ kamen am 13. Februar 2008 Vertreter aller christlichen Konfessionen darin überein, dass die christlichen Kirchen der Ukraine stärker als bisher ihrer besonderen Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Zivilgesellschaft nachkommen müssen. Sie brachten dies mit einer gemeinsamen Erklärung deutlich zum Ausdruck.

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Der vorliegende Veranstaltungsbeitrag enthält neben dieser Erklärung die wichtigsten Aussagen dieser Veranstaltung. Teilnehmer waren die Ukrainische orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats, die Ukrainischen orthodoxe Kirche, die Ukrainische griechisch-katholische Kirche und die Allukrainische Union von Verbänden evangelischer Christen-Baptisten. Die Konferenz wurde von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kooperation mit dem Christlichen Kirchenbeirat organisiert.

Erklärung von Vertretern der Christlichen Kirchen an die Christen und alle Menschen guten Willens:

„Liebe Geschwister in Christus, liebe Mitbürger, Staatspersonen und Teilnehmer des öffentlich-politischen Lebens der Ukraine!

Die moderne ukrainische Gesellschaft geht den Weg ihrer Behauptung und Etablierung als ein selbständiger Schöpfer ihres Schicksals. Auf diesem Wege ist es wichtig, die Beziehungen zwischen der Staatsmacht und der Gesellschaft so zu gestalten, dass jeder Bürger fühlen kann, dass er am öffentlich-politischen und staatsbildenden Prozess teilnimmt. Mit jedem Jahr des Bestehens unseres jungen Staates wächst die Anzahl der Mitglieder unserer Gesellschaft, die sich um die Zukunft der Ukraine Gedanken machen, die am öffentlichen und staatlichen Leben teilnehmen wollen, obwohl dies wegen mancher negativer Faktoren nicht immer möglich ist. Lobenswert ist die Tatsache, dass die Staatsmacht immer mehr Zuwendung für die Menschen findet und immer größere Bereitschaft bekundet, den Aufbau der Zivilgesellschaft in der Ukraine zu fördern. Solche Prozesse lassen uns hoffen, dass in unserer Gesellschaft Bedingungen geschaffen werden, die die Würde des Menschen effizienter schützen könnten und ihn bei seiner Selbstrealisierung unterstützen würden. In diesem Kontext gewinnen christliche Erfahrungen bei der Pflege der menschlichen Würde, bei der Befreiung des Menschen von allem, was sein Gewissen belastet und seine Freiheit einschränkt, an besonderer Bedeutung.

Gerade die christliche Gemeinde war seit jeher ein Umfeld, in dem der Mensch lernte, seine Freiheit zu nutzen und nach Gottes Wort zu leben. Die Verhältnisse im Rahmen des christlichen Gemeinwesens basieren darauf, dass die Menschen als Gottes Bild empfunden werden und dass harmonische Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft gepflegt werden müssen, um eigene Freiheit verantwortungsvoll anzuwenden.

Wir glauben daran, dass die Werte und Prinzipien, auf denen die Erfahrungen der Kirchen basieren, die ukrainische Gesellschaft umgestalten können. Die Bedingung dafür ist die Anerkennung von Grundwerten seitens der Menschen und des Staates sowie die Erkenntnis, dass die Freiheit im Dienst für die Wahrheit liegt, deren Quelle und Ziel Gott selbst ist.“

Archimandrit Jewstratij Sorja, Dr. der Theologie, Ukrainische Orthodoxe Kirche, Patriarchat Kiew

„Seit dem Bestehen der Menschheit gab es verschiedene Modelle des Staatsaufbaus und der gesellschaftlichen Aufbaus. Jedes von diesen Modellen hatte seine Vor- und Nachteile. Ich glaube, dass als ideale Zivilgesellschaft eine Gesellschaft bezeichnet werden sollte, in der der Begriff „Balance“ als Schlüsselwort fungiert. Gemeint ist eine Balance zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen eigenen Interessen und Interessen der Gesellschaft. Die Freiheit kann ja ohne Verantwortung nicht bestehen, und das ist eines der Probleme, die eine vollwertige Entwicklung der Gesellschaft bremsen. Wir sprechen viel über die Menschenrechte, dass die Menschen viele Rechte haben, aber dabei übersehen wir Pflichten. Wie können wir eine harmonische Gesellschaft aufbauen, wenn jemand auf die Sicherung seiner Rechte seitens der Gesellschaft besteht, sich selbst aber nicht verpflichtet fühlt, dieser Gesellschaft etwas zu geben. Mit „etwas“ meine ich viel, d.h. genauso viel, wie man von der Gesellschaft bekommt. Deswegen sollen wir solch eine Gesellschaft aufbauen, in der wir nicht nur über die Freiheiten oder Individualitäten sprechen, sondern auch über die Rechte der Gesellschaft, über die Verpflichtungen eines Gesellschaftsmitgliedes gegenüber seiner Gemeinschaft. Der Mensch soll sein Leben nicht individualistisch oder egoistisch gestalten. Das ist eines der wichtigsten Probleme, u.a. auch in den Gesellschaften, die wir als entwickelte Demokratien bezeichnen.

Mehrere Jahrzehnte der Propaganda des Atheismus und säkularen Humanismus wurden viele Menschen so erzogen, dass sie sich als Zentrum des Universums fühlen, sie halten sich für eine Art Gottheit, um deren willen ihr persönliches Dasein geführt wird. Familie, Gesellschaft, Staat, Natur und Umwelt – all das besteht, um diesen Menschen zufriedenzustellen. Er kann all das konsumieren und für sein Wohl nutzen. Solch ein Modell der Menschenexistenz kann nicht akzeptiert werden. Der Mensch ist kein Zentrum des Universums, kein Schöpfer, er kann nicht einmal sein eigenes Leben schöpfen, denn er kommt in diese Welt nicht in seinem Willen. Deswegen ist die Aufgabe der Kirchen, diesen Individualismus und Egoismus in der Einstellung zu sich selbst und zur Gesellschaft zu bekämpfen.“

Mykolaj Dynylewytsch, Priester, Dr. der Theologie, Abteilung für auswärtige Kirchenbeziehungen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche

„…Beispielhaft ist der Einfluss auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft der Katholischen und der Orthodoxen Kirche. Die Katholische Kirche hatte historisch gesehen einen größeren Einfluss auf die Formierung der Gesellschaft im Allgemeinen und auf die Formierung der Zivilgesellschaft konkret. Gerade deswegen gab es seit Anfang des 4. Jahrhunderts im Westen, und zwar in Rom, keine starke Staatsmacht. Das 4. Jahrhundert war die Zeit der großen Völkerwanderung. Im 4. und 5. Jahrhundert kamen die Goten und im 6. und 7. Longobarden nach Italien. Im 8. Jahrhundert nahmen die Päpste intensive Kontakte zu Franken und im 10. Jahrhundert zu Normannen auf, weil sie nach jemandem für den Schutz von Rom suchten. Durchschnittliche Einwohner Italiens sahen damals keine stabile politische Staatsmacht, denn das waren mal die Goten, mal die Byzanzier, mal Longobarden und Franken usw. Die einzige ständige Macht vertraten von der Kirche die Pfarrer und Bischöfe. Es wurde historisch bedingt, dass wegen fehlender starken Staatsmacht im Westen gerade eine starke Kirchenmacht entstand, die sich auf christliche Gemeinden stützte. Die Katholische Kirche musste dann Funktionen des Staates in den Zeitperioden übernehmen, wenn es keine staatlichen Strukturen gab oder sie schwach waren. Gerade durch solche historische Gründe ist ein stärkeres soziales Engagement der Katholischen Kirche im Vergleich zu der Orthodoxen zu erklären.

Anders war die Situation im Osten. Das Bysantische Reich war trotz mehrerer Krisen in seiner Geschichte ein recht starker Staat, der 1123 Jahre lang existierte. In der Bysanz übernahm der Staat alle sozialen und wohltätigen Projekte. Unter solch einem starken Staat hatte die Orthodoxe Kirche viel weniger Möglichkeiten, auf die Bildung der Zivilgesellschaft einzuwirken. Es ist ja bekannt, dass bei der Verstärkung der Zivilgesellschaft die Rolle des Staates relativiert wird und umgekehrt. Dabei sei betont, dass die Orthodoxe Kirche in der Bysanz einen riesigen Einfluss auf die Gesellschaft hatte, und die Kaiser sollten dies immer in Rücksicht nehmen. Als Beispiel sei der Streit zwischen dem Patriarchen Nikolaus dem Mystiker und Kaiser Leo 6. Philosophen (866-912) angeführt, als der Kaiser sich zum vierten Mal taufel lassen wollte. Der Patriarch hat gesiegt, und so kann die Orthodoxe Kirche bis heute nur für drei Ehen ihren Segen geben. Als sich aber die historischen Bedingungen änderten, und zwar als die Türken Konstantinopel eroberten, und die orthodoxen Völker unter das Joch des andersgläubigen Staates kamen, begann die Orthodoxe Kirche auf dem Territorium des ehemaligen Bysantischen Reiches, dem unterjochten Volk bei der Erhaltung seiner Identität intensiv zu helfen.

Man kann viele Beispiele des Einflusses der Ukrainischen Orthodoxen Kirche auf die Bildung der Zivilgesellschaft anführen. Über eines davon wird in der Erzählung von Netschuj-Lewytzky „Altweltliche Väter und Mütter“ berichtet. Es geht um die Episode, wo nach dem Tod eines Pfarrers die Gemeinde des Dorfes Wilschanyzja seinen Sohn zum Nachfolger machen will. Und obwohl ein anderer Anwärter eine entsprechende Ausbildung hat, wird der Sohn des Verstorbenen zum Pfarrer. Das ist ein klassisches Beispiel einer Zivilgesellschaft.

Unsere Kirche ist genauso wie die anderen Konfessionen getrennt vom Staat, aber nicht von der Gesellschaft. Wir sind der Meinung, dass nicht der Staat, sondern eine gläubige Gesellschaft als Garantie einer starken Kirche auftritt.“

Mychajlo Tscherenkow, Dr. der Philosophie, Vizepräsident des Verbands „Geistliche Wiederbelebung“, Allukrainische Union der Verbände Jewangelischer Christen-Baptisten

„Im Ausbauprozess der Zivilgesellschaft haben die ukrainischen evangelischen Kirchen zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Möglichkeit bekommen, die evangelische Weltanschauung in Verbindung von privaten und öffentlichen, kirchlichen und kulturellen Dimensionen zu realisieren. Der Schwerpunkt der Teilnahme der evangelischen Kirchen am Ausbau des dritten Sektors ist die Schaffung eines Netzwerkes von wohltätigen Organisationen, christlichen Bildungsstrukturen, Öffentlichkeitsverbänden, Business-Strukturen, unabhängigen Medien usw.

In den letzten Jahren entdeckten die evangelischen Kirchen für sich die Möglichkeiten, am gesellschaftlich-politischen Leben teilzunehmen. Die meisten von ihnen wählten die Werte der europäischen Kultur und Demokratie. Aber man soll mit der weiteren Stärkung der Rolle des protestantischen Faktors in der Politik nicht rechnen. Der wichtigste Einflussbereich der evangelischen Kirchen (die fast immer als Minderheit oder Opposition auftraten) ist die lokale Welt von Individuen, Familien und Kleingruppen. Die evangelische Kirche bleibt nach den Autonomie-Prinzipien von politischen Prozessen distanziert und hat keine Ansprüche auf die Macht. Damit kann die Kirche ihren Einfluss nicht reduzieren, sondern vergrößern. Sie unterstützt ja keine politische Kraft und repräsentiert gewisse universelle geistlich-symbolische Strukturen.

Paradoxerweise entspricht die Rolle der evangelischen Kirchen der Logik der neuen Interpetierung der Zivilgesellschaft, die nicht mehr so stark mit der politischen Tätigkeit von Verbänden und Gruppen verbunden wird, sondern mit der symbolisch-kommunikativen Bereich, in dem Werte, Bedeutungen und Sinne, soziale Normen und Matrixen der gesellschaftlichen Ordnung widergespiegelt werden (nach Habermas). Die Kirchen können als „Sinnfabriken“ (nach Baumann) und die Stelle zur Sozialisierung, Entdeckung einer Persönlichkeit, geistlich-sozialer Rehabilitierung betrachtet werden.

Für unsere ukrainische Gesellschaft fungieren die evangelischen Kirchen als Konsolidierungsfaktor um die Werte der christlichen Demokratie, als Kanal zur Translation der europäischen geistlichen Kultur. Die Krise der europäischen geistlich-kulturellen Tradition wird unterschiedlich wahrgenommen: während sich die konservativen Kirchen mit einem neuen „Eisernen Vorhang“ schützen, wählen die modernen Kirchen einen konsequenten sozial-theologischen Ansatz zur Säkularisierung. Unter den Bedingungen der globalen säkuleren Kultur empfinden sich die evangelischen Kirchen als Zentren zur Erhaltung der christlichen Zivilisation. Hier findet die Wiederherstellung des gerissenen Intertextes der europäischen Kultur statt: des Humanismus und der Reformation, der Religion als Institution und der Glaube als deren Antriebskraft, der weltlichen kultur und der kirchlichen Geistlichkeit.

In der ukrainischen Gesellschaft schützen die evangelischen Kirchen konsequent die Gewissens- und Glaubensfreiheit. Der evangelische Glaube geht von der freien Wahl aller Menschen aus. Dies sieht auch die Logik der Zivilgesellschaft vor: „Die Zivilgesellschaft wird weniger durch den Konsens einer Mehrheit definiert und mehr durch freie Entwicklung einer Persönlichkeit, durch die Einhaltung von Rechten der Minderheiten.“

Ljubomyr (Husar), Oberster Erzbischof der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, Kardinal

„In ihrer Geschichte hatte die Menschheit verschiedene Formen des Privateigentums und sehr verschiedene Formen der Verwaltung. Die Erfahrungen zeigen uns, dass die beste Verwaltungsform, die auch der menschlichen Würde entspricht, die Demokratie ist. Aber gleichzeitig ist es auch die schwierigste Form, denn sie erfordert von jedem Bürger Wissen, Initiative, Verantwortlichkeit und Freiheitsverständnis. Das heißt, dass als Demokrat nur eine reife Person bezeichnet werden kann, die ihrer Würde und ihrer Verantwortung bewusst ist. Daraus folgt, dass sich die meisten Menschen in solch einem Verwaltungssystem besser fühlen, in dem sie weder denken noch die Verantwortung übernehmen müssen. Mit anderen Worten haben es die Menschen gern, wenn sie geleitet werden, und daher lassen sie sich oft von Demagogen leiten, die dies nutzen, und das ist eigentlich gerecht, weil wenn jemand ein Sklave sein will, soll er auch ein Sklave sein.

Ich glaube, dass wenn wir einen Staat aufbauen wollen, und wir sind schon mitten im Prozess, sollen wir versuchen, diesen Staat demokratisch zu gestalten. Das ist keine leichte Aufgabe, weil wir jeden Mann, jede Frau zu Demokraten entwickeln sollen, die ihrer Würde, ihrer Berufung und Verantwortung bewusst sind. Wir stehen also vor einem wirklich komplizierten Anliegen…

Die Grundlage der Demokratie liegt in der Schöpfung des Menschen und in der Ordnung, die uns Gott gegeben hat. Also sollen wir uns unseren judisch-christlichen Traditionen entsinnen. Ich sage „judisch-christlich“, weil es um die Urgeschichte der Menschen geht, um das Alte und das Neue Testament. Das erfordert sehr große Arbeit, und da sollten die Kirchen bei der Erziehung solch eines Menschen mitwirken. Dieser Mensch soll im Stande sein, als Demokrat zu handeln, das soll kein Sklave sein, er soll seiner von Gott gegebenen Talente und seiner Verantwortlichkeit vor Gott bewusst sein. Wir plädieren für keine theokratischen Staaten, wo die Kirche oder die Geistlichen alles verwalten, wie es in einigen Ländern auch heute der Fall ist, wir wollen aber auch keine statalichen Kirchen haben, denn dies würde heißen, dass die Kirche im Dienste des Staates steht. Wir wollen, dass die Kirche ihrer Berufung nachgeht, u.a. die Menschen erzieht, die sich realisieren können.

Hier sehe ich die wichtigste Aufgabe der Kirche: keine gehorsamen Bürger zu erziehen, wie dies totalitäre Regimes sich wünschen, sondern freie und reife Bürger. Gerade hier sehe ich die Rolle der Kirche beim Aufbau der Gesellschaft, über welche wir sprechen.“

Stanislaw Schyrokoradjuk, Bischof der Römisch-Katholischen Kirche:

„Die Frage, was die Kirche heute für die Gesell schaft tun kann, ist sehr schmerzlich. Wir möchten uns mit der Politik nicht beschäftigen. Dies haben auch andere Redner gesagt, und das ist gut so. Aber wir dürfen nicht auf die Erziehung der Politiker verzichten. Niemand ist im Stande, die Politiker so formen, dass sie eine Verantwortung vor Gott und vor dem Menschen fühlen, wie dies die Kirche kann. Deswegen ist es wichtig, zu verstehen, dass bei solch einer Erziehung die Kirche auch eine gewisse Rolle spielen soll.

Solche Sachen, wie die Bewältigung der sozialen Ungerechtigkeit und der Einfluss auf die Menschen mit Wort gehören auch zu Funktionen der Kirche. Und hier ist der Zugang zu Hochschulen sehr wichtig, in denen künftige Politiker und künftige Präsidenten studieren. Nur die Kirche kann solch einen Patrioten erziehen, der sein Volk und seinen Staat nicht verraten wird.

Keine andere Institution kann so etas tun. Nur die Kirche erzieht das Bewusstsein, dass die Menschen vor Got und vor der Gesellschaft verantworten. Deswegen ist das Wort der Kirche sehr relevant. Die Frage ist, inwieweit es verbreitet wird. Heute werden eher verschiedene Perversitäten und Werbungen verbreitet. Worüber berichten und die Medien, was zeigt das Fernsehen? Es ist so gut wie unmöglich, im Fernsehen die Worte zu hören, die erziehen können. Einen Film mit Blutbad kann man aber jederzeit auf allen TV-Kanälen finden. Hier sollten die Kirchen enger zusammenarbeiten. Und jemand sollte dafür verantworten, dass das Wort der Wahrheit und des Evangeliums, das eigentlich als Hauptverfassung dienen sollte, solch einen beschränkten Zutritt zu den Medien hat. Alles andere, was die Menschen demoralisiert, ist umgekehrt sehr verbreitet, deswegen bin ich der Meinung, dass die Kirche hier nicht schweigen darf.“

Bohdan Hawrylyschyn, Vorsitzender der Nationalen Ukrainischen Scout-Organisation "Plast", Dr. Der Philosophie und Wirtschaft, Akademiemitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine

„Was ich jetzt sagen will, mag vielleicht etwas häretisch klingen. Einer der Gründe solch einer gesellschaftlichen Degradierung, insbesondere in den letzten zwanzig Jahren, ist komischerweise die Deklaration über die Menschenrechte. Seinerzeit galt sie als eine der größten Errungenschaften, und das ist klar: Das war die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, nach verschiedenfarbigen Regimes, die den Menschen keine Freiheit garantierten.

Heute benötigen wir eine Deklaration der Menschenpflichten, damit die Menschen wirklich verstehen, dass sie in einer Gesellschaft leben und nicht nur an sich selbst denken sollen, weil dies zum extremen Individualismus hedonistischer Art führt. Heute kennen die Menschen ihre Rechte, ihre Privilegien, aber nicht ihre Pflichten gegenüber der Gesellschaft. Die christliche Kirche hilft hier nicht. Wir glauben daran, dass der Mensch nach Gottes Bild geschaffen wurde, dass er eine Würde hat und einmalig ist. Aber in Verbindung mit der Menschenrechtsdeklaration fühlt sich der Mensch eher einmalig und weniger als Mitglied der Gesellschaft. Das mag hart klingen, aber ich erinnere mich an einige Beispiele aus polytheistischen Religionen. In Sinthoismus gilt der Mensch nicht als einmaliges Geschöpf, und deswegen ist es in dieser Gesellschaft selbstverständlich, dass man mit anderen Zusammenarbeiten soll.

Die Kirche soll das Gebot "Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst" verbreiten, denn dies ist für den Ausbau einer verantwortungsvollen Zivilgesellschaft und des Staates sehr wichtig. Die Rolle der christlichen Kirche ist tatsächlich sehr wichtig, weil die Zivilgesellschaft von ihr eine moralisch-ethische Basis bekommen hat. Man sollte nur die Würde des Menschen mit seinen Pflichten ausgleichen.

Die moralische Degradierung der Gesellschaft ist nicht nur unser Problem, sondern ein Problem der ganzen Welt, insbesondere wenn es um die demokratischen Länder geht. Wenn es aber um die Ukraine geht, dann ist hier das größte gesellschaftlich-staatliche Problem die Korruption. Ihr Bestehen zeugt von der fehlenden Moral. Dieses Problem geht leider nicht von unten nach oben, sondern des öfteren von oben nach unten, deswegen lässt es sich nicht so leicht ausrotten.

Noch ein Punkt ist ganz erschreckend, und zwar der barbarische und primitive Kapitalismus, der heute in der ganzen Welt herrscht und für den ich keine moralisch-philosophische Akzeptanz finde. Wie kann die Wirtschaft auf die Art und Weise bestehen, dass das einzige Ziel der Unternehmen ist es, den Aktienpreis für ihre Aktionäre zu erhöhen, wobei die Menschen zu Ressourcen werden? Sogar der Begriff „human resources” schockiert mich, aber das ist nicht nur ein Begriff. Die Menschen werden wie billigste Ressourcen behandelt, im Vordergrund stehen aber finanzielle und technische Ressourcen. Wenn eine kleine Krise sichtbar wird, werden die Menschen auf die gesellschaftliche Mülldeponie weggeschmissen.

In ihrer Aufklärungsarbeit darf die Kirche keine Angst haben, ihre Meinung über die Ethik, über die Moral in Unternehmen zu äußern. Und jeder Mensch, der der Kirche angehört, und das sind nicht nur die Geistlichen, sollen zeigen, dass sie nicht nur nach Vorteilen suchen, sondern auch Verpflichtungen übernehmen.“

Kostjantyn Sihow, Prof. der Kiewer Mohyla-Akademie, Direktor der wissenschaftlichen Verlagsvereinigung "Geist und Litera"

„Vater Jewstrati hatte das Schlüsselwort "Balance", und meines Erachtens hat es einen Bezug zum anderen Begriff – "Erziehung". Ich glaube, dass die Disbalance in der Ukraine unter anderem auf den fehlenden Dialog zwischen den Kirchen und weltlichen Universitäten zurückzuführen ist. Die weltlichen Universitäten, und das sind die leistungsstärksten Universitäten der Ukraine, bleiben im Feld der postatheistischen Traditionen. Dort gibt es z.B. im Unterschied zu deutschen oder britischen Universitäten keine theologischen Fakultäten. An vielen Universitäten ist das alte postsowjetische Erbe zu spüren. Fast alle Kirchen sagen, dass die christliche Ethik in den Schulen vermittelt werden soll. Wer soll aber die Lehrer in diesem Geist erziehen? Unsere Universitäten stehen abseits von diesem Problem. Also sollte der nächste Schritt als Fortsetzung dieses wichtigen Gesprächs dem Thema der Verbreitung christlicher Werte im System der Hochschulbildung gewidmet werden.

Es wäre schön, wenn unser nächstes Treffen an der Kiewer Mohyla-Akademie stattfinden könnte, dann an der Schewtschenko-Universität und an der Polytechnischen Universität, d.h. an den weltlichen Universitäten. Die Lehrer und Studenten sollen sich den Slogan einprägen, den wir am Schild der Konrad-Adenauer-Stiftung lesen: "Christlich-demokratischer Auftrag". Dieser Auftrag betrifft unmittelbar die junge Generation, die Studenten, die weder die Kirche noch die Zivilgesellschaft verlieren dürfen. Heute ist es aber so, dass junge Menschen, die Bachalor- oder Masterabschlüsse erhalten, vier bzw. sechs Jahre lang nichts über die christlichen Werte hören. Ich glaube, das ist ein Drama für die Ukraine, und meiner Ansicht nach könnte dies als Gegenstand der weiteren Zusammenarbeit zwischen dem Rat der Christlichen Kirchen und der Konrad-Adenauer-Stiftung dienen.

Also glaube ich, dass zwischen den Kirchen und Universitäten solidarische Beziehungen aufgenommen werden sollen, damit das Thema der Zivilgesellschaft und der christlichen Werte neue Schattierungen erhält.“

Mychajlo Kossiw, Abgeordneter der Werchowna Rada der Ukraine, Partei "Reformen und Ordnung", Fraktion des Blocks Julia Timoschenko

„In dem Problem, das auf diesem Rundtisch zur Erörterung angeboten wurde, ist für mich der Begriff "Erfahrungen" sehr relevant. Denn die Ukraine hat wirklich einmalige Erfahrungen in Bezug auf die ukrainische Kirche und auf das ukrainische gesellschaftliche Leben. Warum? Viele Jahrhunderte lang lebte die Ukraine ohne Staat. Wir hatten weder staatliche noch wissenschaftliche oder gesellschaftliche Institutionen. Etwas sollte aber die staatlichen Institutionen ersetzen. Jeder kann aus eigenen Erfahrungen bestätigen, dass gerade die Kirche zu dieser Institution wurde. Als Literat möchte ich ein Zitat aus einem Gedicht von Pawlo Tytschyna vorlesen:

Neben der Kirche erfolgt eine Revolution.

"Der Hirt soll unser Ataman sein" – riefen alle.

"Neben der Kirche" – das war der Ort, wo die ukrainische Geschichte geschrieben wurde. Das ist keine pure Poesie, das ist eine Zeugnis über historische Gegebenheiten, in welchen die Ukraine lebte. Die sowjetischen Jahrzehnte vernichteten die ukrainische Kirche und das ukrainische Dorf. Mit der Vernichtung der Kirche vernichteten sie auch geistliche Grundlagen des Lebens des ukrainischen Volkes. Nun stehen wir aus diesen Ruinen auf.

Was die Erfahrungen der Kirchen und die Zivilgesellschaft angeht, so möchte ich mich gegen den Gedanken einsetzen, dass die Kirche in der Ukraine auf die reale Politik verzichten soll. Vor kurzem habe ich einen Traktat "Ein Politiker auf dem Metropolitenthron" geschrieben. Metropolit Andrij Scheptyzky sprach von sich selbst so: "Ich weiß, dass ich als Politiker auf dem Metropolitenthron oder als Nationalist im Priesterrock bezeichnet werde. Na und? Für mich war kein Bereich fremd von denen, die mir das Volk anvertraut hat". Ist das etwa nicht mehr aktuell? Deswegen sollen wir uns daran erinnern, was im Artikel elf der Verfassung der Ukraine steht, und zwar: Der Staat soll die Wiederbelebung der nationalen Traditionen, der Geschichte, Kultur, Religion und Sprache fördern. Und wenn der Staat sich um die Wiederbelebung der Religion des ukrainischen Volkes – und anderer Völker, die in der Ukraine leben - kümmern soll, dann soll er daran denken, dass die Kirche an der Bildung der öffentlichen Meinung auch aktiv teilnimmt.“

Nico Lange, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew

„Der Begriff der „Zivilgesellschaft“ ist in Europa und auch in der Ukraine allgegenwärtig und sehr populär. Wie das oft bei populären Begriffen vorkommt – sie werden in allerlei verschiedenen Zusammenhängen gebraucht und ihre Bedeutung liegt vielfach im Undeutlichen. Ich persönlich finde es sehr interessant, dass die Wurzel der „Zivilgesellschaft“, der „Civil Society“ in der griechischen Philosophie zu finden ist, zum Beispiel in der „politike koinonia“ die Aristoteles beschrieb. Die Grundauffassung dieser europäischen philosophischen Tradition ist gleichsam verbindend für alle christlichen Kirchen: Das Miteinander der Menschen beruht darauf, dass sie diesem Miteinander auch eine tragfähige Gestalt geben. Und zwar eine Gestalt, die sie selber prägen, die ihnen nicht nur einfach von außen aufgezwungen wird.

Ich glaube, es ist sehr wichtig, deutlich zu machen, dass das Selbstverständnis der christlichen Kirchen es nicht erlaubt, sich von den drängenden gesellschaftlichen Fragen zurückzuziehen. Kirche in der Zivilgesellschaft sollte Themen wie gesellschaftliche Ungerechtigkeit, Friedlosigkeit, Individualisierung, Mitleidlosigkeit, Verletzungen von Menschenrechten, als Herausforderungen akzeptieren und mit einer unverwechselbaren Stimme in der Zivilgesellschaft dazu Stellung beziehen."

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