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Gegen das Vergessen

by Michael Mertes

Joachim Gauck im Gespräch mit Michael Mertes 1999

Bundespräsident Gauck wird vom 28. bis 31. Mai 2012 nach Israel reisen und auch die Palästinensischen Gebiete besuchen. Michael Mertes, Leiter der KAS Israel, hatte im Herbst 1999 als stellvertretender Chefredakteur des „Rheinischen Merkur“ zum 10. Jahrestag des Mauerfalls ein Interview mit ihm über den Kampf gegen das Vergessen geführt, das wir hier dokumentieren. „Aufklärung und offene Diskussion über die Mechanismen der Unterdrückung bedeuten Streit – aber es ist ein notwendiger, heilsamer Streit“, antwortete Gauck damals auf die Frage nach der Bedeutung des Erinnerns für die Demokratie.

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MICHAEL MERTES: Herr Gauck, was sind Ihre persönlichen Erinnerungen an den 9. November 1989?

JOACHIM GAUCK: Vorab möchte ich etwas betonen, das heute oft aus dem Blick gerät: Für die Mehrheit derer, die bei der Revolution von 1989 mitgemacht haben, war der historische Höhepunkt nicht der 9. November. Das wichtigste Datum war für sie jeweils der Tag, an dem die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Stadt zum ersten Mal auf die Straße gingen, um gegen die Allmacht der SED zu demonstrieren. In Leipzig war das Montag, der 9. Oktober, bei mir in Rostock der 19. Oktober, ein Donnerstag. Bei aller Freude über die wiedergewonnene Einheit dürfen wir eines nicht vergessen: Den Menschen, die damals „Wir sind das Volk!“ riefen, kam es zunächst darauf an, Freiheit, Recht und Demokratie in ihrem eigenen Umfeld zu sichern.

Die Einheit war eine Folge der Freiheit.

GAUCK: Ja, und wenn wir die fundamentale Bedeutung der Freiheit für unseren Weg zur Einheit nicht sehen, dann verschenken wir eine Chance, die unsere Nation besonders nötig braucht. Freiheit ist, wie Hannah Arendt sagt, der Sinn von Politik. Das mangelnde Gespür für die Bedeutung politischer Freiheit ist eine Schwachstelle unseres Nationalbewußtseins. Sie drückt sich im Spott der Stammtische – auch der gebildeten Stammtische – über die gescheiterten deutschen Freiheitshelden und Revolutionäre des 19. Jahrhunderts aus. Gerade deshalb sollten wir uns bewußt machen, was 1989 geschehen ist: Da empfanden deutsche Untertanen, die drei Generationen lang nichts anderes gelernt hatten, als das Haupt zu beugen, eine so starke Sehnsucht nach Freiheit, Recht und Demokratie, daß sie eine Revolution in Gang setzten.

Zurück zum 9. November: Wie haben Sie ihn erlebt?

GAUCK: Am Tag selbst begriff ich erst gar nicht, was geschehen war. Es war ein Donnerstag, und da fand immer die Rostocker „Montagsdemonstration“ statt. Wir vom Neuen Forum waren ganz absorbiert von der Organisation des Protestes. Als gute deutsche Revolutionäre gingen wir tagsüber zur Arbeit. Abends wurden die großen Gottesdienste in fünf Kirchen gleichzeitig gefeiert, und später zogen die Demonstranten vor das Rathaus zur nächtlichen Abschlußkundgebung. Kurz nach 23.00 Uhr kam ein Volkspolizist zu mir und meldete respektvoll: „Herr Gauck, ich höre eben im Radio, daß in Berlin die Mauer auf sein soll.“ Ich weiß noch, wie ich ihm sagte: „Das glaube ich nicht, das kann ja nicht sein. Tun Sie nur weiter Ihren Dienst, wir setzen die Demonstration fort.“ Dann wurde ich aber doch nervös, ging nach Hause, machte das Fernsehen an – und sah die Bilder, die wir alle kennen. Aber das große Glücksgefühl, das ja fast nach einer dichterischen Sprache verlangt, ist bei mir wie bei den anderen, die ganz aktiv in der Revolution von 1989 waren, schon früher dagewesen.

Wann war der Zeitpunkt, als aus der Forderung nach Freiheit die Forderung nach Einheit wurde?

GAUCK: Zunächst konnte sich kaum jemand einen solchen Umschwung vorstellen. Als Helmut Kohl gut drei Wochen nach dem Fall der Mauer sein Zehn-Punkte-Programm für die Einheit Deutschlands vorstellte, stieß er damit auf Skepsis bei den Bürgerrechtsgruppen. Allerdings klafften die Vorstellungen großer Teile der DDR-Bevölkerung – sagen wir verkürzt: des Volkes – und der ostdeutschen Intellektuellen auseinander.

In den Bürgerrechtsgruppen – auch im Neuen Forum – diskutierten wir darüber, wie wir unsere Gesellschaft demokratisieren konnten. Dabei knüpften wir, ohne es bewußt zu tun, an Forderungen des 17. Juni 1953 an. Im Vordergrund unserer intellektuellen Debatten standen die Menschen- und Bürgerrechte, die Herstellung einer Kommunikation zwischen Beherrschten und Herrschenden, die Hoffnung auf freie Wahlen und eine dadurch legitimierte Staatsmacht. Viele hielten an der Zweistaatlichkeit fest, denn es stand ihnen eine Art „dritter Weg“ vor Augen: „Wir bringen die DDR in Ordnung und schaffen einen demokratischen Sozialismus.“ Aber das Volk wurde ungeduldig: „Was ihr anstrebt – Freiheit, Demokratie, angemessenen Lohn für harte Arbeit –, das ist doch schon längst verwirklicht, nämlich in der Bundesrepublik. Es gibt auch schon ein Symbol dafür – das ist die schwarz-rot-goldene Fahne, die man uns genommen hat. Und es gibt einen Namen, an den sich unsere Hoffnungen knüpfen – das ist Helmut Kohl. Wenn ihr jetzt noch lange herumbastelt, dann sagen wir euch: Wir wollen die deutsche Einheit!“

Dieses intuitive Urteil der Bevölkerungsmehrheit war politisch rationaler als der Traum von einem dritten Weg für die DDR. Denn niemand war in der Lage, die Ökonomie des dritten Weges zu definieren. Ich habe deshalb im Spätherbst 1989 angefangen, für einen Kurswechsel im Sinne des lauter werdenden Rufes „Wir sind ein Volk!“ zu plädieren – sehr zum Entsetzen vieler junger Mitstreiter aus dem alternativen Spektrum. Bei einer Vollversammlung des Rostocker Neuen Forums Anfang Dezember sprachen sich die meisten für ein „Ja“ zur deutschen Einheit aus. Mit diesem Votum fuhr ich dann im Januar 1990 zum ersten DDR-weiten Treffen des Neuen Forums. Dort gab es eine Sieben-Achtel-Mehrheit dafür, die Zweistaatlichkeit aus unserem Programm zu streichen und die Forderung nach Einheit darin aufzunehmen. Ähnliche Entwicklungen hat es früher oder später auch bei anderen Bürgerrechtsgruppen und Parteien in der DDR gegeben.

Ihre Behörde ist das Ergebnis von Forderungen der Bürgerrechtler, die dafür eine breite Unterstützung in der DDR-Bevölkerung hatten. Haben Sie nach den PDS-Erfolgen bei den jüngsten Landtagswahlen den Eindruck, daß Ihnen der Wind allmählich ins Gesicht bläst?

GAUCK: Der Wind hat uns von Anfang an ins Gesicht geblasen. Ein Teil der ostdeutschen Bevölkerung ist immer noch nicht über den wahren Charakter der SED-Diktatur aufgeklärt. Auch in den kommenden zehn Jahren – und vermutlich darüber hinaus – werden wir erleben, daß die ostdeutsche Bevölkerung gespalten ist: Es gibt diejenigen, die sich von allen Formen der Repression verabschieden wollen, die auf das europäische Demokratieprojekt setzen – das ist die Mehrheit. Aber weil für die Medien nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, reden wir dauernd über das Viertel oder Fünftel derjenigen, die PDS wählen. So entsteht der Eindruck, als seien die Ostdeutschen insgesamt zu unaufgeklärt, um die Segnungen politischer Freiheit zu begreifen. Natürlich ärgere ich mich über die Minderheit derer, die die Vorzüge einer freiheitlichen Ordnung nicht zur Kenntnis nehmen und lieber im Zustand der Unaufgeklärtheit verharren.

Stört Sie der Gegenwind?

GAUCK: Nein, irgendetwas würde doch nicht stimmen, wenn ich nicht ein paar gediegene Feinde hätte, und dazu noch ein paar unseriöse Gegner. Ich kann und will es nicht jedem recht machen. Wer meint, daß unmittelbar nach dem Ende einer Diktatur der innere Friede ausbrechen könne und ehemalige Dissidenten die gesellschaftliche Harmonie nur stören, der verkennt den Charakter von Diktaturen, der weiß nichts von den Strategien der Machthaber zur Unterdrückung der Ohnmächtigen. Aufklärung und offene Diskussion über die Mechanismen der Unterdrückung bedeuten Streit – aber es ist ein notwendiger, heilsamer Streit.

Gab es zu wenig davon nach dem Ende der Nazidiktatur?

GAUCK: Damals herrschte in der Bevölkerung eine Schlußstrich-Mentalität vor. So waren die Angehörigen des deutschen Widerstandes in den ersten Nachkriegsjahren nicht sonderlich beliebt – sie führten ein Schattendasein. Die Mehrheit der Bundesbürger störte es nicht, daß Konrad Adenauer belastete Personen in den öffentlichen Dienst zurückholte, daß Leute wie Globke und Oberländer an Schalthebeln saßen. Erst eine Generation später erregte das großen Anstoß. Adenauers Integrationspolitik kam die westdeutsche Gesellschaft 1968 teuer zu stehen. Die Achtundsechziger haben die Bundesrepublik nicht gespalten, sondern eine Spaltung bewußt gemacht, die unter der Decke schon längst stattgefunden hatte. Im Bewußtsein dieses politischen Traumas der frühen Nachkriegsjahre haben wir 1990 gesagt: „Diesmal mit offenen Augen!“

Kritiker wenden ein, hier sei die rigoristische Elitemoral einer Handvoll Dissidenten zur allgemeinen Norm erhoben worden.

GAUCK: So konnte man es damals in einigen Zeitschriften für die gebildeten Stände lesen. Aber das ist völlig falsch. Wer so denkt, übersieht einen wesentlichen Punkt: Hier entschied ein deutsches Parlament, nämlich die Volkskammer, im Sommer 1990: „Wir wollen mit offenen Augen und offenen Akten von der Diktatur Abschied nehmen.“ Im Grunde war das ein Perspektivenwechsel: „Wir gestalten jetzt Politik aus dem Blickwinkel des Einzelnen heraus. Wir machen seine Würde, seine Persönlichkeitsrechte zum Maßstab.“ So kam es zu dieser epochalen, in der Politikgeschichte wohl beispiellosen – vom Bundestag 1991 bestätigten – Entscheidung eines Parlaments, die gesamte Hinterlassenschaft eines Geheimdienstes den betroffenen Einzelnen zugänglich zu machen.

Es war eine Absage an die etatistische Überzeugung, daß solche Unterlagen nur in die Hände von Nachrichtendiensten gehören. Darin wiederum steckte ein „Ja“ zur westlichen Denkart, wonach die Bürger Träger des Gemeinwesens sind, nicht Untertanen einer Obrigkeit. Und zu den Rechten der Bürger gehört nach neuerem Verständnis auch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.

Worin liegt das gesellschaftlich Heilsame an dem Streit, den diese Unterlagen immer noch auslösen?

GAUCK: Darin, daß „die da unten“ von einst „denen da oben“ von einst sagen dürfen, welches Unrecht die SED-Diktatur in den ganzen Jahrzehnten begangen hat. Darin, daß die ehemals Unterdrückten ihre ehemaligen Unterdrücker fragen dürfen: „Wieso brauchtet ihr 90.000 Geheime für gerade einmal 16 Millionen Menschen?“ Darüber zu disputieren ist hochgradig gesund – die Nation ist erwachsener geworden, seit sie über solche Themen offen streiten kann.

Ein besonderes Problem entsteht dadurch, daß der Disput innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft von einem zweiten Spannungsverhältnis überlagert wird, nämlich der Widerspruchslage zwischen Ost und West. Die Ostdeutschen müssen zweierlei gleichzeitig tun: Untereinander müssen sie klären, wer damals auf welcher Seite gestanden hat, wer wofür verantwortlich gewesen ist, wer sich was hat zuschulden kommen lassen. Gegenüber den Westdeutschen müssen sie darauf bestehen, als Deutsche unter Deutschen, als gleichberechtigte Bürger der Bundesrepublik anerkannt zu werden.

Nun gibt es ja auch Westdeutsche, die sich jedes Urteils über Ostdeutsche enthalten mit der Begründung, sie wüßten nicht, wie sie selbst sich unter den Bedingungen einer Diktatur verhalten hätten – ob sie selbst Opfer oder Täter geworden wären.

GAUCK: In diesem Gedanken steckt etwas sehr Zutreffendes: Es gibt die Gnade, daß einem bestimmte Versuchungen erspart geblieben sind – die Gnade einer anderen Geburt, um ein außerordentlich wichtiges, oft mißdeutetes Diktum von Helmut Kohl abzuwandeln. Wer sich dies bewußt macht, wird sich hüten, andere zu verurteilen. Solche Zurückhaltung verdient Respekt. Ich kann mit dieser achtbaren Haltung aber etwas Richtiges oder etwas Falsches tun. Entweder spreche ich mit den Ostdeutschen auf Augenhöhe, von gleich zu gleich, über meine Lebenserfahrung in der Demokratie – so ist es richtig. Oder ich werde zum „Verständniswessi“ aus lauter Angst, ich könnte ein „Besserwessi“ sein. Der Verständniswessi tut so, als hätte er sich zu schämen für die Andersartigkeit seiner Lebenserfahrung. Das ist gefährlich, denn selbstverständlich ist ein Leben in der Demokratie einem Leben in der Diktatur vorzuziehen. Dem Ostdeutschen, der sich neu orientieren muß, helfen weder der arrogante Besserwessi noch der herablassende Verständniswessi. Beide verstärken bei ihm nur Trotz- oder Fluchtmechanismen.

Im übrigen will ich daran erinnern, daß nicht der Ostdeutsche per se ein Spitzel ist. Etwa ein Prozent der Ossis hat sich als Spitzel verdingt. Die übrigen 99 Prozent waren zwar mehrheitlich angepaßt, aber keine Verräter. Auch unter den Westdeutschen gab es Verräter, die mit unseren Unterdrückern gemeinsame Sache machten, die dafür Geld nahmen und sich zu allerlei Veranstaltungen bis hin zu Saufgelagen einladen ließen. Einige davon sind heute noch so dreist zu sagen, das sei ihre Art von Friedenskampf gewesen. Das ist eine westdeutsche Form der Wahrnehmungsverweigerung und Verstocktheit. Und manche westdeutschen Intellektuellen sollten sich gelegentlich daran erinnern, wie sehr sie gehöhnt haben, als der von ihnen als ehemaliger Hollywood-Schauspieler verachtete Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor Gorbatschow aufforderte, die Mauer abzureißen.

Gehen die Deutschen mit dem Perfektionismus der „Gauck-Behörde“ nicht einen Sonderweg im Vergleich zu anderen jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas?

GAUCK: Das ist uns schon oft vorgehalten worden – doch wenn wir genau hinschauen, dann merken wir, daß wir Deutsche keinen schlechten Weg gewählt haben. Andere – Polen, Ungarn, Bulgarien – orientieren sich mittlerweile an uns. Die Polen zum Beispiel beschlossen nach ihrer Wende zunächst, einen „dicken Schlußstrich“ zu ziehen. Schon bald stellten sie jedoch fest, daß sie ihr Ziel – den inneren Frieden – so nicht erreichten. Der Verzicht auf eine „Durchleuchtung“ der einstigen Unterdrücker führte keineswegs dazu, daß die in Ruhe Gelassenen nun aus eigenem Antrieb, gedrängt vom schlechten Gewissen, über ihre Verfehlungen sprachen. Bei uns haben Reinhard Höppner und Friedrich Schorlemmer die These vertreten, die Entlarvung der Täter störe deren Bereitschaft zu Einkehr und Reue. Das hat sich als schwerer Irrtum erwiesen: Alle Gesellschaften, die die einstigen Unterdrücker in Ruhe lassen, fördern nachweislich nicht die Geständnisfreude der Täter, sondern deren verstocktes Schweigen.

Natürlich muß jedes Land den Weg gehen, der seiner spezifischen Vergangenheit angemessen ist. Die DDR war bei der Aktenproduktion nun einmal eifriger als andere Warschauer-Pakt-Staaten. Wenn ich von ausländischen Gesprächspartnern um Rat gefragt werde, antworte ich: Für uns in Deutschland ist das Wichtigste nicht die Überprüfung von Personen, sondern der Effekt, daß die Unterdrücker von einst nicht im Monopolbesitz des Herrschaftswissens bleiben. Für uns ist das Wichtigste, daß die Unterdrückten das Recht auf Zugang zu diesem Wissen haben – dem Wissen, wie ihre Würde und ihre Rechte einst verletzt wurden. Es ist dann ihre freie Entscheidung, ob sie ihre ehemaligen Unterdrücker damit konfrontieren oder nicht.

Raten sie dem ehemals Unterdrückten zur Unversöhnlichkeit?

GAUCK: Nein, ich rate zur Skepsis, wenn die einstigen Unterdrücker „Versöh nung“ und „inneren Frieden“ fordern. Das sind zwei Topoi, die uns bei den früheren Machthabern immer wieder begegnen. Manchmal könnte man geradezu meinen, nur die Diktatur habe sie daran gehindert, ihre Liebe zur gesellschaftlichen Harmonie offen zu zeigen.

Was halten Sie vom südafrikanischen Modell einer „Wahrheitskommission“?

GAUCK: Das läßt sich auf deutsche Verhältnisse nicht übertragen. Zwei Probleme fallen mir besonders ins Auge: Erstens, daß hier verschiedene Dimensionen von Schuld in einer einzigen Instanz aufgearbeitet werden sollen. Karl Jaspers hat nach dem Krieg in seiner Schrift über die Schuldfrage herausgearbeitet, daß es nach dem Ende einer Diktatur um vier Ebenen von Schuld geht: Politische Verantwortung, moralische Schuld, strafrechtliche Schuld, metaphysische Schuld. Jede dieser Dimensionen bedarf einer eigenen Instanz. In der südafrikanischen „Truth and Reconciliation Commission“ geschieht das Gegenteil – die verschiedenen Instanzen werden gebündelt. Wenn Sie vom Kommissionsvorsitzenden Desmond Tutu absehen, der dieses Strukturproblem mit der Kraft seiner integren und integrativen Persönlichkeit überdeckt, dann kann diese Vermischung von Ebenen leicht zum Problem werden.

Mein zweites Bedenken: Die Täter von einst treten vor die Wahrheitskommission, bekennen – wenn sie einigermaßen ehrlich sind – ihre Schandtaten bis hin zum Mord, erhalten auf Antrag Amnestie und kehren zu guter Letzt unbehelligt in ihr Lebensumfeld zurück. Stellen Sie sich zum Beispiel einen Polizeioffizier vor, der als Leutnant einen Mord begangen hat und jetzt als Oberst eine größere Einheit befehligt. Er darf weiter seinen Dienst versehen, als wäre nichts gewesen. Auch die Mutter – oder die Ehefrau – des Ermordeten wird vor der Kommission angehört. Sie spricht von ihrem großen Leid, erfährt den Respekt der Nation. Das hat Würde, das ist großartig. Dann geht diese Frau nach Hause zurück – ohne klare Ansprüche auf Wiedergutmachung für den Verlust ihres Ernährers.

Es gibt hier ein groteskes Mißverhältnis: Die Interessen der Täter sind besser gesichert als die Interessen der Opfer. Das sät Unfrieden. Deshalb ist die Situation in Südafrika sicher nicht so konfliktfrei, wie deutsche Gutmenschen sich das vorstellen. Die Wahrheitskommission ist dort wesentlich umstrittener, als es die von mir geleitete Behörde in Deutschland ist. Ich will aber gleich hinzufügen, daß es in der spezifischen Situation Südafrikas unabweisbare Gründe gab, diesen Weg zu gehen: Es galt, eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Weiß und Schwarz zu verhindern. In der DDR 1990 und im vereinten Deutschland 1991 drohte hingegen kein Bürgerkrieg.

Dennoch: In seinem berühmten Vortrag über die Nation als „tägliches Plebiszit“ hat Ernest Renan gesagt, Nationen seien nicht nur Erinnerungsgemeinschaften, sie müßten – das meinte er mit Blick auf die Bartholomäusnacht – auch bereit sein, vergangenes Unrecht zu vergessen. Ist, so gesehen, Ihre Behörde nicht ein Hindernis auf dem Weg zur inneren Einheit?

GAUCK: Es gibt eine Art von Vergangenheitsbewältigung, die sich die Deutschen abgewöhnen – unter Schmerzen, in einer quälenden Debatte. Der „Sündenstolz“, wie Hermann Lübbe ihn ironisch nennt, das deutsche Streben nach dem ersten Rang auf der Liste der größten Übeltäter aller Zeiten – das alles trägt zum Teil neurotische Züge. Auf der anderen Seite sollten wir gelernt haben, daß das Ausblenden von Schuld im Leben eines Einzelnen wie im Leben einer Nation Konflikte zudeckt oder entstehen läßt, die sich dann eruptiv entladen. Das war, wie gesagt, 1968 so in der Bundesrepublik. Gesine Schwan hat sich jüngst in einer Arbeit mit dieser gesellschaftlich-politischen Dimension von Schuldverdrängung befaßt, nicht zuletzt im Blick auf Lübbes Formel vom „kommunikativen Beschweigen“ der NS-Vergangenheit in den Anfangsjahren der Bundesrepublik.

Ich denke, daß unsere Nation im eigenen Interesse daran festhalten sollte, bei diesen Themen besonders sensibel zu sein. Das spricht nicht gegen ein Vergessen. Aber ich möchte da unterscheiden – zwischen einem unguten und einem gesegneten Vergessen. Ungut ist das, was wir forcieren – das bewußte Verschließen der Augen. Das gesegnete Vergessen überkommt uns, ohne daß wir es planen könnten. Es ereignet sich, nachdem wir unser Versagen, unsere Fehler, unsere Schuld in Kopf und Herz hineingelassen haben. Dann widerfährt es uns als eine wunderbare Erleichterung. Dieses tiefe christliche Wissen – wir finden das übrigens auch in vielen anderen Religionen – um die befreiende Wirkung der Auseinandersetzung mit Schuld ist leider bis weit in die Kirchen hinein aus unserer Gesellschaft verschwunden. Stattdessen denken wir mehr und mehr in Kategorien der Image-Pflege: „Poliere dein Image auf, dann bist du okay!“

Was ist der Beitrag der Ostdeutschen zum gemeinsamen Erinnerungsbestand der Nation?

GAUCK: Viele im Westen betrachten die Ostdeutschen vor allem als Kostenverursacher. Sie sehen in ihren Landsleuten ein Spiegelbild ihrer selbst vor zwanzig oder dreißig Jahren. Diese Tapeten, diese Gerüche, diese autoritären Einstellungen – alles ein bißchen vormodern und irgendwie peinlich. Und es stimmt ja auch, daß der Osten enorme Kosten verursacht. Schuld daran sind allerdings die Machthaber, die ihn so zugerichtet haben. Wenn wir jetzt auf den Herbst 1989 zurückschauen, dann sollten die Wessis sich aber auch bewußt machen, daß die Ossis etwas ganz Seltenes und überaus Kostbares in unsere deutsche Geschichte eingebracht haben: Die Menschen in Leipzig, Rostock und anderswo haben ihre Angst überwunden und mit Erfolg für Freiheit, Recht und Demokratie gekämpft. Sie haben allen Deutschen das Eintrittsbillett in den Kreis jener Nationen gelöst, die eine eigene revolutionäre Freiheitstradition haben. Sie haben uns eine neue Würde gewonnen.

Die Deutschen können jetzt selbstbewußter mit Engländern, Holländern, Franzosen und Amerikanern sprechen als vor 1989. Das ist das Geschenk, das wir Ostdeutsche der Nation gemacht haben. Wir sind selber noch überrascht, daß wir imstande waren, so etwas zu schaffen. Angesichts all unserer Angst und Anpassungsbereitschaft ist es ja fast ein historisches Wunder, daß aus unserer Sehnsucht politische Programme wurden, die dann tatsächlich zur Demokratie führten.

Die DDR ist nicht – wie manchmal gesagt wird – an einer „Implosion“ zugrunde gegangen. Dann müßten Kuba und Nordkorea schon längst implodiert sein, denn die Verhältnisse dort sind wesentlich schlimmer, als sie es in der DDR waren. Die Erinnerung an den erfolgreichen Kampf der Ostdeutschen für Freiheit, Recht und Demokratie ist etwas, mit dem die ganze Nation sich identifizieren kann, auf das wir alle stolz sein dürfen. Solange wir uns jedoch wohler fühlen bei dem Gedanken, daß unsere Nation immer nur scheitern kann, solange wir uns nur als ein Volk von Tätern sehen – solange haben wir nicht verstanden, wie kostbar das Geschenk der Ostdeutschen an unser kollektives Bewußtsein ist. Solange haben wir auch nicht begriffen, daß die Jahrzehnte gelingender Demokratie im Westen Deutschlands genauso ein Grund zu gemeinsamer Freude sind. Wenn es uns Deutschen nicht gelingt, solche positiven Erfahrungen in unser Selbstverständnis einzubauen, dann wehe uns!

Wann kommt der Tag, an dem Ihre Behörde dicht macht?

GAUCK: Das wird dann sein, wenn das Material so historisch geworden ist, daß nur noch Geschichtswissenschaftler es benutzen werden. Das ist aber für die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre nicht zu erwarten. Die Behörde wird in den nächsten Jahren deutlich kleiner werden, weil ein Teil ihrer Aufgaben wegfällt. Eine Aufgabe endet schon in diesem Jahr – das ist die Unterstützung der Strafverfolgung. Die noch anhängigen Ermittlungsverfahren werden weitergeführt, aber die Staatsanwaltschaft unter Leitung von Herrn Schäfgen (phon.), die dies bearbeitet, beendet ihre Tätigkeit. Die zweite Etappe endet mit einer Art Schlußstrich: Nur fünfzehn Jahre lang dürfen wir Angehörige des öffentlichen Dienstes auf Anfrage des Dienstherrn hin überprüfen. Wir dürfen die Frage nach eine möglichen Stasi-Verstrickung lediglich mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten – die Konsequenzen aus einem „Ja“ muß der Dienstherr selber ziehen; mehr als die Hälfte der Verstrickten arbeiten weiter auf ihrer bisherigen Stelle.

Es bleibt schließlich das Akteneinsichtsrecht der betroffenen Bürger – für sich selbst oder ihre verstorbenen Eltern. Wir erleben, daß manche viel Zeit brauchen, mehrere Jahre, bis sie sich entschieden haben, ob sie’s wissen wollen oder nicht. Manchmal werden es die Kinder genauer wissen wollen als die damals handelnden Eltern. Deshalb bleibt der Bereich der persönlichen Akteneinsicht ein Hauptzentrum. Ein Zweites wird danebentreten: die offensive Bearbeitung der geöffneten Akten für Medien und Zeitgeschichtsforschung. Solange wir uns mit der Frage beschäftigen, wie eine Diktatur das Gemeinwesen beschädigt, solange wird es mehr als nur ein historisches Interesse an diesem Thema geben. Es geht um das Fundament unserer Demokratie.

Herzlichen Dank für dieses Gespräch, Herr Gauck.

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