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by Catarina Katzer

Wie das Internet unser Denken, Fühlen und Handeln verändert

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Das „digitale Leben“ ist der Sprengstoff der Stunde: Technologie und Mensch, Online-­ und Offline-Kosmos, verschmelzen immer mehr. In noch nie da gewesener Weise verändert der Digitalisierungsprozess unsere Art, Mensch zu sein – von der Entwicklung der individuellen Persönlichkeit über die Gestaltung von Gemeinschaft bis hin zu gesamtgesellschaftlichem Handeln.

Nicht nur der Alltag wird von den Grundprinzipien des Internets geprägt. Wir selbst sind ständig vernetzt, erreichbar, über sämtliche Grenzen hinweg, werden transparenter, sollen immer schneller agieren und digitaler werden. Die „smarte Technologie“ ermöglicht das Leben in der Aufmerksamkeitsökonomie. Viele Menschen sind online ohne Auszeit: Dreißig Prozent der Erwachsenen und zwei Drittel der 12- bis 18­-Jährigen nutzen ihre „mobilen Tools“ auch im Bett. Der Internet-Rhythmus wird zum Biorhythmus. Man verwächst mit dem Smartphone, es wird als Teil des Körpers oder der Hand empfunden, sogar eine emotionale Beziehung zu dem Gerät aufgebaut.

Auch wird das Dasein ohne die smarten Tools oftmals nicht ertragen. Das Stressempfinden steigt, wenn man das Smartphone vergessen hat oder der Energiesparmodus aufleuchtet. Entzugserscheinungen, Phantomschmerzen oder Nomophobie – also die Angst, etwas zu verpassen, wenn man nicht online ist – können die Folge sein. Wir unterliegen einem Cyberautomatismus, werden auf das parallele Agieren in unterschiedlichen Handlungsräumen (online und offline) und den Rhythmus des ständigen Unterbrechens konditioniert. Junge Erwachsene schauen etwa alle zehn bis fünfzehn Minuten auf ihr Smartphone, Viel-User sogar alle fünf Minuten. Neue Verhaltensphänomene entstehen, zum Beispiel Phantomschauen (habit to check): Allein die Einbildung der Vibration (wie etwa beim Eingang von Nach­richten) lässt uns nach dem Gerät greifen.

All dies passiert unbewusst, jedoch nicht überraschend, entsprechen doch Smartphone-Technologie und Anwendungen in Millionen Apps weltweit den ureigensten menschlichen Bedürfnissen nach Spiel und Spaß, Liebe, Kommunikation und sozialer Gemeinschaft oder nach Selbstdarstellung und Identitätssuche. Wir befinden uns in einem schleichenden Gewöhnungsprozess an die digitalen Begleiter, der immer früher beginnt. Mittlerweile nutzen siebzig Prozent der deutschen Kleinkinder und Vorschüler zwischen zwei und fünf Jahren mindestens eine halbe Stunde täglich das Smartphone der Eltern. Dabei zeigen sich erste Auswirkungen auf Sprache und nonverbale Kommunikation. Bei erhöhtem Gebrauch, ohne zielführen­ de Beschäftigung, kann sich die Sprachentwicklung bei anderthalbjährigen Kindern verzögern, und das Verständnis von Gestik und Mimik wird schlechter erlernt.

Vielfalt und ständiger Perspektivwechsel machen Anpassungsprozesse notwendig. So werden nur zehn bis fünfzehn Prozent der Online-Dokumente tatsächlich gelesen. Dadurch wird die Informationsaufnahme oberflächlicher, und Ablenkungseffekte werden verstärkt. Inhalte, die immer wieder auftauchen, werden besser erinnert. In Zeiten von Filterblasen und Algorithmen ist dies an der Tagesordnung und hat Folgen für das reale Leseverhalten: Zeitungen und Buchseiten werden häufig nur noch gescannt. Außerdem wird die geistige und intellektuelle Leistungsfähigkeit negativ beeinflusst. Ständiges Unterbrechen schwächt die Konzentrationsfähigkeit, und man muss gedanklich immer wieder neu einsteigen.

 

Cyberautomatisierung und die Folgen

 

Eine digitale kognitive Überforderung entsteht: Die Fehleranfälligkeit steigt, Schnelligkeit und Qualität der Tätigkeiten leiden, die Auffassungsgabe verringert sich, und das Finden kognitiver Strukturen wird erschwert. Dies betrifft auch das Langzeitgedächtnis: Erfahrungen werden nicht mehr abgespeichert. Das Gehirn verändert sich. Studien für die GPS-Nutzung zeigen: Der Ort des Gehirns, der für die Orientierungsfähigkeit zuständig ist, bildet sich zurück. Nicht immer bedeutet smart auch effizienter! Das Paradoxe: Wir selbst glauben das Gegenteil und über­ schätzen uns (overconfidence bias).

Auch digitale Fremdbestimmung beispielsweise durch die Algorithmenauswahl beeinflusst kognitive und emotionale Prozesse. Die Online-Vielfalt kann das Treffen von Entscheidungen erschweren. Gleichzeitig können wir unsicherer werden. Je stärker man sich auf Algorithmen verlässt, umso weniger traut man dem eigenen Wissen zu. Die Intuition leidet, und unsere Handlungsorientierung (Fähigkeit, ein situativ passendes Verhalten anzuwenden) kann durch ständige Rückversicherung bei Google & Co nach­ lassen. In Teilen zeigt sich der Verlust eines konkreten Problemlöseverhaltens. Online scheint alles einfach. Dabei kann das Bild vom wirklichen Leben verloren gehen (siehe Berufswunsch „Influencer“ bei einem Drittel der Jugendlichen unter achtzehn Jahren, so Bitkom 2018).

 

Therapieansätze

 

Das digitaler werdende Leben erfordert eine stärkere Auseinandersetzung mit dem, was online mit emotionalen und kognitiven Prozessen, Verhalten und sozialer Gemeinschaft passiert. Welche Rückkopplungen zeigen sich für das physische Leben – auch für Ökonomie und Politik? Jeder sollte ein „digitales Bewusstsein“ entwickeln: Betrachten wir uns in einem virtuellen Spiegel und schauen hinter Beweggründe und Einflüsse unseres Netzverhaltens (siehe auch Online-Hass und Radikalisierung)! Kritikfähigkeit und kontroverse Perspektiven (Dissonanzen) helfen gegen digitale Fremdbestimmung und Filterblasen. Bequemlichkeit und Umsonst­Mentalität dürfen nicht zum digitalen Antriebsmotor werden.

Gleichzeitig müssen technologische Entwicklungen stärker aus dem Blick der Folgen betrachtet werden. Welche Auswirkungen hat die heutige digitale Weichenstellung auf den Einzelnen, die gesamte Gesellschaft und die Demokratie von morgen (zum Beispiel Sharing Economy oder das Scoring-System in China)? Sollen digitale Auslese und Formung des Menschen durch Überwachung die Gesellschaft bestimmen – oder die Freiheit des Einzelnen? Künstliche Intelligenz (KI) in Produktionsprozessen ist nicht gleichzusetzen mit Vernetzung und Vermessung des Menschen, eine medizinische Operation 4.0 nicht mit der Identifizierung von Gedanken und zum Beispiel daraus folgenden Kategorisierungssystemen für Individuen. Digitale Bildung ist besonders gefordert, sollte technologische Kenntnisse und Folgenabschätzung sowie cyberpsychologisches Wissen vereinen, um kompetente Cybernauten auszubilden. Kinder, die früh beginnen, sich mit Programmierung und KI auseinanderzusetzen, werden kritikfähiger und lernen, Nutzen, Schaden und Nutzlosigkeit abzuwägen. Reine Machbarkeit darf nicht zur Innovationsmaxime werden. Bei allen digitalen Umbrüchen dürfen wir Ethik und Humanismus nicht verlieren.

 

Catarina Katzer, geboren 1973 in Karlsruhe, Leiterin des Instituts für Cyberpsychologie & Medienethik in Köln, ausgezeichnet mit dem „getAbstract International Book Award 2016“.

 

Literatur

 

Ma, Julia: Is handheld screen time use associated with language delay in infants?, 2017 Pediatric Academic Societies Meeting, Moscone West Convention Center, San Francisco 2017.

Markowetz, Alexander: Digitaler Burnout. Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist, Droemer Knaur Verlag, München 2015.

Nicholas, David: „The Google generation, the mobile phone and the ‚library‘ of the future“, in: Abdullah Noorhidawati et al. (Hrsg.): ICOLIS-2014, Kuala Lumpur DLIS, FCSIT, 2014, S. 1–8, ciber-research.eu/ download/20141105-Malaysia_Nicholas_keynote.pdf [letzter Aufruf am 26.08.2019].

pronova BKK: Die Süchte der Deutschen, Ludwigshafen  2017, www.pronovabkk.de/suechte_2017.

 

 

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