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Die neue „Regierung der nationalen Einheit“

by Evelyn Gaiser, Michael Mertes

Gewinner und Verlierer, Chancen und Risiken

Am frühen Morgen des 8. Mai 2012 einigten sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der neue Kadima-Vorsitzende und Oppositionsführer Schaul Mofas auf einen Eintritt der Kadima in die Regierung. Damit steht das Stimmenverhältnis in der Knesset zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen bei 94 zu 26 Parlamentssitzen. Die im September 2012 anstehenden Neuwahlen wurden durch die Regierungsbeteiligung der Kadima hinfällig.

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Hintergründe

Der Wahlkampf hatte gerade erst angefangen, da fand er auch schon ein abruptes Ende. In einer geheimen Vereinbarung wurden „über Nacht“ die politischen Machtverhältnisse in Israel dergestalt verändert, dass größere Umbrüche in der israelischen Parteienlandschaft die Folge sein könnten.

Vorgezogene Neuwahlen sind keine Seltenheit in der Geschichte des Staates Israel. Seit längerem gab es Spekulationen, ob die Regierung Netanjahu bis zum Ende der Legislaturperiode (Herbst 2013) im Amt bleiben werde. Innenpolitische Streitpunkte hatten die Regierungskoalition vor eine Zerreisprobe gestellt. Dazu gehörten bspw.

  • die Formulierung eines Gesetzesentwurfs zur Neuregelung der Wehrpflichtbestimmungen (die Nachfolgeregelung des „Tal-Gesetzes“ soll dafür sorgen, dass mehr ultraorthodoxe Juden und israelische Araber Wehrdienst leisten) oder

  • der Abriss illegaler Siedlungs-Außenposten im Westjordanland, aber auch

  • die Aussicht auf Turbulenzen bei der Verabschiedung des nächsten Haushaltes.

Nachdem sich die Knesset schon auf den 4. September 2012 als Datum für vorgezogene Neuwahlen geeinigt und die Regierung einen Antrag zur Auflösung des Parlaments eingebracht hatte, kam die Nachricht vom Überraschungscoup.

Grundlage der neuen Koalition sind folgende Vereinbarungen:

  • Der Kadima-Vorsitzende Schaul Mofas wird stellvertretender Ministerpräsident, Minister ohne Geschäftsbereich und Mitglied der ministeriellen Ausschüsse für diplomatische, Sicherheits- und sozioökonomische Belange

  • Die Kadima behält den Vorsitz in den Knesset-Ausschüssen für Außenpolitik und Verteidigung und erhält den Vorsitz des Ausschusses für Wirtschaftsangelegenheiten

  • Die Koalition wird zum 1. August 2012 eine Alternative zum „Tal-Gesetz“, d.h. zur Wehrpflichtbefreiung für die ultraorthodoxe Bevölkerung, einbringen

  • Die Koalition wird das Wahlsystem zum Ende des Jahres ändern, das neue System soll zur nächsten Wahl Anwendung finden

  • Die Koalition wird den Friedensprozess in verantwortungsvoller Weise voranbringen

  • Die Koalition wird ein nationales „Not-Budget“ vorlegen, um mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung der Staatsausgaben zu garantieren

  • Die Kadima wird bis zum Ende dieser Amtszeit in der Regierung bleiben

! Mögliche Folgen für Israels Parteienlandschaft

Die unerwartete Einigung zwischen Netanjahu und Mofas bringt sowohl Gewinner als auch Verlierer hervor, sie birgt Chancen und Risiken für alle Beteiligten. Akteure, denen in Umfragen bislang gute Wahlergebnisse vorhergesagt wurden, drohen jetzt von der Bildfläche zu verschwinden. Andere, deren Ausscheiden aus der Knesset im Falle vorgezogener Wahlen als sicher galt, sehen ihren politischen Einfluss erst einmal bis Herbst 2013 gesichert.

Die israelischen Medien, aber auch die Bevölkerung waren sich in ihrer Einschätzung des Manövers relativ einig: Bedingt war der Zusammenschluss in erster Linie durch ein Machtkalkül (siehe Haaretz poll: Israelis see Netanyahu, Mofaz motivated by political gain, Haaretz online vom 09. Mai 2012). Dass Mofas und Netanjahu in erster Linie das Wohl der Nation im Sinn hatten, konnten sich nur wenige vorstellen. Die Mehrheit der Israelis sieht die Regierungserweiterung als abgekartetes Spiel, das hinter dem Rücken der Bevölkerung initiiert wurde. Ziv Lenchner schreibt dazu jedoch in seinem Kommentar auf ynetnews.com Israel’s disgraceful alliance - Shameful Mofaz-Bibi deal shatters centrist dream, Israelis should only vote for men of principle, (ynetnews.com vom 08. Mai 2012), dass der amtierende Ministerpräsident ohnehin nicht als ein „Mann der Prinzipien“ wahrgenommen werde, nicht einmal von seinen Unterstützern. Daher sei Netanjahus Verlust an Glaubwürdigkeit, im Vergleich zu dem von Mofas, nur gering.

Als einer der großen Nutznießer des Coups wird Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gehandelt. Aus Umfragen ging Netanjahu als klarer Favorit der Neuwahlen hervor. Innerparteilich hatte er jedoch mit dem rechtsnationalen Flügel des Likuds zu kämpfen, der vor allem seit Abspaltung der zur Mitte hin orientierten Kadima immer mehr an Einfluss gewonnen hatte (siehe Likud’s right flank sends a warning shot across Netanyahu’s bow, The Times of Israel vom 07. Mai 2012). Dies zeigte sich bspw. bei den Wahlen zum Parteivorsitz, als der Siedlervertreter und Herausforderer Netanjahus, Moshe Feiglin, 23% der Stimmen erhielt, oder auf der jüngsten Likud-Versammlung. Dort forderte der Abgeordnete Danny Danon, der dem rechten Parteiflügel zuzuordnen ist, Netanjahu heraus, indem er sich weigerte, seine Kandidatur gegen den Ministerpräsidenten bei der Wahl zum Versammlungsvorsitzenden zurückzuziehen. Der Versammlungsvorsitzende hat großen Einfluss auf die Verteilung der Wahllistenplätze des Likud. Der Likud gilt inzwischen als von Siedlern, die großen Einfluss auf innerparteiliche Entscheidungen nehmen, „unterwandert“ (siehe Israeli settlers make up 30 percent of new Likud members, Haaretz online vom 27. Januar 2012). Bei Knessetwahlen wählen viele dieser Parteimitglieder jedoch andere, weiter rechts stehende Parteien. Der Anteil von Siedlern unter Likud-Mitgliedern ist 2,2 Mal höher als der Anteil von Siedlern unter Likud-Wählern. Die Absage der Neuwahlen dürfte Richtungsdebatten im Likud vorerst in den Hintergrund gerückt und Netanjahus innerparteiliche Position gestärkt haben. Sollte es ihm gelingen, Kadima-Mitglieder zu einer Rückkehr in den Likud zu bewegen, würde dies seine Position gegenüber dem rechten Parteiflügel weiter verbessern.

In seiner bisherigen Regierung war der Ministerpräsident abhängig von den Stimmen säkular-nationalistischer, nationalreligiöser und ultraorthodoxer Koalitionsmitglieder, die wiederholt drohten, aus der Regierung auszutreten, sollten ihre Interessen nicht gewahrt werden. Nun steht Netanjahu an der Spitze einer Koalition, die auch bei einem Austritt kleinerer Koalitionspartner eine deutliche Mehrheit in der Knesset behielte. Mit den Stimmen der ideologisch dem Likud nahestehenden Kadima wird sein Handlungsspielraum maßgeblich erweitert. Je nach Bedarf kann er sich mit dem zentristischen oder dem rechten Flügel seiner Koalition zusammentun, um seine Anliegen umzusetzen (siehe Formation of Israeli unity cabinet shows Netanyahu blinked first, again, Haaretz online vom 08. Mai 2012).

Eine außenpolitische Herausforderung für Netanjahu birgt die mögliche Wiederwahl des amtierenden US-Präsidenten Barack Obama im November 2012. In diesem Fall würde Obama sich, so wird in Israel erwartet, sehr viel stärker in den Nahost-Konflikt einschalten und auf eine Lösung drängen. In seiner zweiten und damit letzten Amtsperiode müsste er dabei weniger Rücksicht auf die so genannte Jewish Vote nehmen und könnte mehr Druck auf Netanjahu ausüben (Eine neue Knesset schon im Herbst 2012?, Länderbericht Konrad-Adenauer-Stiftung Israel vom 13. Februar 2012). Dem könnte Netanjahu jetzt allerdings entgegenhalten, dass sich seine Politik auf eine breitestmögliche parlamentarische Basis stützt. Durch die Einbindung der Kadima muss er weniger als bisher befürchten, dass ein denkbarer israelisch-amerikanischer Streit über den richtigen Kurs zur Wiederbelebung des Nahost-Friedensprozesses zu einer für ihn schädlichen Polarisierung des Knesset-Wahlkampfs 2013 führen könnte.

Zumindest kurzfristig ist auch Schaul Mofas ein Gewinner des Deals. Laut Umfragen hätte Kadima bei vorgezogenen Knesset-Wahlen im September mehr als die Hälfte ihrer Mandate verloren (von 28 auf 12 Sitze), Mofas’ Chancen auf das Amt des Ministerpräsidenten waren also äußerst gering. Mit dem Eintritt in die Regierung gewann Kadima ein weiteres Jahr als stärkste Knesset-Fraktion im Parlament und die Möglichkeit, mit der Umsetzung populärer Maßnahmen wieder Stimmen zu gewinnen. Mofas’ politisches Überleben ist so zumindest temporär gesichert. Die Glaubwürdigkeit des ehemaligen Oppositionsführers und sein öffentliches Image haben nach dieser„180-Grad-Wende“ jedoch erheblichen Schaden erlitten. Noch kürzlich hatte Mofas Netanjahu einen „Lügner“ genannt und versichert, seine Partei würde niemals eine Koalition mit dem Likud eingehen (siehe Shaul Mofaz's political zigzag, ynetnews.com vom 08. Mai 2012). Zudem ist das neue Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten und des Ministers ohne Portfolio weniger prestigeträchtig als das des Oppositionsführers. So schreibt das diplomatische Protokoll beispielsweise vor, dass ein ausländisches Staatsoberhaupt bei einem Staatsbesuch den Oppositionsführer, nicht jedoch den stellvertretenden Ministerpräsidenten trifft.

Ehud Barak und seine HaAtzmaut-Fraktion, die sich Anfang 2011 von der Arbeitspartei Awoda abgespalten hatte, wären laut Umfrageergebnissen bei Wahlen im September an der Zwei-Prozenthürde gescheitert und nicht mehr in der Knesset vertreten. Barak gewinnt nun ebenfalls Zeit, um seine Popularität zu steigern oder aber für sich und seine Mitstreiter neue politische Überlebensstrategien zu entwickeln.

Die ehemalige, von Mofas gestürzte Kadima-Vorsitzende und Oppositionsführerin Tzipi Livni könnte profitieren, sollte sich eine Gruppe von der Kadima abspalten und eine neue Partei gründen. In jedem Falle wird sie schon jetzt als „Frau der Prinzipien“ geschätzt, die nicht aus machtpolitischen Überlegungen heraus handele und ihre Standpunkte nicht für eine Regierungsbeteiligung aufgegeben habe (ein Lob, dessen Kehrseite Kritik an Mofas ist).

Auf den ersten Blick scheint Jair Lapid mit seiner Anfang Mai 2012 gegründeten Partei Jesh Atid einer der Verlierer der Regierungserweiterung zu sein. Lapid hätte bei Parlamentswahlen im September 2012 laut Umfragen mit einer zweistelligen Zahl von Knessetsitzen rechnen können (siehe Poll predicts 30 mandates for Likud, ynetnews.com vom 30. April 2012). Nun hat Lapid aber kein politisches Amt inne, seine Karriere als Journalist gab er, nach Gerüchten über vorgezogene Neuwahlen, zugunsten seiner politischen Karriere auf. (In der Knesset war das sogenannte Jair-Lapid Gesetz debattiert worden, das eine„Abkühlungsphase“ zwischen sechs Monaten und einem Jahr von Journalisten fordert, die in die Politik wechseln wollen. Mit seinem frühzeitigen Ausstieg aus dem Journalismus im Januar 2012 umging Lapid diese Hürde – siehe Yair Lapid quits journalism, plunges into politics, Jerusalem Post online vom 08. Januar 2012). Es gilt als zweifelhaft, dass Lapid seine guten Umfrageergebnisse für ein weiteres Jahr halten kann. So zeigte die Haaretz-Umfrage einen Tag nach der Regierungsumbildung (siehe Haaretz poll: Israelis see Netanyahu, Mofaz motivated by political gain, Haaretz online vom 09. Mai 2012), dass Lapid im Vergleich zu einer Umfrage, die 10 Tage zuvor stattfand, 40% seiner Unterstützung verloren hatte.

Ein Faktor, der jedoch die Zukunft der israelischen Politik maßgeblich mitbeeinflussen dürfte, ist der Wunsch eines großen Teils der israelischen Bevölkerung nach sozialen Reformen. Ergebnisse der gemeinsamen israelisch-palästinensischen Meinungsumfrage vom März 2012, die mit Unterstützung der KAS Israel und der KAS Palästinensische Gebiete durchgeführt wurde, zeigten das große Potential dieses Themas. Die Knessetwahlen 2013 könnten – wenn nicht Themen der nationalen Sicherheit alles andere in den Schatten stellen – maßgeblich dadurch geprägt werden, welcher Partei es gelingt, dieses Potential für sich zu nutzen und eine Agenda der sozialen Gerechtigkeit voranzutreiben.

Auch die Spitzenkandidatin der Arbeitspartei Awoda, Schelly Jachimovitsch schien bei dem Einheitsdeal auf den ersten Blick das Nachsehen zu haben. Awoda hätte laut Umfragen bei vorgezogenen Wahlen deutlich mehr Mandate erzielen können als noch 2009. Das Amt der Oppositionsführerin, das Jachimovitsch von Schaul Mofas übernahm, wertet ihren bisherigen Status aber in jedem Fall auf. So hat sie die Chance, sich als Anführerin der für den Sommer 2012 erneut erwarteten sozialen Proteste profilieren zu können. Viele Wähler, die sich von der Kadima nach denen Eintritt in die Regierung Netanjahu abwenden, könnten ihre Stimme in Zukunft der Arbeitspartei geben, die dann wieder die starke Alternative zum Likud darstellen würde.

Avigdor Lieberman und seine Partei, Israel Beiteinu, werden deutlich an Einfluss einbüßen. Netanjahu ist durch die Regierungserweiterung nun nicht mehr auf die Stimmen der säkular-nationalistischen Partei angewiesen. Israel Beiteinu hatte mit ihren 15 Stimmen einen besonderen Ton innerhalb der Regierung angegeben und Netanjahu in vielerlei Hinsicht mit demokratiepolitisch problematischen Gesetzesinitiativen in Bedrängnis gebracht. Jüngst hatte die Partei versucht, eine eigene Nachfolgeregelung zum „Tal-Gesetz“ durchzubringen, wonach jeder Bürger Israels – nicht nur aus dem ultraorthodoxen, sondern auch aus dem arabischen Sektor – Wehr- oder Zivildienst leisten müsse. Auf die Lorbeeren für diese sehr populäre Initiative wird die Partei wohl verzichten müssen, da, sollte es gelingen, eine neue Regelung für die Wehrpflicht zu finden, dies von der Bevölkerung wohl in erster Linie auf die Regierungsbeteiligung von Kadima zurückgeführt werden wird.

Der ultraorthodoxen Schas-Partei könnte ein ähnliches Schicksal drohen. Nur schwer werden sich bestimmte Interessen der Ultraorthodoxen gegen einen Block aus Likud, Kadima und Israel Beiteinu vertreten lassen. Die neue Nachfolgeregelung zum „Tal-Gesetz“, die darauf abzielt, auch Jeschiwa-Schüler zum W ehrdienst einzuziehen, gehört nun zur Koalitionsvereinbarung Likud-Kadima. Shas wird es schwer haben, im Falle der Verabschiedung eines neuen Wehrpflichtgesetzes ohne Regierungsaustritt ihr Gesicht zu wahren. Das ist jedoch relativ unwahrscheinlich, da dann wichtige Positionen, wie das durch den Parteivorsitzenden Eli Jischai geleitete Innenministerium, der Schas verlorengingen. Eli Jischai und Schas werden aber insofern profitieren, als der ehemalige Schas-Parteiführer Aryeh Deri, der die Gründung einer neuen Partei angekündigt hatte, seinen einstigen Parteifreunden vorerst keine Wählerstimmen streitig machen wird.

Generell werden die kleineren Koalitionsmitglieder Jahadut haTorah haMeukhedet („Vereinigtes Thora-Judentum“), HaBait haJehudi („Das jüdische Zuhause“) die eine religiöse Klientel vertreten, ihr Druckmittel des Regierungsaustritts verlieren, und damit an Einfluss einbüßen.

Auch die Gruppe der ideologischen Siedler wird nicht von dem Eintritt Kadimas in die Koalition profitieren. Die meisten Kadima-Politiker unterstützen die Siedler nicht. Sollte ein Teil von Kadima in den Likud zurückkehren, würden die Siedler auch dort an Einfluss verlieren.

Quo vadis, Kadima?

Die Zukunft von Kadima ist ein Thema, das in der israelischen Presse seit dem Überraschungscoup vom 8. Mai 2012 ausgiebig behandelt wurde. Auf kurze Zeit ist die starke parlamentarische Stellung der Kadima gesichert, langfristig werden mehrere Faktoren ihr Schicksal bestimmen. So wird ihre Zukunft wesentlich davon abhängen, ob die Partei trotz der Blessuren, die der Kampf Mofas-Livi hinterlassen hat, weiterhin zusammenhält und auch davon, ob es gelingen wird, die Punkte ihres Koalitionsabkommens mit dem Likud umzusetzen und damit den Regierungseintritt zu rechtfertigen. Erste Umfrageergebnisse zeigen einen massiven Popularitätsverlust. Hätten Mitte Mai 2012 Wahlen stattgefunden, hätte Kadima nur noch 3 Mandate erhalten (siehe Jeremy's Knesset Insider vom 17. Mai 2012).

Die Kadima-Abgeordneten wurden nicht an der Entscheidung beteiligt und erfuhren erst am Morgen, dass sie nun der Regierung angehörten. Der Einheitsdeal hat den innerparteilichen Riss vertieft. Besonders das Lager um Tzipi Livni ziehe die Gründung einer neuen Partei in Betracht. So berichtete Haaretz online (siehe Kadima faces split, as unity cabinet leaves both winners and losers), Haaretz online vom 11. Mai 2012], dass die fünf Abgeordneten Shlomo Molla, Orit Zuaretz, Nino Abesadze, Robert Tiviaev und Majallie Whbee nach einem Weg aus der Partei suchen. Livni hat ihr Knesset-Mandat, nachdem sie als Kadima-Vorsitzende abgewählt wurde, niedergelegt. Inzwischen gab es in der Knesset Diskussionen über einen Gesetzesentwurf, der die Anzahl der Abgeordneten, die benötigt werden, um eine neue Fraktion zu gründen, erhöhen soll (siehe Mofaz moves to revoke law named after him to block party split, Israel Hayom online vom 14. Mai 2012). Die Bemühungen um eine neue Parteigründung erhielten zwischenzeitlich dadurch einen Dämpfer (siehe Bar-On appointment quashes anti-Mofaz efforts, Jerusalem Post online vom 14. Mai 2012), dass Mofas Livni-Vertrauten und -Unterstützern wichtige Ämter verschaffte oder in Aussicht stellte. Ronnie Bar-On, der als möglicher Anführer einer neuen Partei gesehen wurde, wird nun bspw. den Vorsitz des Ausschusses für Verteidigung und Auswärtige Angelegenheiten innehaben.

In der Jerusalem Post vertritt Uri Savir (siehe National unity, but not national decisions, Jerusalem Post online vom 10. Mai 2012) die häufig zu hörende Ansicht, Kadima habe ihre „Raison d’être“ als Partei des Zentrums verloren. Hunderte von Kadima-Mitgliedern kündigten nach der Nachricht vom Regierungseintritt ihre Parteimitgliedschaft. Unter Journalisten häufen sich Spekulationen über eine Rückkehr von Kadima-Abgeordneten zum Likud oder ihren Wechsel zur Awoda – und damit eine Entwicklung zurück zu einem System, in dem zwei Parteien dominieren (siehe etwa Restore the two-party system).

Folgen der Regierungserweiterung für das politische System

Mehr Handlungsfähigkeit, mehr Stabilität?

Während viele Kommentatoren die Form und den Zeitpunkt, in dem der Deal stattfand, kritisierten, hob doch eine Vielzahl an Journalisten hervor, dass das israelische Volk von der Einheitsregierung profitieren könne. In vielen Kommentaren findet sich das positiv belegte Schlagwort der „Stabilität“.

Den kleineren Klientelparteien wird der überproportionale Einfluss, den sie bislang auf die Entscheidungsfindung der Regierung ausübten, durch den Eintritt gemäßigter Akteure aus dem politischen Zentrum genommen. Dank der Regierungserweiterung können, so der Gründer und Vorsitzende des renommierten Israeli Democracy Institute, Dr. Arye Carmon, endlich Maßnahmen umgesetzt werden, die die Anliegen der Bevölkerungsmehrheit repräsentieren (siehe Expert: Unity opportunity for real change, Jerusalem Post online vom 09. Mai 2012). Unter den aktuellen Mehrheitsverhältnissen muss Regierungschef Netanjahu vom Regierungsaustritt einzelner Parteien nichts mehr befürchten. Seine Regierung behielte auch dann die parlamentarische Mehrheit. Die „Überlebenspolitik“ der bisherigen Regierung kann nun durch eine Politik der konkreten Ergebnisse ersetzt werden.

Auch das Editorial der Jerusalem Post online vom 12. Mai 2012 hebt die Vorteile der neugewonnenen Stabilität hervor. Langerwartete und dringend benötigte Reformen hätten endlich eine Chance umgesetzt zu werden (siehe Jerusalem Post editorial). Zu den nötigen Reformen zählen die oben genannte Nachfolgeregelung des „Tal-Gesetzes“, die Aufstellung des Haushaltes 2013-2014, sowie das Finden einer Lösung zum Umgang mit illegalen Siedlungs-Außenposten, deren Abriss vom Obersten Gericht angeordnet wurde.

Der neue Haushalt kann nun ohne Rücksicht und überproportionale Begünstigung von „pressure groups“ (ultrareligiöse Gruppierungen und Siedler) verabschiedet werden. Fraglich ist, inwiefern die Forderungen der Sommerdemonstrationen 2011 für soziale Gerechtigkeit berücksichtigt werden.

Auch eine Reform des Wahlsystems, das die Macht der kleineren Parteien einschränkt und somit nachhaltig für mehr Stabilität sorgen soll, ist Ziel der Koalitionsvereinbarung. Durch die Anhebung der geltenden Zwei-Prozent-Hürde für den Eintritt in die Knesset sollen die Anzahl und der Einfluss der kleinen Parteien in der Knesset sowie die Regierungsbildung erleichtert werden. Dieses Vorhaben, das schon lange auf der politischen Agenda steht, könnte nun, trotz des Widerstandes solcher Parteien, möglich sein. Auch die Einführung von Regionalwahlen ist im Gespräch.

Die Absage der vorgezogenen Wahlen dient letztlich auch den israelischen Steuerzahlern. Die Kosten von Kampagne und Neuwahlen wären eine enorme Zusatzbelastung gewesen (siehe The disgusting price of stability, Haaretz online vom 11. Mai 2012). Ferner hätten in der Zeit zwischen der Auflösung der Knesset im Frühling und der Bildung einer neuen Regierung im Herbst keine politischen Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden können.

Die israelische Öffentlichkeit ist jedoch pessimistisch, was die neuen Reformperspektiven betrifft. Die Haaretz-Umfrage vom 8. Mai 2012 (siehe Haaretz poll: Israelis see Netanyahu, Mofaz motivated by political gain) zeigt, dass bspw. nur ein Viertel der Befragten an eine Reform des Wahlsystems glaubt. Die Hälfte der Befragten meint zudem, dass sich die Regierung nicht an ihr Versprechen aus dem Koalitionsabkommen halten werde, mit der neuen Wehrpflichtregelung mehr Jeschiwa-Schüler in die Armee zu integrieren.

Bewegung zum Zentrum?

Generell sehen Beobachter durch den Regierungseintritt von Kadima eine Bewegung zur politischen Mitte. Haaretz-Kommentator Ari Shavit vergleicht Netanjahu in seinem Kommentar auf Haaretz online vom 09. Mai 2012 mit Ariel Scharon: „Like Ariel Sharon, Netanyahu has been pushed to the center“. In der Tat wurde in der israelischen Presse wiederholt die Hoffnung geäußert, dass durch den Eintritt von Kadima mäßigende und kompromissbereite Elemente ihren Einfluss durchsetzen werden und die Regierung von einer nationalreligiös-nationalistischen Position mehr ins Zentrum rückt. Dies kann auch auf außenpolitischer Ebene Folgen haben.

Neue Chancen für den Friedensprozess?

In der Koalitionsvereinbarung Likud-Kadima steht geschrieben, dass die Koalition den Friedensprozess in verantwortungsvoller Weise voranbringen werde. Einige Kommentatoren äußerten die Hoffnung, dass die jetzt stärker zur Mitte hin orientierte Regierung mehr Spielraum habe und tatsächlich die Aussichten auf eine Zwei-Staaten-Lösung verbessern könne. Zudem könnte eine mögliche Rückkehr einiger Kadima-Abgeordneter in den Likud den Einfluss rechtsnationaler Elemente dort schwächen.

Moshe Ronen schreibt in seinem Op-ed auf ynetnews.com vom 10. Mai 2012 (siehe Broad unity government the only way to advance peace process, promote equal draft“), Netanjahu sei bisher dasjenige Regierungsmitglied gewesen, das am weitesten „links“ gestanden habe. Dazu vermerkt Jay Bushinski am 10. Mai 2012 in seinem Kommentar in der Jerusalem Post online (siehe Intrigue always gets high ratings): „Die neue Likud-Kadima-Kombination könnte dem sterbenden Friedensprozess mit den Palästinensern die dringend benötigte neue Dynamik verleihen. Sie könnte Netanjahu und relativ gemäßigte Likud-Mitglieder ermutigen, weiterreichende territoriale Zugeständnisse zu machen und die schleichende Annektierung des Westjordanlands durch jüdische Extremisten, die sich dort niederlassen, zu stoppen.“ Mit dem Brief, den Netanjahu nach der Regierungserweiterung an den palästinensischen Präsidenten Machmud Abbas übergeben ließ, nahm der israelische Ministerpräsident zum ersten Mal sein Versprechen, die Gründung eines palästinensischen Staates im Rahmen der Zwei-Staaten-Lösung zu unterstützen, in ein offizielles Dokument auf. Kritiker der Netanjahu-Regierung und palästinensische Regierungsmitarbeiter verwiesen jedoch darauf, dass der Brief ansonsten die alten Positionen enthalte und auf einem Verhandlungsbeginn ohne Vorbedingungen beharre.

Kurskorrektur in der Iran-Politik?

Auch in Bezug auf den Iran könnte die erweiterte Koalition neue Akzente setzen. Ari Shavit schreibt in seinem Kommentar vom 09. Mai 2012 in Haaretz online (Like Ariel Sharon, Netanyahu has been pushed to the center): „Jetzt wird die Iran-Entscheidung nicht von einer Entscheidung des verunglimpften Duos aus Caesaria und den Akirov-Türmen sein.“ (Mit den Ortsangaben spielt der Autor auf die Wohnsitze von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak an.) „Sie wird eine gemeinsame Entscheidung Netanjahus, Verteidigungsminister Ehud Baraks, Mofas’ und Vizepremier und Minister für Strategische Fragen Moshe Ja’alons sein. Anstelle von Vor-Iran-Wahlen erhalten wir Vor-Iran-Einheit, was dieselben Auswirkungen hat. Anstelle eines zweimonatigen Zeitfensters (September-Oktober 2012) erhalten wir ein viermonatiges Zeitfenster (Juli-Oktober 2012).“

In jedem Fall kann Netanjahu die neue Stärke nutzen, um seine Rhetorik und seine Drohungen vis-à-vis Iran zu verstärken und die internationale Gemeinschaft zu weiteren Sanktionen zu drängen. Bei einem Treffen mit der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, demonstrierte die israelische Regierung Einigkeit, indem Netanjahu mit Mofas, Barak und Lieberman die gemeinsame Position zum Iran erklärte. Dies wurde, vor den Atomverhandlungen mit dem Iran, als deutliche Botschaft an den Westen interpretiert. Mofas hat nun die Entscheidung mitzutragen, ob es einen Angriff auf Nuklearanlagen in seinem ursprünglichen Heimatland geben wird. Vor dem Regierungseintritt seiner Partei hatte er sich gegen einen Angriff ausgesprochen und Netanjahus Iranrhetorik scharf kritisiert. Ob Mofas weiterhin zu seiner alten Aussage stehen wird, bleibt abzuwarten.

Schaden für die demokratische Kultur?

Während viele positive Stimmen die Chancen und Vorteile einer Einheitsregierung priesen, stieß die Abmachung auch auf Kritik.

Schaden habe die heimliche Einigung am politischen System hinterlassen. Das Vertrauen der israelischen Bevölkerung in ihre Politiker und deren Glaubwürdigkeit wurden nachhaltig untergraben. Umfragen und Studien zeigen, dass der Grad des Vertrauens in Politiker und politische Institutionen in Israel ohnehin sehr niedrig sind. (vgl. IDI Israeli Democracy Index 2011). Durch den Überraschungscoup fühlt die israelische Bevölkerung sich zusätzlich hintergangen. Dazu schreibt Ziv Lenchner (siehe Israel's disgraceful alliance, ynetnews.com vom 8. Mai 2012): „Ein Bürger, der sich wünscht zu sehen, dass seine Vertreter ihren Prinzipien treu bleiben, ist hiermit aufgefordert eine Seite zu wählen: Rechts, Links oder etwas anderes Eindeutiges; eine Seite, die konsistent bleibt und, selbst wenn pragmatisch, nicht ‚flexibel’ bis zur Übelkeit und nicht unbeständig, nicht opportunistisch und nicht betrügerisch“. Über die Tatsache, dass die Zukunft des Landes in einem geheimen Deal zwischen zwei Politikern und ihren Beratern entschieden wird, schien aber niemand wirklich überrascht.

Zude m gibt es viele Pressestimmen, denen eine Regierungsmehrheit in diesem Ausmaß Sorge bereitet. Dies sei nicht gut für den demokratischen Charakter des Landes. So äußerte sich beispielsweise der Vizepräsident des Israel Democracy Institute, Mordechai Kremnitzer, skeptisch zu dem Deal (siehe Stability rules, Jerusalem Post online vom 12. Mai 2012). Die neue Koalition sei zu stabil und könne nach Gutdünken handeln, ohne von einer effektiven/leistungsfähigen Opposition herausgefordert zu werden. Das sei gefährlich, so Kremnitzer.

Wie auch immer, „die israelische Politik befindet sich immer noch in einem Schockzustand”, wie Yossi Verter in Haaretz online vom 25. Mai 2012 feststellt (siehe With the elections canceled, Israeli politics is in a state of shock).

Evelyn Gaiser und Michael Mertes

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