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Missverständnisse bei der digitalen Beteiligung

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3.305 Mitglieder, 494 Vorschläge, 2.353 Kommentare, 14.603 abgegebene Stimmen. So sah die Bilanz der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Internet und Digitale Gesellschaft“ aus, die zwischen Februar 2011 und Januar 2013 Ideen und Anregungen auf einer digitalen Partizipations-Plattform (per Adhocracy-Tool) gesammelt hat. Haben sich also nur, immerhin oder sogar 3.305 Bürgerinnen und Bürger beteiligt? In welcher Relation steht eine solche Zahl? In der anfänglichen Euphorie über E-Partizipation stellte man sich vor, der Zugang zu neuen Beteiligungsmöglichkeiten im Netz würde dazu führen, dass Millionen ihre Meinung äußerten. Vor diesem Erwartungshorizont scheint das Ergebnis zu enttäuschen. Wer sich jedoch klarmacht, was digitale Beteiligung wirklich ist und kann, was sie nicht ist und nicht kann und welche Chancen sie bietet, der wird die Zahlen als Motivation empfinden müssen.

 

Erst mobilisieren, dann digitalisieren

Die hohen Erwartungen an eine Beteiligung aller mittels digitaler Verfahren mussten zwangsläufig enttäuscht werden. „Das Internet“ macht nichts „von allein“, es kann lediglich als ein zusätzlicher Kanal dienen. Digitale Beteiligungsverfahren sind daher nicht per se besser oder erfolgreicher als analoge. Bei aller Ernüchterung wird häufig übersehen, dass die Schwierigkeiten nicht an der Digitalität eines Beteiligungsverfahrens liegen, sondern dass es sich um die generellen Herausforderungen der Partizipation handelt. Dazu gehört vor allem die Mobilisierung: Nur wenn Adressaten erfahren, dass es ein Beteiligungsverfahren gibt, können sie teilnehmen. Nur wenn sie zudem das Thema für relevant und dringlich halten, ist es wahrscheinlich, dass sie sich einbringen. Diese wichtigen Erfolgskriterien gelten analog genauso wie digital. Erst wenn diese Kriterien erfüllt sind, spielt letztlich die Frage eine Rolle, über welchen Kanal man sich beteiligt. Dann bieten digitale Beteiligungsverfahren deutliche Vorteile: Unabhängig von Zeit und Ort können sich Menschen sozusagen vom Sofa aus beteiligen!

 

Ein zusätzlicher Partizipationskanal

Gut gebildet, gut verdienend, oft männlich und vor allem internetaffin, so wird das Profil des Nutzers von Partizipationsplattformen im Netz gezeichnet. Darauf basiert ein weitverbreitetes Argument gegen digitale Beteiligung: Sie sei asymmetrisch und gebe keinen Querschnitt der Bevölkerung wieder, sondern einen kleinen, privilegierten Ausschnitt. Zu fragen ist aber, ob das in der analogen Welt anders ist? Auch hier sind Menschen mehr oder weniger informiert, vernetzt, kompetent oder engagiert. Wie erreicht man, dass sich Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung gleichmäßig beteiligen? Repräsentativität und Inklusivität stellen nicht speziell im Internet ein Problem dar, sondern sind eine generelle Herausforderung für die Partizipation: Wie können verschiedene Gruppen mobilisiert werden? Was sind zielgruppengerechte Beteiligungsformate und Methoden? Die Mobilisierung fängt mit der Information und Kommunikation an: Wer erfährt beispielsweise über die Lokalzeitung von einer Abstimmung, wer eher über Social Media? Bei der Wahl geeigneter Formate und Methoden geht es unter anderem um die Ressourcen und Medienkompetenz der zu Beteiligenden: Wer hat etwa Zeit, vormittags ins Rathaus zu gehen, und wer traut sich zu, eine Online-Kommentarfunktion zu nutzen? Es geht nicht um die Frage analog oder digital, sondern wichtig ist eine Multi-Kanal-Strategie: Über welche Kanäle informiere und beteilige ich Bürger, sodass ich möglichst viele erreiche und mobilisiere? Wenn der digitale Kanal als Ergänzung begriffen wird, dann bedeutet das: Digitale Beteiligung schließt nicht eine Gruppe aus, sondern eine weitere Gruppe ein – nämlich diejenige, die digital unterwegs und erreichbar ist. Der Trend zeigt: Das werden immer mehr!

Trotzdem wäre es falsch, Beteiligungsverfahren nur noch digital durchzuführen. Denn noch sind nicht alle Deutschen online, und die Onliner nutzen das Internet sehr heterogen, wie der D21-Digital-Index zeigt. Deswegen ist es wichtig, analoge und digitale Beteiligungskanäle anzubieten.

 

Die Kombination macht den Unterschied

Oft wird digitale Beteiligung mit direkter Demokratie in einen Topf geworfen. Dabei werden zwei Ebenen vermischt. Einerseits gilt es, den adäquaten Grad, in dem Bürgerinnen und Bürger beteiligt werden sollen, also verschiedene Intensitätsstufen der Beteiligung, abzuwägen. Andererseits bieten sich hierzu verschiedene Kanäle an. Stufen und Kanäle können beliebig kombiniert werden. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unterscheidet bei Beteiligungsverfahren die drei Stufen Information, Konsultation und Zusammenarbeit. Bei Verfahren der untersten Stufe stellt die öffentliche Hand Informationen bereit. Das kann sowohl analog, indem etwa ein Planentwurf zur Stadtentwicklung öffentlich ausgelegt wird, als auch digital auf Portalen wie GovData geschehen. Bei Konsultationen kommt der Aufruf hinzu, sich an Fragestellungen zu beteiligen und Amts- oder Mandatsträgern auf diese Weise Input zu liefern. Wie man für eine solche Konsultation eine Multi-Kanal-Strategie fährt, hat die niedersächsische Stadt Lohne vorgemacht: Bürgerinnen und Bürger konnten Ideen für die Stadtentwicklung abgeben – per Webseite, Facebook-Seite, Postkartenaktion, Anruf, Fax, Brief – sowie an Sitzungen teilnehmen. Wenn die Beteiligten mit Mandatsträgern in einen Diskurs treten, in dem Argumente wechselseitig ausgetauscht werden, spricht man von interaktiver Zusammenarbeit. Ein Beispiel ist das integrierte Energie- und Klimaschutzprojekt des Landes Baden-Württemberg, bei dem auch verschiedene Kanäle kombiniert wurden: Bürgerinnen und Bürger waren aufgerufen, die Maßnahmen im Rahmen des Projektes online zu kommentieren und zu diskutieren sowie an Bürgertischen mitzuberaten. Während auf diesen drei Stufen die Entscheidungshoheit bei den Amts- und Mandatsträgern bleibt, entscheiden bei Wahlen und Abstimmungen – der vierten Stufe der Beteiligung – die Bürgerinnen und Bürger. Erst auf dieser Stufe handelt es sich um direkte Demokratie – unabhängig davon, ob die Beteiligten analog oder digital ihre Stimme abgeben.

 

Digitaler ist nicht direkter

Wie die unterschiedlichen Stufen der Beteiligung zeigen, ist Schwarz-Weiß-Denken beim Thema Partizipation unangebracht. Auf der einen Seite geht es um die Entscheidung, bei welchen Fragen und in welchem Maß der Staat die Bürgerinnen und Bürger beteiligt und somit Entscheidungsmacht und -kontrolle bewusst abgibt. Zudem wächst mit jeder Stufe der Grad an Komplexität und Aufwand des Beteiligungsverfahrens. Zum unerlässlichen Aufwand gehört die transparente Gestaltung und Aufklärung: Wie läuft ein Verfahren genau ab und wie fließt die Beteiligung in Entscheidungen ein? Pseudo-Beteiligung, bei der unklar bleibt, ob und inwiefern Partizipationsbeiträge überhaupt berücksichtigt werden, schadet dem Anliegen. Auf der anderen Seite steht die Frage, in welchem Maße sich Bürgerinnen und Bürger beteiligen wollen. Es gibt Themen, mit denen sich einige nicht befassen wollen, die sie nicht interessieren oder die ihnen zu komplex sind, und somit gibt es Entscheidungen, die sie lieber ihren gewählten Vertretern überlassen. Deutschland ist eine repräsentative Demokratie. Noch existiert keine ausgeprägte Beteiligungskultur, aber durch das Web 2.0 ist ein Mit-Mach-Trend entstanden, der für die Partizipation genutzt werden könnte und sollte. Dass hohes Potenzial vorhanden ist, zeigen Beispiele wie change.org: Seitdem die Plattform im Sommer 2012 in Deutschland startete, haben sich 1,5 Millionen Menschen hierzulande registriert, um Petitionen zu starten oder zu unterstützen. Durch die Verknüpfung mit sozialen Netzwerken verbreiten sich Petitionen oft in rasantem Tempo. So bietet der digitale Kanal die große Chance, innerhalb kurzer Zeit mehr Menschen zu erreichen und zu beteiligen, als es analog jemals möglich wäre.

Im Jahr 2001 nutzten zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung Online-Banking, im Jahr 2013 waren es 45 Prozent. Der Weg dahin war ein Prozess: Die Nutzer haben nach und nach die Möglichkeit wahrgenommen, sie ausprobiert, sich daran gewöhnt und Vertrauen gewonnen. Heute können sich viele nicht mehr vorstellen, mit Überweisungsträgern zur Bankfiliale zu gehen. Doch anderen steht der letztgenannte Kanal weiterhin zur Verfügung. Ähnliches gilt für die E-Partizipation. Sie erfordert einen Lernprozess, und zwar auf beiden Seiten. Die öffentliche Hand muss Beteiligungsverfahren evaluieren und weiterentwickeln: Was hat schon gut geklappt, was können wir besser machen? Dabei ist es wichtig, die generellen Herausforderungen wie Information, Mobilisierung und Transparenz nicht aus den Augen zu verlieren. Auf der anderen Seite müssen die zu Beteiligenden in die Rolle des souveränen, digitalen Bürgers hineinwachsen und den Umgang mit digitalen Beteiligungstools lernen. Mit dem zunehmenden Digitalisierungsgrad in Deutschland steigt die Bedeutung von digitalen Beteiligungsverfahren und der Anspruch an sie. Doch der Ausgangspunkt für Kritik und Hoffnung ist und bleibt derselbe: Wer über E-Partizipation nachdenkt, muss die Partizipation im Allgemeinen betrachten – das „E“ ist nur das „Tüpfelchen“ obendrauf.

 

Lena-Sophie Müller, geboren 1983 in Berlin, Geschäftsführerin von Initiative D21 e. V., Deutschlands größter Partnerschaft von Politik und Wirtschaft zur Ausgestaltung der Informationsgesellschaft.