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„The Brussels Attacks and the Disorder of Europe“

Aktuelle US-amerikanische Perspektiven auf die EU – Fünf Herausforderungen im Mittelpunkt der Diskussion

Was sagen die Experten in den USA zu den Entwicklungen in der EU und auf der transatlantischen Ebene? Was halten sie von einem möglichen "BREXIT"? Was meinen sie in Bezug auf die Flüchtlingskrise in Europa? Welche Ideen haben sie und wie sollte sich die transatlantische Zusammenarbeit in der Zukunft gestalten?

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In den USA werden die Entwicklungen in Europa mit Sorge kommentiert. Besonders die auf Eis gelegte Beziehung zu Russland, Flüchtlingskrise, wachsende Euro-Skepsis und das anstehende Referendum der Briten zum möglichen BREXIT beschäftigt die Experten. Kurz, der zweifellos wichtigste Partner der USA, die Europäische Union, steht in den Augen der Beobachter hier vor einem schicksalhaften Sommer. Genug Gründe, um am 07. April 2016 in Washington gemeinsam mit Esther Brimmer (Professorin der Internationalen Beziehungen, GWU), Michael Leigh (Senior Fellow, GMF), Erik Jones (Professor der Europa-Studien, SAIS), dem Belgischen Botschafter, Johan Verbeke, und vielen weiteren internationalen Vertretern in den Räumen des German Marshall Funds zusammen zu kommen und die aktuelle Lage Europas zu analysieren.

Zu Beginn der Diskussion legten alle drei US-amerikanischen Experten, ausgehend von den Terroranschlägen in Brüssel, ihre derzeitige Sichtweise auf die Situation Europas dar. Mit welchen Problemen gilt es sich ihrer Meinung nach primär zu beschäftigen? Michael Leigh erklärte, dass derzeit fünf Herausforderungen bestünden, denen sich Europa im Kern gegenübersieht.

Erstens: Die Flüchtlingskrise und vor allem die damit verbundenen integrationspolitischen Langzeitfolgen für die aufnehmenden EU-Staaten. Außerdem betonte er, dass es unmöglich schien, angesichts der Vielzahl an Geflüchteten, die innerhalb von kurzer Zeit an Europas Außengrenzen klopften und teils illegal einwanderten, alle ankommenden Personen zu überprüfen und zu registrieren – und die präventive Terrorbekämpfung dadurch erschwert wurde.

Esther Brimmer pflichtete bei und ergänzte, dass die Integration der größtenteils muslimischen Menschen eine große Herausforderungen darstellen wird und die EU-Mitgliedsstaaten hierfür noch intensivere Integrationsarbeit, vor allem an der Basis, in den Kommunen, leisten müssten, um weitere Ghetto-Bildungen, wie sie vor allem in Belgien und Frankreich in den letzten Jahren entstanden sind, zu vermeiden. Aus eben jenen Ghettos heraus wurden schließlich nachweislich sowohl die Pariser, als auch die Brüsseler Terroranschläge geplant und organisiert.

Ein weiterer Lösungsvorschlag könnte sein, ergänzte Brimmer, das gesamte Asylantragsverfahren „auszulagern“ und auch zu ermöglichen, ohne dass sich diejenige Person, die den Antrag auf Asyl stellt, auf europäischem Boden befinden muss. Tausenden bliebe der gefährliche Weg nach Europa erschwert, illegale Schlepperbanden würden ihre Daseinsberechtigung verlieren und all diejenigen potentiellen Flüchtlinge, die ohnehin kein Asyl gewährt bekommen, blieben in ihrem Heimatland. Ob dieser Vorschlag tatsächlich umsetzbar sei, blieb jedoch offen.

Einheit Belgiens in Gefahr?

Hinsichtlich der harschen Kritik, die gegenüber dem belgischen Staat und dessen Sicherheitsapparat in Folge der Anschläge geübt worden war, waren sich alle Experten schnell einig, dass Fehler gemacht worden sind, wie sie vor ähnlichen Terror-Attacken allerdings ebenso geschehen waren. Hinweise wurden missachtet, Kommunikationskanäle verschleppt - daraus allerdings zu schlussfolgern, dass Belgien politisch dysfunktional sei und auf Grundlage gesell-schaftlicher Spaltung agiere, ginge zu weit. Dies hatte Michael Leigh bereits in einer zwei Tage zuvor veröffentlichten Analyse („Belgium is No Failed State“) dargelegt.

Zweitens: Die politisch prekären Situationen im gesamten Mittelmeerraum und die nach wie vor angespannte Lage des europäischen Finanzmarktes. Dr. Jones führte zu diesem Thema aus, dass die Gefahr eines griechischen Staatsbankrotts weiter gegeben sei und auch die Finanzmärkte Spaniens, Italiens und Portugals schwächelten. Zudem hänge die politisch angespannte Situation Italiens sehr vom Ausgang des im Oktober anstehenden Referendums zur Reform des Wahlsystems ab. Dr. Jones lobte zwar die aktuellen institutionellen Veränderungen der Europäischen Monetärpolitik und sprach von einer Art errichteten „Firewall“ gegen den Zerfall des Finanzmarktes, betonte jedoch zugleich, dass zukünftig eine breite Akzeptanz für häufigere koordinative Fiskal-Stimulationen geschaffen werden muss, um eine langfristige Konsolidierung trotz der „Schwarzen Schafe“ zu gewährleisten.

Europa – ein Staatswesen oder eine internationale Organisation?

Die jüngsten Forderungen Jean-Claude Junckers, dem EU-Kommissionspräsidenten, nach einer europäischen Sicherheitsunion, stießen auch in den USA größtenteils auf Skepsis. Viel mehr solle man der wachsenden öffentlichen Meinung Gehör schenken, die mehrheitlich gegen „Mehr Europa“ sei, waren sich die drei Experten einig. Zu viele Europäer seien derzeit der Meinung, dass ihre politischen Führungspersonen keine wirkliche Führung übernehmen würden, stellte Dr. Brimmer fest, was die Diskussion zur dritten Krise überführte.

Drittens: Aufstrebender Rechtspopulismus und die Schwäche der etablierten Volksparteien mit der schwankenden öffentlichen Meinung zu interagieren. Immer lauter werdende Stimmen, die Europa ablehnen und gegenüber einer noch enger zusammenrückenden Union lieber nationale Interessen sowie die Stellung von Referenden und Volksbegehren stärken wollen. Eine Krise, der es seitens der nationalen und europäischen Regierungsinstitutionen mehr Beachtung zu schenken gilt, sagt Michael Leigh. Zudem ergänzte der Belgische Botschafter an dieser Stelle der Diskussion, dass es ohnehin eine Überbewertung davon gäbe, was die EU tatsächlich sei:

Mit dem Verständnis, dass die Funktionalität der EU als internationale Organisation wieder in den Vordergrund rücken und wichtiger sein sollte als die “Idee von Europa als Ganzes”, stellten Johan Verbeke und die US-amerikanischen Experten fest, dass auch mit den transatlantischen Beziehungen zukünftig ein neuer Weg gegangen werden müsse.

Die Beziehungen zwischen Europa und den USA müssen in Zukunft pragmatischer und vor allem von politischem Realismus geprägt werden, schlussfolgerte Dr. Jones. Nur dann kann gewährleistet werden, dass auf beiden Seiten des Atlantiks effektiv für die Lösung der gegenwärtigen Krisen gearbeitet werden kann. Globale Strategien seien unter den aktuellen Bedingungen fehl am Platz. Vielmehr solle man in Europa versuchen eine „Politik der kleinen Schritte“ zu betreiben und auf ersten Erfolgen aufbauen, anstatt eine große Generallösung zu suchen.

Transatlantische Zusammenarbeit neu definieren – wo kann die USA Einfluss nehmen?

Dazu gehöre auch der Umgang mit der vierten Herausforderung: Die gescheiterte und/oder unvollständige Transition der Europäischen Union im Osten. Im Besonderen die durch Sanktionen behaftete und durch Misstrauen geprägte Beziehung zu Russland. Auch hierbei betonten die US-Amerikaner, dass die transatlantischen Beziehungen nicht länger auf Grundlage einer gemeinsamen anti-kommunistischen Fehde beruhen sollte – und die Rolle Russlands für die Europäische Union eine entscheidende ist.

Direkten Einfluss nehmen könnte die USA zum Beispiel hinsichtlich der Beziehungen der EU und Großbritannien und der fünften Herausforderung dem drohenden BREXIT. Das Referendum, das im Juni ansteht und über den Verbleib oder den Austritt des Vereinten Königreichs in/aus der EU entscheiden wird, beeinflusst bereits jetzt die Konjunkturprognosen für die kommenden Jahre. Ein Austritt Großbritanniens hätte, wie nun auch der Internationale Währungsfonds (IWF) bestätigte, weit reichende ökonomische Folgen für Europa – ganz unabhängig von den politischen Folgen. Michael Leigh schätzte den möglichen Einfluss der USA auf diese Entscheidung als relativ hoch ein. Da auch die Amerikaner großen Wert auf ein starkes Großbritannien innerhalb der EU legen, sollten die guten Beziehungen der beiden Staaten den Ausgang des Referendum beeinflussen können.

Einflussnahme und Unterstützung der USA sind weitaus schwieriger, als die Herausforderungen zu benennen. Dr. Jones betonte, dass die Rolle der USA aktuell maßgeblich vom Präsidentschaftswahlkampf beeinflusst wird und die möglichen Aktionen beschränkt. Mit welchen der besprochenen Probleme sich Europa prioritär beschäftigen sollte, waren sich die US-Experten nicht ganz einig und schwankten zwischen Flüchtlingskrise, Stabilisierung der finanziellen Risiken und Innerer Sicherheit. Michael Leigh wiederholte, dass Globale Strategien unter den aktuellen Bedingungen keine Wirkung erzielen würden und man jedes Problem isoliert betrachten und zu lösen versuchen sollte, anstatt eine große Generallösung zu suchen.

Im Anschluss an die Diskussion unter den Experten wurde eine kurze Fragerunde eröffnet, in der vor allem die konkrete Rolle der USA und die Zukunft der Transatlantischen Beziehungen thematisiert wurden. Alle anwesenden internationalen Vertreter konnten sich schnell auf ein Fazit der Veranstaltung einigen: Die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit muss auf beiden Seiten des Atlantiks, ungeachtet bestehender Krisen, vertrauensvoll fortgesetzt werden. Die Beziehungen zur Europäischen Union sind für die Vereinigten Staaten schließlich zu wichtig, als dass diese angesichts der aktuellen Problemlage nur als passiver Beobachter agieren könnten. Nur so könne man auch die gesellschaftlichen Beziehungen zueinander stärken und gemeinsame Vorhaben wie das Freihandelsabkommen (TTIP) vorantreiben.

Ein Bericht von Kevin Hähnlein

Verantwortlich und Redaktion: Dr. Lars Hänsel

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