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Veranstaltungsberichte

Debatte um Verfassungsreformen: Konsolidierung der ukrainischen Demokratie und Beteiligung der Zivilgesellschaft

von Nico Lange
Der Veranstaltungsbeitrag gibt authentische Auszüge aus den Diskussionsbeiträgen wieder, die am 5. März 2008 auf der internationalen Konferenz „Verfassungsreform und Konsolidierung der Demokratie“ in Kiew geäußert wurden. Die Konferenz ist Teil einer Serie von Veranstaltungen zum Thema Verfassungsreform im Jahr 2008 und wurde gemeinsam von der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Werkstatt für Gesetzesinitiativen und dem Europarat organisiert.

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Ihor Kohut, Direktor der Werkstatt für Gesetzesinitiativen

„Die Verfassungsreform und der Verfassungsprozess werden allem Anschein nach zum Leitmotiv des Jahres 2008. Wenn es aber über die Verfassungsreform im Kontext der Konsolidierung der Demokratie geht, dann sollten diese Änderungen vor allem eine vernünftige Gewaltenteilung vorsehen, damit sich der politische Prozess vorwärts bewegt.

Natürlich sind zentrale Teilnehmer der Diskussion über die Entwicklung des Verfassungsprozesses Präsident, Regierung und die Opposition, aber auch die Zivilgesellschaft muss in dieser Hinsicht Berücksichtigung finden. Man hat den Eindruck, dass dieser Begriff seit 2004 von Politikern und Staatsleuten immer seltener genutzt wird. Immer seltener wird die Zivilgesellschaft während der Diskussionen über die letzten Entwicklungen einbezogen, zum Beispiel zuletzt bei der Bildung des Nationalen Verfassungsrates. Ich bin der Meinung, dass die Zivilgesellschaft in diesem Gremium - wie im gesamten Verfassungsprozess - generell viel zu schwach repräsentiert wird. Gerade deswegen haben wir den Öffentlichen Verfassungsausschuss gebildet, über den wir die Verfassungsdiskussion beeinflussen wollen."

Nico Lange, Landesbeauftragter für die Ukraine der Konrad-Adenauer-Stiftung

„Die Debatten über Änderungen der ukrainischen Verfassung, das Verfahren der Verfassungsänderung und die gesellschaftliche und öffentliche Beteiligung daran werden aus meiner Sicht im Jahr 2008 zu den wichtigsten Themen überhaupt in der Ukraine gehören. Ich persönlich denke bei Verfassungsdiskussionen oft an die Auseinandersetzungen während der amerikanischen Revolution und die Verfassungsgebung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die damals erschienenen „Federalist Papers“ gehören zu den faszinierendsten Dokumenten, die ich kenne: Einerseits sind sie theoretisch fundierte Verfassungsdiskussion mit grundsätzlichen Überlegungen und Anregungen aus der gesamten Geschichte politischer Ideen. Anderseits sind die „Federalist Papers“ aber auch ein politisches Argument innerhalb einer intensiven politischen Debatte und verbissener politischer Kämpfe. Ideale Lösungen hat es 1787 nicht gegeben und es wird es jetzt in der Ukraine keine idealen Lösungen geben. Immer wird ein Kompromiss zu finden sein.

Von entscheidender Bedeutung ist jedoch, dass alle interessierten Akteure am Kompromiss beteiligt sind. Manchmal wünscht man sich auch in der Ukraine einen „Publius“, der mögliche Verfassungsänderungen ausführlich bekannt macht und eine breite öffentliche Debatte dazu provoziert. Tragfähige Verfassungen können nicht in einem Hinterzimmer entstehen. Das bisherige Problem der Ukraine war aus meiner Sicht nicht in erster Linie der Verfassungstext sondern seine Akzeptanz und die daraus entstehende Verfassungsrealität. Die Realität einer jeden neuen oder geänderten Verfassung wird stark vom Verfahren ihrer Entstehung, von der Beteiligung aller Akteure aus Politik und Zivilgesellschaft abhängen.“

Thomas Markert, stellvertretender Sekretär der Venedig-Kommission des Europarates

„Die Venedig-Kommission ist in den Verfassungsprozess der Ukraine seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts involviert. Die gegenwärtigen Probleme, die mit der Verfassungsänderung zu tun haben, können folgenderweise definiert werden: Ukrainische Politiker wollen mit den Verfassungsregeln spielen statt nach diesen Regeln zu spielen. Die Verfassung soll den öffentlichen Konsens und den Konsens zwischen den wichtigsten politischen Kräften des Staates widerspiegeln. Gerade deswegen ist das Hauptanliegen der Ukraine zurzeit, solch einen Konsens auszuarbeiten. In Bezug auf den Rahmen der Verfassungsreform würde ich empfehlen, vorsichtig vorzugehen. Die ukrainische Verfassung hat gewisse Artikel, die vielleicht nicht die besten in Europa sind, aber im Allgemeinen den europäischen Standards entsprechen, wie z.B. der Teil über die Menschenrechte. Diese Normen können und sollten verbessert werden, es gibt aber keinen dringenden Bedarf, dies zu machen.

Es sei betont, dass in der Ukraine manche Reformen durchgeführt werden müssen, die mit der Verfassung überhaupt nicht verbunden sind, von ihrer Natur aus aber eine Verfassungsdimension haben. In erster Linie sei in diesem Kontext die Rechtsreform erwähnt. Diese Reform soll sich auf die Ausarbeitung von Mechanismen zur Entwicklung einer neuen Gesetzgebung und zu deren Umsetzung konzentrieren. Vielleicht ist es sinnvoll, die Verfassungsreform gleichzeitig mit der Umsetzung der Gesetzgebung in diesem Bereich durchzuführen. Dasselbe betrifft die Fragen der Dezentralisierung. Die gültige Verfassung gewährt viel mehr Möglichkeiten zur Dezentralisierung des Staates, als bisher genutzt werden. Also sollten in diesem Bereich die Anstrengungen auch auf die Verabschiedung entsprechender Gesetze konzentriert werden. Ein weiterer Problembereich ist die Reform der Staatsanwaltschaft. Hier schlägt die Venedig-Kommission vor, die allgemeine Aufsicht der Staatsanwaltschaft aufzuheben, dies ist relativ einfach zu tun. Viele Fragen entstehen im Hinblick auf das Funktionieren staatlicher Behörden der Ukraine. Hier gibt es tatsächlich ein Problem, das auf den Verfassungstext zurückzuführen ist, und zwar auf die Änderungen, die im Dezember 2004 vorgenommen wurden. Manche Experten sind der Meinung, dass diese Änderungen nicht gut genug ausgearbeitet wurden, andere glauben, dass sie nur einen Zweck hatten, und zwar dass der neue Präsident der Ukraine nicht effizient regieren konnte. Im Ergebnis überlappen sich die Vollmachten verschiedener ukrainischer Institutionen. Unter solchen Bedingungen fällt es der Regierung schwer, stabil und effizient zu arbeiten.

Bei der Ausarbeitung neuer Normen sollten diejenigen prioritär sein, die das Verfahren der Regierungsbildung und Regierungsauflösung regeln. Diese Normen sollen in erster Linie das Bestehen einer stabilen Regierung ermöglichen. Durchaus wichtig ist auch die Definition und Abgrenzung der Vollmachten des Präsidenten und der Regierung. Es sollen klare Kriterien festgelegt werden, welche Behörden wofür zuständig sind. Diese Behörden sollen aber zusammenarbeiten und nicht sich gegenseitig blockieren. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Reform des Wahlgesetzes, deren Ergebnis ein Verzicht auf reines Verhältniswahlrecht sein sollte. Prioritär ist auch die Gewährleistung der Arbeit der Werchowna Rada. Es ist ja nicht normal, wenn Abgeordnete aus der Minderheit das Funktionieren des gesamten Parlaments einschränken. Das hat mit der Verfassungsreform nichts zu tun, es geht nur um die Vollmachten des Sprechers, die auf der Geschäftsordnung des Parlaments basieren sollen. Also gibt es in der Ukraine eine Reihe von Problemen, die dringend gelöst werden sollen. Man sollte sich aber nicht der Illusion hingeben, dass dies nur durch Verfassungsänderungen möglich wäre.“

Wolodymyr Schapowal, Vorsitzender der Zentralen Wahlkommission der Ukraine, Richter des Verfassungsgerichts der Ukraine a. D., Dr. der Rechtswissenschaften, Professor

„Wenn wir über die Verfassungsreform sprechen, müssen wir einige Konstanten definieren. Die erste besteht darin, dass der Bedarf einer systematischen Verfassungsreform aktuell ist. Dafür gibt es mehrere Gründe, vor allem politische, wie z.B. fehlende Fähigkeit, das Grundgesetz anzuwenden und umzusetzen. Eine Konstante ist auch die Tatsache, dass die Verfassungsänderungen 2004 keinen Erfolg hatten. Juristisch gesehen waren sie unseriös, in politischer Hinsicht blanker Spott. Die dritte Konstante sind unsere früheren Erfahrungen bei der Ausarbeitung der Verfassung. Die Verfassung war nicht ideal. Ich bin sehr skeptisch bei der Aussage, dass wir „die fortgeschrittenste Verfassung in Europa“ hätten. Dies stimmt ja nicht. Die Verfassung 1996 war eine Art Symbiose aus sowjetischen und neuen Elementen. Das war die erste Verfassung der postsowjetischen Ukraine. Nun sind wir hoffentlich vorangekommen, deswegen sollten diese früheren Ideen allmählich überwunden werden. Als einstiger Verfassungsrichter kann ich sagen, dass sich in der gültigen Verfassung viele Punkte widersprechen. Dadurch entstanden Probleme bei der Auslegung und bei der Anwendung von Normen des Grundgesetzes, manche Politiker konnten dies zu ihrem Vorteil nutzen. Eine Konstante ist auch die Tatsache, dass in unserem Lande seit der Unabhängigkeit eine Dynamik gesellschaftlicher und politischer Änderungen zu verzeichnen ist, die davon zeugt, dass wir uns immer noch in der Transformationsperiode befinden. Diese geht erst dann zu Ende, wenn in der Ukraine wirklich eine Zivilgesellschaft bestehen wird. Und solange die Parteien eine Art politische Interessenclubs bleiben und als Projekte zu allen Wahlen gebildet werden, werden wir auch Probleme mit der Anwendung stabiler Modelle wie der parlamentarischen oder präsidentiellen Republik haben.

Wenn wir versuchen, etwas zu machen, zu verfassen oder zu erörtern, müssen wir diese Konstanten berücksichtigen. Mich persönlich wundert die ukrainische Diskussion darüber, was und wie umgesetzt werden soll. Es wird behauptet, dass wir früher eine präsidentiell-parlamentarische Republik hatten, die sich in eine parlamentarisch-präsidentielle Republik transformierte. Es ist aber nicht klar, wo eine deutliche Grenze verläuft. Solch eine Beschränktheit stört bei der Erörterung konkreter Elemente der Verfassung. Es ist kompliziert, eine Situation einzuschätzen, wenn jemand mit einem klugen Gesichtsausdruck über eine parlamentarische Republik ohne Präsidenten spricht. Wo gibt es dafür Beispiele? Das ist ein mutiertes sowjetisches Modell, das bei weitem nicht parlamentarisch ist. Es wird auch darüber gesprochen, dass die neue Verfassung nicht angenommen werden darf. Warum werden dann internationale Erfahrungen nicht berücksichtigt? Es gibt juristische Maximen: ein neues Gesetz ersetzt das alte. Das größte Problem ist aber, dass bei uns weder 1996 noch 2004 eine enge Verbindung zwischen dem Sozius bestand, für den diese Formulierung von Verfassungsnormen stattfindet, und denjenigen, die die Verfassung entwickelten und verabschieden. Auch heute gibt es diese Verbindung nicht.“

Ihor Koliuschko, Direktor des Zentrums für politische und rechtliche Reformen

„Die erste Frage, die im Kontext der Diskussionen über die Verfassungsreform gestellt werden soll, ist: Haben wir in der Ukraine eine Verfassungskrise? Die meisten Fachleute und Politiker meinen, das Problem sei tatsächlich vorhanden, obwohl sie hier verschiedene Gründe sehen: man spricht über das System der Balance zwischen Präsident, Parlament und Regierung; über mangelnde Verfassungsressourcen für die Durchführung der munizipalen Reform; über die Probleme des Funktionierens des Höchsten Justizrates und seiner Vollmachten; über die Probleme des Verfassungsgerichts; über die Erweiterung der Vollmachten der Staatsanwaltschaft usw. Was soll man nach der Feststellung der Probleme tun? Man soll analysieren, warum sie entstanden sind. Hier sind zumindest vier mögliche Voraussetzungen vorhanden. Erstens geht es um die Mängel des Verfassungstextes. Es kann aber auch um falsche gesetzliche Regelung von Fragen gehen, die von der Verfassung geregelt werden könnten. Ein weiterer Grund kann die Weigerung der Politiker sein, die Normen des Grundgesetzes zu erfüllen (da entsteht aber die Frage, ob sie die neue Verfassung erfüllen werden). Die vierte Möglichkeit ist, dass eine politische Kraft versucht, die Verfassungsordnung zu ändern, denn sie glaubt, dass wir nach anderen Regeln besser leben werden. In diesem Fall sollte diese politische Kraft ihre Absicht klar verkünden. Stattdessen sprechen bei uns alle über die Verfassung, der Präsident erklärt 2008 zum „Jahr der Verfassung“, niemand gibt aber klare Antworten auf die oben angeführten Fragen. Niemand veröffentlicht Materialien darüber, wie das gültige Grundgesetz – all seine Artikel - erfüllt wird. Es gibt keine entsprechende Diskussion in wissenschaftlichen Kreisen. Dadurch entsteht ein Verdacht, dass die Verfassungsänderungen nur ein Instrument bei der Machtumverteilung sind.

Davon ausgehend vereinigten sich die Leiter von öffentlichen analytischen Zentren in einem Öffentlichen Verfassungsausschuss, um das Recht der Gesellschaft auf die Teilnahme an der Verfassungsreform zu verteidigen. Im Einklang mit ähnlichen Reformen in demokratischen Ländern haben wir auch ein Verfahren entwickelt. In erster Linie soll eine Analyse durchgeführt werden, welche Probleme in der aktuellen Verfassung bestehen. Dafür haben wir einen Entwurf des „Grünen Buches der Verfassungsreform“ ausgearbeitet. Dies führte aber zu keiner Diskussion in der Gesellschaft oder in der politischen Szene. Nach der Erörterung der Probleme sollten Wege zu deren Bewältigung behandelt werden. Nach den Erklärungen der Politiker habe ich aber einen Eindruck, dass die Gesellschaft überhaupt keine Möglichkeit bekommt, diese Fragen zu besprechen. Sie sagen nur, dass ein Referendum über die Verfassung durchgeführt werden soll, und zwar ganz schnell, bereits in einigen Monaten. Das sieht aber nach einem Kauf der Katze im Sack aus.“

Mychajlo Pohrebinsky, Direktor des Zentrums für politische Studien und Konfliktstudien Kiew

„Die ukrainische Gesetzgebung und Verfassung definieren klar und deutlich das Verfahren der Verfassungsreform. Die höchsten Amtspersonen des Landes kennen aber diesbezüglich keinerlei Rücksichten. Es wird immer wieder die Frage behandelt, wie die Änderungen vorgenommen oder wie die neue Fassung verabschiedet werden sollten, über das Wesen der Änderrungen gibt es aber keine Gespräche. Die Menschen, die im Nationalen Verfassungsrat arbeiten, sagen, dass sie keine Ahnung hätten, welche Variante der Verfassungsänderungen Juschtschenko haben möchte. In der Tat wissen sie es. Die Absichten des Präsidenten kann man nach den Gesetzentwürfen erkennen, die auf seine Initiative in die Werchowna Rada eingebracht werden. Man muss kein Fachmann auf dem Gebiet des Verfassungsrechts sein, um das Vorhaben des Präsidenten zu begreifen: Juschtschenko will solche Verfassungsnormen haben, die ihm ermöglichen würden, im Lande allein zu regieren.

Derzeit wird über Fehler der gültigen Verfassung viel gesprochen. Als Person, die an der politischen Reform 2004 teilgenommen hat, kann ich sagen, dass wir damals davon ausgegangen sind, dass wenn die Regierung, der Präsident und das Parlament die Vollmachten haben werden, die sie heute haben, werden sie einfach gezwungen, Kompromisslösungen einzugehen. Wir haben uns geirrt. Nun sehen wir, dass die Widersprüche, die die gültige Verfassung hat (übrigens hat jede Verfassung Widersprüche), unsere Politiker doch zu keinen Kompromissen zwingen. Umgekehrt: Heute geht es um die Schaffung einer solchen Verfassung, die die ganze Machtfülle nur einer Institution gewähren würde. Solch eine neue Verfassung würde aber eine Neubildung der ukrainischen Staatlichk eit bedeuten. Gerade mit der Verfassung 1996 wurde der in der ganzen Welt anerkannte ukrainischer Staat und die ukrainische Gesellschaft gegründet. Die heutigen Prozesse um die Verfassungsreform sind sehr gefährlich und können zur Delegitimierung unseres Staates führen.“

Serhij Holowaty, MdWR, Fraktion der Partei der Regionen

„Die Verfassung 1996 war ein Akt des ukrainischen Verfassungspatriotismus. 1997 wies die Venedig-Kommission darauf hin, dass sie wirklich nicht vollkommen sei und europäischen Standards nicht entspreche. Es wurden auch konkrete Änderungsempfehlungen gegeben. Mehr als zehn Jahre sind vergangen, aber weder Präsident noch Abgeordnete haben etwas unternommen, um das Grundgesetz 1996 im Einklang mit den Empfehlungen der Venedig-Kommission nachzubessern. Es gab viele Vorschläge zur Verfassungsänderung, aber keiner davon sah vor, diese Empfehlungen in vollem Umfang zu berücksichtigen.

Bei der Erörterung von Verfassungsentwürfen sollen vor allem die Inhalte und der Rahmen der vorgeschlagenen Änderungen beachtet werden. Infolge einer Reform kann z.B. ein qualitativer Wandel erfolgen, wo eine republikanische Regierungsform durch die monarchische ersetzt wird. In diesem Fall sollen die Änderungen zur neuen Verfassung durch ein Referendum bestätigt werden. Dasselbe betrifft die Änderung des unabhängigen Status des Staates, z.B. eine Unionsbildung mit Russland oder den EU-Beitritt. Die Verabschiedung einer neuen Verfassung in allen anderen Fällen ist fragwürdig.

Im Allgemeinen sind alle Parameter der Verfassungsänderungen in der Ukraine bereits definiert worden, und zwar von der Venedig-Kommission. Es geht um die Menschenrechte, über Referenden, über das Dreieck Präsident-Parlament-Regierung, über das imperative Mandat, über die Staatsanwaltschaft, über die Judikative, über die lokale Selbstverwaltung, über den Status der staatlichen Verwaltungen usw. Diese Empfehlungen bedeuten aber nicht, dass eine neue Verfassung angenommen werden soll. Die Verfassung 1996 beruht auf den besten Traditionen der westlichen liberalen Ideen, daher ist es heute wichtig, von diesen europäischen Standards nicht abzuweichen, gemeint sind sowohl der Inhalt der Verfassung als auch das Änderungsverfahren.“

Serhij Rachmanin, Redakteur des Politik-Ressorts der Wochenzeitung „Dserkalo Tischnja“ („Wochenspiegel“)

„Bei all diesen Diskussionen über die Verfassungsreform frage ich mich: wozu brauchen wir Änderungen, wenn wir Probleme mit der Erfüllung und Anwendung der Verfassung haben? Gibt es Garantien, dass die neue Verfassung eingehalten wird? Ich bin der Meinung, dass wir über die Qualität der Verfassung 1996 überhaupt nicht sprechen können, weil niemand sie je wirklich befolgt hat. Das Grundgesetz darf überhaupt etwa zehn Jahre lang nicht angetastet werden. Dann kann man sehen, was darin falsch und was zu ändern ist. Heute kann man mit Bestimmtheit sagen, dass alle politischen Kräfte, die für die Verfassungsreform plädieren, die Verfassung nicht verbessern, sondern verändern wollen. Aber wir wissen, dass unsere Politiker ihre Einstellung zur Verfassungsreform in den drei letzten Jahren mehrmals geändert haben. Das ist ein weiteres Argument gegen die Verfassungsänderungen heute. Mir ist es egal, welche Variante durchgesetzt wird: „starke Präsidentenmacht“ oder „starke Parlamentsmacht“. Die Anhänger dieser Ideen haben nicht vor, die Verfassung zu verbessern. Für sie ist die Verfassungsreform ausschließlich ein Instrument des politischen Kampfes. Wenn sie die Verfassung wirklich ändern möchten, sollten sie zunächst ein normales Gesetz über das Referendum verabschieden. Ein weiterer Punkt ist die Rechtsreform als Teil der Verfassungsreform. Schauen Sie mal, wie viele rechtliche Regelungen in der letzen Zeit aufgehoben, eingestellt und wieder aufgenommen wurden. Allem Anschein nach fehlt uns ein Gesetz über die rechtlichen Regelungen. Es würde die Hälfte unserer Streitigkeiten relativieren. Die Verfassung definiert nur grundsätzliche Sachen, sie soll keine Erläuterungen zu jedem Anlass haben. Und das Verfassungsgericht ist nicht dafür da, um jedes Komma in der Verfassung auszulegen. Dafür soll es ein Gesetz geben, dass nach wie vor nicht verabschiedet worden ist.

Deswegen ist es egal, welcher Verfassungsentwurf durchgesetzt wird: Er wird jedenfalls keinen Ausgleich enthalten, wie ihn die Verfassung 1996 mit all ihren Mängeln hatte. Denn dies war eine Art Kompromiss, jetzt aber werden wir keine Kompromisslösung erzielen. Welche Änderungen wir auch immer vornehmen werden, in einem halben Jahr wird gesagt werden, dass sie das Grundgesetz nur schlechter gemacht hätten, daher sollte es dann wieder geändert werden. Die Frage der Verfassungsreform sollte auf eine gewisse Zeitperiode von der Tagesordnung abgesetzt werden, und danach sollte jeder Aspekt sehr gut durchdacht werden.“

Mykola Kosjubra, Lehrstuhlinhaber für Staat und Recht, Kiewer Mohyla-Akademie, Richter des Verfassungsgerichts a. D.

„Ich würde nie sagen, dass die Verfassung 1996 höchstvollkommen war. Aber nach den Änderungen 2004 habe ich mich kategorisch dafür eingesetzt, dass das Verfassungsgericht diese Änderungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüft. Dies ist nicht geschehen. Eigentlich hat der Prozess der Verfassungsänderungen noch vor dem Referendum 2000 begonnen. Ich bin zuversichtlich, dass solch eine ernsthafte Angelegenheit nicht von Politikern entschieden werden soll, deren Meinung oft von ihrer Fraktionsangehörigkeit abhängt. Aber ich habe mich trotzdem bereit erklärt, den Vorschlag des Staatsoberhaupts zur Verbesserung des Verfassungstextes zu erfüllen – schließlich bin ich ein Professor an einer staatlichen Hochschule. Ich kann nicht sagen, dass die Gruppe, in der ich gearbeitet habe, einen öffentlichen und freien Auftrag hatte. Wir versuchten, in unserem Entwurf unsere Vision darzustellen. Aber statt diesen Entwurf nun öffentlich zu besprechen, werden wir mit vielen Spekulationen um die von uns angebotenen Änderungen konfrontiert.

Es sei betont, dass das Verfahren der Einbringung von Verfassungsänderungen durch den Rahmen der Verfassungsänderungen definiert wird. Die Verabschiedung einer neuen Verfassung unterscheidet sich bedeutend von der Einbringung von Änderungen zum gültigen Grundgesetz. In der Regel wird eine solche Möglichkeit in den Verfassungen anderer Länder nicht verankert, damit ihre gültigen Fassungen stabil sind. Dieser Mechanismus ist auch in der ukrainischen Verfassung nicht verankert, und als Insider kann ich sagen, dass dies mit Absicht gemacht wurde. Ich bin kein Anhänger der Annahme einer neuen Verfassung, und nicht nur, weil das Potential der gültigen bei weitem nicht erschöpft worden ist. Es gibt auch andere Gründe. Wir haben ja nicht vor, einen neuen Staat zu gründen oder das Regime in unserem Staat zu ändern. Wir gehen auch nicht davon aus, dass die Verfassung 1996 ein provisorisches Papier für eine Übergangsperiode war, das nun gegen ein festes Dokument ersetzt werden soll. Es gab auch keine radikalen Veränderungen im wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Leben unserer Gesellschaft, die eine Notwendigkeit verursacht hätten, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Also gibt es keine Grundlage, über die Verabschiedung einer neuen Verfassung zu sprechen.

Nun bleibt die Frage über die Änderung der gültigen Fassung. Es gibt lokale und Systemänderungen. Ich würde mich für Systemänderungen einsetzen, die vielleicht auch als Verabschiedung einer neuen Verfassung bezeichnet werden können. Das Verfahren dieser Änderungen wird im Kapitel 13 klar beschrieben. Ich habe aber Bedenken, ob diese Prozedur unter den heutigen politischen Bedingungen möglich ist. Manche Politiker wollen – wahrscheinlich aus politischen Gründen – an den Verfassungsänderungen überhaupt nicht arbeiten. Wir sollten aber trotzdem versuchen, eine Kompromisslösung zu finden. Wenn dies sich als unmöglich erweist, werden wir nach anderen Varianten suchen müssen. Aber offen gesagt zählen die Verfassungsänderungen nicht zu prioritären Aufgaben unseres Staates, das ist die öffentliche Meinung.

Ist es möglich, die Verfassungsänderungen im Rahmen eines landesweiten ukrainischen Referendums zu verabschieden? Es gibt entsprechende Beispiele, aber sie kommen aus dem postsowjetischen Raum, aus Russland und Kasachstan. Ich bin kein Anhänger eines Referendums. Wenn an der Verfassungsreform keine repräsentativen Gremien teilnehmen werden, wird ihre Legitimation fragwürdig sein. Immerhin ist die Idee über die Schaffung einer Verfassungsversammlung existenzberechtigt. Umgesetzt werden kann sie aber nur unter der Bedingung einer tatkräftigen Zivilgesellschaft und einer breiten öffentlichen Bewegung für die Verfassungsreform.“

Denis Kowryshenko, Experte der Werkstatt für Gesetzesinitiativen

„Im Allgemeinen sehe ich drei Mechanismen zur Revidierung der gültigen Verfassung. Erstens geht es um die Aufhebung der Änderungen 2004. Es gibt Grundlagen für eine entsprechende Entscheidung des Verfassungsgerichts. Die Frage ist, wie richtig dann diese Frage in politischer Hinsicht sein wird. Auf jeden Fall wird später sowieso eine Frage über die Revision der Verfassung entstehen.

Die zweite Variante betrifft die Eintragung von Änderungen gemäß dem Kapitel 13 des Grundgesetzes. Heute wäre dies die passabelste Variante, die aber aus politischen Gründen als unrealistisch erscheint. Darüber hinaus sei betont, dass für die Änderungen der Kapitel über die Staatsordnung ein nationales Referendum durchzuführen ist. Das heutige Gesetz über Referenden entspricht weder der gültigen Verfassung noch europäischen Standards, daher ist die Durchführung eines solchen Referendums so gut wie unmöglich. Ich habe auch Bedenken, dass ein neues Gesetz über Referenden verabschiedet werden kann, das die Annahme einer neuen Verfassung über ein Referendum vorsehen würde.

Die dritte Variante ist die Eintragung von Änderungen oder die Verabschiedung einer neuen Verfassung außerhalb des Parlaments. Es geht um die Annahme der Verfassung im Rahmen eines Referendums, wenn die Vorschläge des Nationalen Verfassungsrates vom Parlament abgelehnt werden. Dieses Verfahren ist aber auch fragwürdig. Außerdem ist eine Verfassungsreform mittels des Referendums auf die Initiative des Volkes nicht demokratisch, denn das Volk hat so gut wie keine Möglichkeit, auf den Verfassungstext Einfluss zu nehmen, den es auf dem Referendum bestätigen soll.

Nach der Analyse all dieser Varianten können wir kaum erwarten, dass die Verfassungsänderungen eingebracht und von der Gesellschaft und politischen Akteuren akzeptiert werden. Deswegen ist meine Einstellung zur Möglichkeit der Verfassungsänderungen recht skeptisch, insbesondere im Jahre 2008.“

Ihor Popow, Leiter des Wählerkomitees der Ukraine

„Die meisten Experten sind sich einig, dass die Verfassungsreform nicht auf die Art und Weise durchzuführen ist, die von der gültigen Verfassung vorgesehen ist (durch einen Konsens im Parlament). In der Werchowna Rada sind situative Vereinbarungen, Kartellabsprachen, taktische Zusammenarbeit, aber keine strategische Arbeit zur Verfassungsänderung möglich. Deswegen ist diese Variante eher utopisch.

Ein Szenario, das nicht zugelassen werden darf, ist die Ausarbeitung des Entwurfes zu Verfassungsänderungen durch eine Arbeitsgruppe des Präsidenten, die Billigung dieses Entwurfes durch den Nationalen Verfassungsrat und dessen Bestätigung auf einem landesweiten ukrainischen Referendum mit direkt bindender Wirkung. Dieses Verfahren sieht viel zu kurz und vereinfacht aus. Wenn jemand versucht, dieses Szenario zu realisieren, sollte die ukrainische Zivilgesellschaft dagegen sehr hart und kategorisch vorgehen. Der Austritt der Partei der Regionen aus dem Verfassungsrat hat bestätigt, dass der Präsident es nicht geschafft hat, die Koordinatorenrolle im Verfassungsprozess zu übernehmen.

Welches Szenario wäre denkbar? Das Vertrauen gegenüber der Werchowna Rada ist heute niedrig und liegt beinahe im Null-Punkt. Während der Parlamentskrise konnte der Präsident nicht an Vertrauen gewinnen, um die Nation zu vereinigen. Das Verfassungsgericht hat seine gesellschaftliche Legitimation bereits vor einem Jahr verloren. Deswegen unterstütze ich den Vorschlag des Öffentlichen Verfassungskomitees über die Schaffung einer Verfassungsversammlung und über alle weiteren Schritte, damit die beste der schlechten Alternativen umgesetzt werden kann. Daher soll die Öffentlichkeit über den Verfassungsprozess intensiv diskutieren, und zwar nicht nur in Kiew, sondern auch in den Regionen.

Womit können wir in der Zukunft rechnen? Es kommt zur Zuspitzung der politischen Krise, zur Auflösung der Mehrheitskoalition und zur Entlassung der Regierung von Tymoschenko. Es werden vorgezogene Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen durchgeführt. Während der Wahlkampagne wird wiederum über die Verfassungsreform spekuliert. Letztendlich wird sich die alte Krise fortsetzen. Unter den Bedingungen einer Krise darf die Verfassung nicht geändert werden. Deswegen wird im Versöhnungsvertrag u.a. um die Art und Weise der Verfassungsänderungen oder um ein Moratorium auf solche Änderungen gehen, aber keinesfalls um den Text der Verfassungsänderungen, denn das ist viel zu kompliziert.“

Oleh Donij, MdWR, Fraktion Nascha Ukraina - Selbstverteidigung des Volkes

„Unter den heutigen Bedingungen ist die Durchführung eines Referendums in der Ukraine sehr fragwürdig. Ich glaube, es wäre besser, auf eine gewisse Zeitperiode ein Moratorium darauf einzuführen. Da die ukrainische Nation bikulturell ist und dieser Umstand mit der regionalen Teilung übereinstimmt, spitzt jedes Referendum die Konfrontation in der Ukraine zu. In diesem Kontext sind die Frage der Verfassungsreform, der Einstellung zur NATO und die Frage der Sprachen in der Ukraine zu betrachten. Daher soll die politische Elite nach Kompromissen suchen, und der einzige Ort für diese Suche soll das Parlament sein.

Was das Wesen möglicher Verfassungsänderungen angeht, so geht es hier um minimale Änderungen. Zur Meidung von Konfrontationen innerhalb der Exekutive reichen „kosmetische Reparaturen“ aus. So könnte z.B. die Möglichkeit der Regierungsbildung durch zwei Einflusszentren beseitigt werden. Nur ein Zentrum soll bestehen. Dasselbe betrifft Vorsitzende von staatlichen Gebiets- und Kreisverwaltungen. Das Schema, nach dem sie vom Ministerkabinett vorgeschlagen und vom Präsidenten bestätigt werden, versagt zurzeit. Insbesondere wenn Präsident und Premier verschiedene politische Kräfte vertreten. Dies sollte auch geändert werden, die Exekutive sollte einheitlich sein. Die politischen Kräfte im Parlament sind doch im Stande, eine gemeinsame Sprache zu finden, um die politische Situation im Lande zu verbessern, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Gefahr der nächsten Präsidentschaft mit gemischten Vollmachten die ganze politische Szene betrifft, unab hängig davon, wer bei der Präsidentschaftswahl siegen wird. Deswegen könnte der Kompromiss die Reduzierung der Präsidentenvollmachten sein, denn dies würde das Problem der doppelten Exekutive beseitigen.

Die Idee über die Schaffung einer Verfassungsversammlung sieht nur auf den ersten Blick sinnvoll aus. Interessierte Politiker können sie für ihre Zwecke instrumentalisieren. Deswegen ist die Verteidigung des bestehenden Rechts das Einzige, was heute zu tun ist.“

Jurij Miroschnytschenko MP, Fraktion der Partei der Regionen:

„Warum neige ich dazu, dass die Verfassung geändert werden soll? Erstens weil in der Ukraine keine realistische Volksherrschaft gesichert ist. Die Verfassung hat viele deklarative Rechte und Freiheiten, aber keine Verfahren und Mechanismen, die diese garantieren würden. Das zweite Problem betrifft das Bestehen von zwei Zentren, die die Exekutive beeinflussen. Wer auch immer der Präsident und Premier gerade sind - dieser Konflikt bleibt erhalten. Der dritte Umstand ist die Demütigung der lokalen Selbstverwaltung. Die Ebene der territorialen Gemeinde und die regionale Ebene müssen mit mehr Instrumenten zur Beeinflussung der lokalen Politik versorgt werden.

Ich bin dafür, dass die Verfassung auf die Art und Weise geändert wird, die in ihrer gültigen Fassung vorgesehen ist. Ein allgemeines Referendum über die Änderung des Grundgesetzes kann dazu führen, dass die Ukraine zwei Verfassungen haben wird. Das wäre ein Abenteuer, das von verantwortungsbewussten Menschen nicht einmal erörtert werden darf.

Heute sieht die objektive Situation in der ukrainischen Gesellschaft und in der politischen Szene so aus, dass ein Szenario der Verfassungsänderungen mittels des Referendums nicht durchgesetzt werden kann. Dasselbe betrifft die Verfassungsänderungen über das Parlament, weil dieses keine konsolidierte Grundlage hat. Also werden wir vor den Präsidentschaftswahlen das Grundgesetz kaum ändern, und das ist aus meiner Sicht gut so. Man darf die Verfassung nicht ändern, weil der politische Moment dafür gerade jemandem gut passt.“

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