Herr Linnarz, das Jahr fing schon holprig an, als die Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im Januar Präsident Donald Trump die Rede zur Lage der Nation im Kongresshaus verweigert hatte, weil der Disput über den Haushalt noch nicht geklärt war. Nun hat Trump sie gestern auf gewohntem Terrain gehalten. Wie sind die Reaktionen in den Medien und der Bevölkerung?
Eine Kommentatorin drückte ihre Einschätzung mit den Worten aus: "Obwohl es (in der Rede) Momente der Einheit und des Optimismus gab, haben wir diesen Film alle schon einmal gesehen." Schon morgen werde Trump wieder dahin zurückkehren, seine politischen Feinde und die Medien per Twitter zu attackieren. "Manche Dinge ändern sich nie." So oder ähnlich bewerten die meisten Journalisten die Rede zur Lage der Nation. Auf die öffentliche Meinung wird sich die gestrige Rede erwartungsgemäß kaum auswirken. Dafür sind die politischen Lager in den USA zu tief gespalten. Von seinen Gegnern wird der konfrontative Stil des US-Präsidenten kritisiert, die Befürworter hingegen erwarten von Donald Trump, dass er an seinen zentralen, überwiegend bereits im Wahlkampf vor gut zwei Jahren formulierten Forderungen festhält.
US-Präsident Trump hat zu einer parteiübergreifenden Zusammenarbeit aufgerufen. Es gehe darum, Differenzen zu überwinden, alte Wunden zu heilen und neue Lösungen zu finden. Klingt sehr versöhnlich. Waren das Themen (z.B. mehr Zusammenarbeit bei Infrastruktur und niedrigeren Medikamentenpreise), mit denen er bei den Demokraten punkten konnte?
Donald Trump hat eine ganze Reihe an Punkten genannt, für die sich auch die Demokraten einsetzen. Deren Anhänger erwarten, dass die Partei mit ihrer neuen Mehrheit im Repräsentantenhaus politisch gestaltet und nicht nur blockiert. Das spricht bei ausgewählten Themen für parteiübergreifende Lösungen. Andererseits hatte der US-Präsident unmittelbar nach den Zwischenwahlen vom November bereits erste Angebote zur Zusammenarbeit unterbreitet. Kaum gesagt, brach über den von Trump geforderten Bau der Mauer an der Grenze zu Mexiko ein erbitterter Haushaltsstreit aus, der zum längsten Regierungsstillstand in der US-amerikanischen Geschichte führte. Niemand rechnet also damit, dass jetzt Harmonie einkehrt. Ob und wie kompromissbereit Trump sein wird, müssen die nächsten Monate erst noch zeigen. Überdies sind natürlich auch die demokratischen Vertreter im Senat und im Repräsentantenhaus ihren Wählern "verpflichtet". Diese eint, allen Meinungsunterschieden in Sachfragen zum Trotz, eine tiefe Abneigung gegen Donald Trump. Für die Demokraten bestehen deshalb bei fast allen Themen "rote Linien", über die sie sich in der Auseinandersetzung mit dem Präsidenten und den Republikanern nicht hinweg bewegen können.
Er hält weiter fest am Mauerbau an der Grenze zu Mexiko und beharrt auf seiner Position beim Handelskonflikt mit China. Wird Trump seine Standpunkte durchhalten können?
Was den Handelskonflikt mit China angeht, findet Donald Trump sowohl unter den Republikanern als auch unter den Demokraten viele Befürworter seiner Position. Gleichzeitig führen die USA mit der Volksrepublik auf verschiedenen Ebenen intensive Gespräche über eine Beilegung des Konflikts und liegen seitens der chinesischen Führung Angebote auf dem Tisch. Mit Blick auf eine mögliche Lösung sind die nächsten Wochen entscheidend. Wenn sich beide Länder nicht einigen, drohen ab Anfang März für die Einfuhr chinesischer Produkte in die USA zusätzliche Zölle. Möglicherweise verständigen sich beide Seiten in den nächsten Wochen auch nur auf eine Teillösung, um weitere Strafzölle zumindest aufzuschieben. Der Ausgang der Verhandlungen hängt grundsätzlich natürlich davon ab, welche Seite die ökonomischen Konsequenzen des Handelskonflikts besser verkraftet. Washington sieht sich in dem Punkt "am längeren Hebel". Auch die USA können sich aber keinen Wirtschaftseinbruch, höhere Arbeitslosigkeit oder eine Abwanderung ihrer Unternehmen ins Ausland leisten.
Am Bau seiner Mauer an der Grenze zu Mexiko wird der US-Präsident festhalten. Für den Fall, dass die Republikaner und Demokraten im Repräsentantenhaus dafür im Rahmen der laufenden Haushaltsverhandlungen keine ausreichenden Mittel vorsehen, hat Trump bereits damit gedroht, unter Umständen den nationalen Notstand auszurufen und die erforderlichen Gelder auf diesem Wege bereitzustellen. In seiner gestrigen Rede sprach der Präsident allerdings nicht nur von einer regelrechten Mauer, sondern auch von einer "Stahlbarriere". Der US-Grenzschutz werde mitteilen, an welchen Stellen für eine solche Barriere "der größte Bedarf" besteht. Bis Mitte Februar wird sich herausstellen, ob der Kongress auf dieser Grundlage einen Kompromiss finden kann, mit dem das Weiße Haus einverstanden ist. Wenn nicht, droht eine neuerliche Eskalation.
Mit Blick auf die Beziehungen zu Moskau verteidigte der US-Präsident die Aufkündigung des INF-Abrüstungsvertrages mit Russland. Welche Signale sendet dieser Vorgang an die europäischen Partner und an China?
Die Entscheidung kam ja nicht wirklich überraschend. Die NATO-Partner der USA haben sich geschlossen hinter die Entscheidung der USA gestellt. Gleichzeitig äußerten Regierungsvertreter mehrerer Staaten ihre Besorgnis, haben vor einem neuen Wettrüsten gewarnt oder eine Abrüstungsinitiative gefordert. Erneut wurde der Ruf danach laut, dass Europa die "eigenen Sicherheitsinteressen besser und stärker in die eigene Hand nehmen" müsse. Das ist allerdings auch kein ganz neues Signal. China war am INF-Vertrag nicht beteiligt und dürfte auch in Zukunft kein Interesse daran haben, sich einer Art "erweitertem" INF-Vertrag zu unterwerfen, wie gestern von Präsident Trump angeregt. Denn dann müsste die Volksrepublik ihre landgestützten Flugkörper mit kürzerer und mittlerer Reichweite abschaffen. Und davon besitzt die Volksbefreiungsarmee eine ganze Menge. Peking weiß natürlich nicht erst seit der Entscheidung über den INF-Vertrag, dass die USA über die wachsenden militärischen Kapazitäten Chinas zunehmend alarmiert sind.
In der zweiten Jahreshälfte 2019 startet der Wahlkampf für 2020. Wie wird sich dies auf das Handeln der USA auswirken?
Der Wahlkampf hat im Grunde genommen spätestens mit der Auseinandersetzung über die Mauer und dem Regierungsstillstand der letzten Wochen begonnen. Die ersten demokratischen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2020 haben sich bereits in Stellung gebracht. Für seine Kampagne zur Wiederwahl konnte Donald Trump schon über 100 Millionen US-Dollar sammeln. Beide politischen Lager sind längst dabei, im ganzen Land ihre Unterstützerteams aufzustellen. Einerseits sind damit heftige politische Auseinandersetzungen programmiert. Andererseits wurde der kürzliche Regierungsstillstand auch von vielen Anhängern der Republikaner abgelehnt. Andauernde Blockaden mit finanziellen Einbußen gerade für Arbeiter und Angestellte mit niedrigen Einkommen würden sich mithin für beide Parteien negativ auswirken.
Derzeit genießt der US-Präsident unter den republikanischen Anhängern immer noch überaus hohe Zustimmungswerte. Seit Dezember hat seine Popularität bei den eigenen Wählern aber gelitten. Donald Trump muss deshalb nicht nur auf die republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus Rücksicht nehmen, sondern auch auf die Mitglieder seiner Partei im Senat. Zwar konnten die Republikaner ihre Mehrheit bei den Zwischenwahlen vom November dort sogar noch leicht ausbauen. Mit 53 von insgesamt 100 Senatssitzen ist ihr Vorsprung aber so knapp, dass Gegner in den eigenen Reihen praktisch jeden Vorstoß des Präsidenten ausbremsen können, der in den Bundesstaaten der Senatoren die Gunst der Wähler beeinträchtigt.
Vielen Dank für das Interview, Herr Linnarz!