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Wendungen des Fortschrittsbegriffs

by Andreas Rödder

Eine bürgerliche Zukunftsperspektive

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Die Welt war nie statisch. Bereits zu Adams und Evas Zeiten gab es Neues. Die Frage war, wie Veränderungen gedeutet und wie sie in bestehende Weltbilder eingeordnet wurden. Schon in der Antike konkurrierten Wahrnehmungen der Verbesserung, vor allem auf technischer und wirtschaftlicher Ebene, mit Deutungen des sittlich-moralischen Verfalls. Die Diskrepanz zwischen materiellem und kulturellem Fortschritt war früh angelegt. Moralische Orientierung fanden die Römer der Antike unterdessen in den mores maiorum, den Sitten der Vorfahren. Allgemein waren die vormodernen Zeiten von der Vorstellung eines zyklischen Geschichtsverlaufs, der ewigen Wiederkehr des immer Gleichen, geprägt.

Eine Ausnahme bildete das Christentum. Denn mit der Geburt Christi begann eine neue Zeit, deren voller Umfang allerdings erst nach dem Jüngsten Tag eintreten würde. Einstweilen blieb nur die Hoffnung des Christenmenschen auf Erlösung im Jenseits, die er als Pilger im Erdental durch individuelles Fortschreiten hin zu Gott befördern konnte.

Den historischen Bruch mit solchen Weltdeutungen markierte die Aufklärung. Der Appell zum Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit verhieß etwas kategorial Neues, das substanziell besser sein könnte und sollte als das Alte: Die Zukunft ist offen, so lautete die revolutionäre Botschaft der Moderne.

Hinzu kamen neue Erfahrungen im Verhältnis der Menschen zur Welt durch die technischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Die Eisenbahn löste die Fortbewegung von menschlicher oder tierischer Muskelkraft. Die Erfindung des Telegrafen ermöglichte Kommunikation über große Distanzen nahezu in Echtzeit, Fotografie und Tonaufnahmen lösten optische und akustische Wahrnehmungen von der unmittelbaren Sinneserfahrung.

 

Verflucht verwirrte Welt

 

Das alles war für die Zeitgenossen des „langen“ 19. Jahrhunderts mindestens so revolutionär wie im 21. Jahrhundert die Digitalisierung. „Citius, altius, fortius“ – „schneller, höher, stärker“ – lautete das Motto an der Jahrhundertwende, als die modernen Olympischen Spiele eingeführt wurden, Louis Blériot den Ärmelkanal überflog und die Titanic im Atlantischen Ozean versank. Diese Katastrophe vom 14. April 1912 stand für die Verunsicherung in einer „verflucht verwirrten modernen Welt“, wie der Privatsekretär des deutschen Reichskanzlers wenige Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in sein Tagebuch notierte: „Zuviel Faktoren auf einmal.“ Das Aufbrechen alter Lebenswelten und die Vielfalt des Neuen nährten den „Hunger nach Ganzheit“ (Peter Gay) und die Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Die Antworten lieferten die Ideologien des 20. Jahrhunderts: die „klassenlose“ Gesellschaft des Marxismus-Leninismus und die „rassereine“ Gesellschaft des Nationalsozialismus.

Beide stützten sich dabei auf moderne Wissenschaften, wie sie sich im späten 19. Jahrhundert herausgebildet hatten. Bereits im frühen 20. Jahrhundert etablierte sich dabei das bis heute wirksame Wechselspiel zwischen Wissenschaft und Politik: der Anspruch von Wissenschaft auf unangreifbares Expertenwissen und ihre politische Indienstnahme zugleich.

Das galt auch für nichtdiktatorische westliche Gesellschaften, denen die modernen Wissenschaften von der Statistik bis hin zur Medizin neue Instrumente der Sozialplanung an die Hand gaben. Ein Beispiel dafür ist die Eugenik. Zwangssterilisierungen galten Anfang des 20. Jahrhunderts als moderne Form der Gestaltung von Gesellschaft, die etwa die schwedischen Sozialreformer und Nobelpreisträger Gunnar und Alva Myrdal befürworteten.

Auch nach 1945 hielten technokratische Vorstellungen der Gesellschaftsplanung nicht nur in kommunistischen Gesellschaften an. Le Corbusiers „Wohnmaschinen“ fanden ihre Nachahmung in den Trabantenstädten, die mit der Modernisierungsideologie der 1960er­Jahre an den Peripherien der Städte entstanden. Deren Innenstädte wurden unterdessen autogerecht umfunktioniert, während das politische Konzept der „Globalsteuerung“ der Idee folgte, die Wirtschaft lasse sich von der Politik steuern.

 

Von der Utopie zur Apokalypse

 

Als 1973 erstmals die Ölpreise explodierten, die Arbeitslosigkeit die Millionengrenze überschritt und zugleich die Inflationsrate nach oben schoss, erwies sich der Glaube an diese staatliche Machbarkeit als Illusion. Stattdessen setzte sich nun die vor allem von Milton Friedman vertretene Überzeugung durch, dass die Marktkräfte gestärkt werden müssten und sich der Staat möglichst zurückzuhalten habe. Vor allem in den USA und in Großbritannien, weniger radikal auch in der Bundesrepublik, wurde in den 1980er­Jahren eine Politik der Deregulierung betrieben, die Innovationskräfte und Wohlstandszuwächse freisetzte und für einen globalen Rückgang von Armut sorgte.

Als der Westen 1989/90 den Triumph über seinen ideologischen Rivalen im Osten feierte, schien das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) gekommen. Ironischerweise herrschte dabei im Westen eine quasi­marxistische Vorstellung: dass nämlich in vormals kommunistischen Gesellschaften nur die westliche Ordnung eingeführt werden müsse, daraufhin ein Wirtschaftswunder sowie Wohlstand entstünden und sich die Bürger in glückliche und zufriedene Demokraten verwandelten. Das war die Blaupause nicht nur für die deutsche Wiedervereinigung und die Osterweiterung der Europäischen Union, sondern auch für die Idee des weltweiten Demokratieexports.

Dabei stellte sich allerdings die Frage, was nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aus dieser Freiheit des Westens werde, die er im Kalten Krieg als Banner vor sich hergetragen hatte. Die Antwort ging freilich kaum über eine deregulierte Marktwirtschaft hinaus, deren Dynamik und Volumina nach 1990 mit der Digitalisierung und neuen Märkten noch einmal erheblich zunahmen. Statt aber nach den Deregulierungen der 1980er­Jahre unter neuen Bedingungen nachzusteuern und Ordnung für den Markt zu schaffen, wie es der klassische Neoliberalismus der deutschen Ordnungspolitik vorsah, wurde der neue Neoliberalismus zur Ideologie, Ordnung durch den Markt zu schaffen. Eine Idee wird immer dann schädlich, wenn sie sich von den Realitäten löst. Der Goldrausch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ging ebenso wenig gut, wie es mit allen Blasen und Hypes zuvor der Fall gewesen war.

Der Crash von 2008 sorgte vielmehr für eine parametrische Verunsicherung der politischen Ökonomie – und schlug schließlich ins Gegenteil eines neuen Staatsinterventionismus um, der sich mit einem neuen Thema verband, das in den späten 2010er­Jahren an die Spitze der politischen Agenda rückte: dem Klimawandel. Dabei verschob sich einmal mehr die allgemeine Deutung der Gegenwart: vom hoffnungsfrohen „Ende der Geschichte“ zum perhorreszierten Ende der Welt, von der Utopie zur Apokalypse.

Die historische Erfahrung hingegen spricht weder für das Ende der Welt, noch für das Ende der Geschichte. Das Narrativ des Verfalls ist ein uralter Topos, und der Fortschritt ist weder linear, noch folgt er bestimmten Intentionen. Historische Veränderungen resultieren vor allem aus drei Kraftquellen: aus technologischen Entwicklungen; aus der politischen Kultur, das heißt aus dem allgemein akzeptierten Rahmen des Denkens, Redens und Handelns, der in Demokratien im vorpolitischen Raum ausgehandelt wird; und aus Ereignissen wie Kriegen, Revolutionen oder Naturkatastrophen.

Und die Politik? Sie ist nicht die treibende Kraft ökonomischer oder gesellschaftlicher Veränderungen, wenn sie nicht wie in Diktaturen versucht, den Wandel selbst herbeizuführen. Bürgerliche Demokratien wissen, dass die Umgestaltung der Welt nach einem bestimmten Bilde gefährlich ist.

 

Präzedenzlose „große Transformation“

 

Daher muss bürgerliche Politik die Dimensionen und Herausforderungen einer Klima- und Energiepolitik erkennen, die weit über technische Fragen der Mindestabstände und der Genehmigungsverfahren für Windräder hinausgeht.

Zunächst ist die Klimafrage der Gegenwart von einer historisch eigentümlichen Mischung geprägt. Denn einerseits folgen klimapolitische Großentwürfe wie die „Große Transformation“, wie der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ 2011 seinen neuen „Gesellschaftsvertrag“ benannte, dem Fortschrittsnarrativ einer „neuen Weltordnung“. Andererseits setzt die Klimabewegung der ausgehenden 2010erJahre am Narrativ des drohenden Endes der Welt an. Es geht um eine neue Welt, nicht um eine gute Zukunft zu schaffen, sondern um den Untergang der bestehenden zu verhindern.

Sowohl in dieser Mischung von Utopie und Apokalypse als auch in ihrer Eindeutigkeit einer „Energiewende“ widerspricht sie historischen Mustern. Die historisch einzige wirkliche Energiewende vollzog sich im 18. Jahrhundert: vom Holz zur Kohle. Allerdings war selbst dies eher eine Energieergänzung denn eine Energiewende (Daniel Yergin): Die Kohle kam zum Holz ebenso hinzu wie im 20. Jahrhundert Öl und Gas sowie Kernenergie und die erneuerbaren Energien. Angesichts eines weltweit steigenden Energiebedarfs wurde noch Anfang der 2020er­Jahre weltweit mehr Kohle verbrannt als je zuvor.

Die proklamierte Energiewende des 21. Jahrhunderts stellt statt einer technologiegetriebenen Ergänzung über Jahrhunderte erstmals eine von der Politik betriebene Vollumstellung innerhalb weniger Jahrzehnte dar. Dass eine solche historisch präzedenzlose „große Transformation“ sowohl illusionäre Potenziale als auch totalitäre Versuchungen in sich trägt, liegt auf der Hand. Die Vorstellung einer von oben gesetzten Idee des objektiv Guten harmonierte noch nie mit Vorstellungen pluralistischer Bürgerfreiheiten.

 

Idee des Fortschritts als Verbesserung

 

Die Klimapolitik offenbart die aktuelle Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit von Fortschrittsnarrativen. Während die Grundstimmung innerhalb von dreißig Jahren von Optimismus in Apokalypse umgeschlagen ist, verheißen selbst Vorstellungen einer „großen Transformation“ keine Vision einer besseren Welt, sondern nur die Abwendung des Untergangs. Zugleich treten weltweit Politiken mit der Verheißung auf, eine bessere Vergangenheit wieder aufleben zu lassen: Xi Jinping sucht die „Verjüngung“ der chinesischen Nation, um die „große Demütigung“ Chinas im 19./20. Jahrhundert zu revidieren. Wladimir Putin will mit aller Gewalt eine Situation imperialer Größe des zaristischen Russlands wiederherstellen. Und selbst im Westen zielen sowohl die Devise „Take back control“ als auch „Make America Great Again“ auf einen vermeintlich besseren vergangenen Zustand.

 

Bürgerliche Politik hingegen weiß, dass das verlorene Paradies ebenso wenig eines war, wie eine neue Welt es werden würde. Sie sieht ihre Aufgabe nicht darin, eine Utopie zu realisieren, sondern den aus anderen Quellen gespeisten Wandel verträglich zu gestalten. Jenseits von Utopie und Apokalypse die Idee des Fortschritts als Verbesserung zurückzugewinnen, um den Menschen eine (noch) bessere Zukunft zu ermöglichen, ohne eine neue Welt oder einen neuen Menschen zu schaffen – das ist Chance und Herausforderung zugleich.

 

Dies erfordert erstens eine Verbindung von Pragmatismus und Strategie und zweitens die Vermeidung sowohl von Panik und Aktionismus als auch von Nonchalance und Tatenlosigkeit. Eine entschlossene Politik priorisiert vielmehr Ziele und setzt auf reversible Methoden. Das gilt nicht zuletzt für die Klimapolitik. Wenn die Energiewende tatsächlich gelingen soll, wird dies nur funktionieren, wenn alle möglichen Formen CO2­-neutraler Energien einschließlich der Kernenergie genutzt werden und wenn sich Energiepolitik strategisch an der Priorität ausrichtet, globale Wirksamkeit zu entfalten, statt sich in bekenntnishafter Kirchturmpolitik an Klimaneutralität in Deutschland festzukleben. Und wenn eine solche Energie- und Klimapolitik in eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Offensive eingebettet wird, die von einer Bildungspolitik der realen Chancen über eine Migrationspolitik der Offenheit und der verbindlichen Regeln zugleich bis zu Generationengerechtigkeit auf verschiedenen Ebenen reicht und die Perspektive einer nachhaltigen Sicherung von „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) einschließt – dann kann bürgerliche Politik, drittens, auch ein Narrativ entwickeln, die Krisen der Gegenwart zu lösen und eine gute Zukunft zu ermöglichen. Das wäre zugleich der beste Beitrag zum Gebot der Stunde: zur Selbstbehauptung der westlichen Demokratien im neuen Weltkonflikt mit den autokratischen und expansionswilligen Mächten im „globalen Osten“.

 

Andreas Rödder, geboren 1967 in Wissen (Sieg), Professor für Neueste Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2020–2023 Helmut Schmidt Distinguished Visiting Professor an der School of Advanced International Studies, Johns Hopkins University, Washington, D. C., Leiter der CDU-Grundwertekommission und Mitglied des Vorstands der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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