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„Ich fühlte großes Bedauern für die Ungarn“ - Artikel aus der Budapester Zeitung, 27.10.2003

BZ-Interview mit dem Schriftsteller Erich Loest zum Aufstand im Jahr 1956

Vergangene Woche besuchte der deutsche Schriftsteller Erich Loest auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung Budapest. In der Andrássy-Universität und im Goethe-Institut stellte er sein neues Buch „Der vierte Zensor“ vor. BZ-Herausgeber Jan Mainka unterhielt sich mit dem 77-Jährigen unter anderem über die Volksaufstände in Ostberlin und Budapest.

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- Wie haben Sie den Ungarn-Aufstand 1956 erlebt?

Ich war nicht überrascht von der Nachricht. Kurz zuvor, im August, war ich für vier Wochen in Ungarn. Zusammen mit meinem Schriftstellerkollegen Erwin Strittmatter stattete ich dem Land als Austauschschriftsteller einen Besuch ab. Wir bekamen damals viel mit von der explosiven Situation in der Gesellschaft.

- Wie äußerte sich diese?

Innerhalb des Schriftstellerverbands gab es extreme Auseinandersetzungen zwischen Ost- und Westemigranten, orthodoxen Kommunisten und eher der Sozialdemokratie zuneigenden Schriftstellern. Auch der Konflikt zwischen den so genannten Urbanen und Dorfschriftstellern war schon da. Es wurde viel getrunken und geraucht, bis tief in die Nacht hinein fetzte man sich. Besonders an die Gespräche mit Tibor Déry erinnere ich mich.

- Wie reagierten Sie auf die Nachricht vom Aufstand?

Richtige Freude konnte nicht aufkommen, da mir klar war, dass der Aufstand nicht einen Funken Hoffnung hatte. Ich fühlte ein großes Bedauern für die Jungs, die für mich ganz offensichtlich in den Tod gingen. Genährt von der irrsinnigen Hoffnung, dass der Westen eingreift und die Russen ihre Beute so einfach fahren lassen. Es herrschte ein großes Missverhältnis zwischen dem, was der Westen via Radio verlauten ließ und was die westlichen Regierungen wirklich dachten und vorhatten.

- Hatten Sie danach noch Kontakte zu Ungarn?

Nein. Ich war im Gefängnis und viele meiner ungarischen Kollegen ebenso. Erst nach der Wende habe ich Ungarn wieder besucht.

- Wie bewerten Sie Ungarns Anteil an der Wende in Ostdeutschland?

Wenn in Leipzig am Fundament der Mauer gerüttelt wurde, hat die ungarische Regierung mit der Grenzöffnung einen wichtigen Stein entfernt und das Ende der DDR beschleunigt. Ungarns Herrschende wussten die Zeichen der Zeit zu deuten und verhielten sich geschickt.

- Wie bewerten Sie die Leistung der deutschen Spitzenpolitiker bei der Wiedervereinigung?

Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hat Hervorragendes geleistet. Als einem der ersten schien ihm klar gewesen zu sein, dass es Zeit zum Handeln war. Geschickt hat er mit den beteiligten Ländern das maximal Mögliche ausgehandelt. Die Rolle von Bundeskanzler Helmut Kohl sehe ich aber als deutlich überbewertet an. Er hat nichts anderes gewollt, als die Wahlen zu gewinnen. Dazu war ihm jedes Mittel recht, etwa das Wecken der fatalen Hoffnung von den „blühenden Landschaften“ oder auch die Währungsreform, der Höhepunkt des wirtschaftlichen Wahnsinns.

- Ist von Ihnen schon etwas auf Ungarisch erschienen?

Leider nicht, was ich sehr schade finde. Immerhin handeln meine Werke von einer Vergangenheit, die auch den Ungarn nicht fremd ist. In vielen europäischen Ländern sind bereits Übersetzungen erschienen, vor allem von meinem bekanntesten Werk „Nikolaikirche“. Mir als Leipziger liegt der Roman schon allein deshalb so am Herzen, weil er daran erinnert, dass das Regime keineswegs in Ostberlin scheiterte. Während am 9. Oktober 1989 in Berlin einige hundert Demonstranten auf der Straße waren, beteiligten sich am gleichen Tag mehr als 70.000 an der Leipziger Montagsdemo. Dieser 9. Oktober in Leipzig war der Durchbruch.

- Die „Nikolaikirche“ gilt inzwischen als der Wenderoman schlechthin, kein 3. Oktober, ohne dass dessen Verfilmung auf einem TV-Kanal läuft. Warum gibt es noch immer nicht „den Roman“ des 17. Juni?

Darauf weiß ich keine Antwort. Nur so viel: Ich selber arbeite intensiv an diesem Stoff. In vielleicht zwei Jahren werde ich mit einem Roman zum 17. Juni fertig sein. In meiner Absicht wurde ich auch durch die verblüffend große Aufmerksamkeit bestärkt, mit der vor einigen Monaten der 50. Jahrestag des Volksaufstands begleitet wurde.

Das Gespräch führte Jan Mainka,

Budapester Zeitung, 27.10.2003

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