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Modern versus ultraorthodox: Wohin steuert die israelische Gesellschaft?

Jerusalem ist eine Stadt, die, wie wahrscheinlich keine andere, von interkulturellen Spannungen und interreligiösen Gegensätzen geprägt ist. Doch was geschieht, wenn Auseinandersetzungen innerhalb der eigenen Religion stattfinden? Erlebt Israel derzeit einen „Kulturkampf“ zwischen der säkularen und ultraorthodoxen jüdischen Bevölkerung? Wie Israels Presse darüber berichtet, dokumentiert der folgende Bericht.

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Einer der Schauplätze dieses Kulturkampfes ist die knapp 80.000 Einwohner große Stadt Beit Shemesh nicht unweit Jerusalems. Nicht nur dort steigt der Anteil ultraorthodoxer Juden (Haredim) kontinuierlich; an der jüdisch-israelischen Bevölkerung haben sie aktuell einen Anteil von ca. 8 Prozent. Dies erzeugt zunehmend Konflikte mit säkularen Israelis. Sie beklagen die zahlreichen Privilegien für die Haredim und deren ablehnende Haltung gegenüber dem Staat Israel. Diese Auseinandersetzung wird nicht zuletzt um kulturelle Unterschiede – moderne versus traditionell-religiöse Lebensweisen – ausgetragen.

Nur etwa die Hälfte der männlichen Bevölkerung der Haredim ist erwerbstätig, wer als Vollzeitstudent in einer Religionsschule studiert, erhält Regierungsstipendien und muss keinen Militärdienst leisten. Viele orthodoxe Familien sind von Sozialleistungen abhängig und profitieren von subventionierten Wohnprogrammen. Dies empfinden säkulare Israelis, die in der Regel zwei bzw. drei Jahre zum Armeedienst eingezogen werden und das Gros der Steuerlast tragen, als zunehmend ungerecht. In den jüngsten Auseinandersetzungen nimmt die von den Haredim betriebene Geschlechtertrennung eine zentrale Rolle ein. Weltlich orientierte Israelis fürchten ein Überhandnehmen religiöser Vorschriften im öffentlichen Raum und verteidigen ihren liberalen Lebensstil.

Nachdem im vergangenen Jahr mehrere Debatten etwa über das Verschwinden von Frauen von Werbeplakaten in Jerusalem geführt wurden, rückte die als „Kulturkampf“ betitelte Kontroverse vor allem durch zwei Ereignisse Ende 2011 in den Fokus: Ein erster Zwischenfall ereignete sich in einem der in religiösen Vierteln eingesetzten, sogenannten „koscheren“ Busse. Frauen nehmen dort im hinteren, Männer im vorderen Busteil Platz. Nachdem sich eine junge orthodoxe Frau weigerte, in den hinteren Teil zu wechseln, griffen sie männliche Fahrgäste verbal an, ein ultraorthodoxer Mann blockierte die Tür, um die Weiterfahrt zu verhindern. Erst das Eingreifen der Polizei konnte die Situation entschärfen.

Ein weiterer öffentlicher Aufschrei folgte einem Bericht des Fernsehsenders Channel 2 über ein achtjähriges Mädchen, das auf dem Schulweg von ultraorthodoxen Männern angespuckt wurde, da sie deren Ansicht nach unanständig gekleidet war. Mehrere Tausend Israelis demonstrierten daraufhin in Beit Shemesh gegen Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum und die Diskriminierung von Frauen.

Viele Politiker zeigten sich empört, auch in der Presse fanden diese Vorfälle ein breites Echo. So zitiert die liberale Zeitung Haaretz Präsident Shimon Peres: „Alle, obgleich religiös, säkular oder traditionell, müssen das Bild des israelischen Staates gegenüber der Minderheit, die die nationale Solidarität durch schockierendes Verhalten brechen will, verteidigen“.

Auch die Vorsitzende der Arbeiterpartei, Shelly Yachimovich, kommentierte die Ereignisse: „Das ist kein Kampf zwischen Links und Rechts. Es ist kein Kampf der Säkularen gegen die Religiösen. Es ist schlichtweg der Kampf eines jeden israelischen Bürgers, der sein Land liebt und sich um sein moralisches Image sorgt“.

Viele Kommentatoren kritisieren die extremen Tendenzen im ultraorthodoxen Judentum. Im Zentrum der Debatte steht die Halacha, die Auslegungen der Tora, die die unterschiedlichen Meinungen der Rabbiner, Weisen und Gelehrten des Judentums reflektiert. Yossi Sarid schrieb am 30. Dezember 2011 in Haaretz: „Im orthodoxen Judentum werden Frauen wie kleine unsaubere Gegenstände behandelt“. Sarid fügt hinzu, dass ein orthodoxer Jude laut Tora drei Segen im morgendlichen Gebet ausspreche, in denen er unter anderem danke, dass Gott ihn weder zu einem Heiden noch zu einer Frau oder einem Nichtswisser gemacht habe.

Am 4. Januar 2012 ging Avirama Golan unter dem Titel: „Ultraorthodoxer Extremismus ist nichts anderes als Krieg“ auf die schleichende Extremisierung im ultraorthodoxen Sektor ein. Die zunehmende ethnische und sektorielle Zersplitterung innerhalb der ultraorthodoxen Gesellschaft fördere die Radikalisierung. National-Ultraorthodoxe Rabbis der Rechten radikalisierten sich beim Versuch, ihren Kollegen unter den Haredim zu beweisen, dass es sich bei ihnen um keine moderate Version des Judentums handele. Im Gegenzug bemühten sich die Haredim in ihrer Religionsausübung nicht zu mild zu erscheinen. Golan kritisiert zudem die Reaktion der säkular-liberalen Gesellschaft, die durch eine Mischung von Angst und Hass geprägt sei.

Die Jerusalem Post zitiert ebenfalls die Labor-Vorsitzende. Shelly Yachimovich verurteilte zwar die Diskriminierung der Frauen aufs Äußerste, sieht in der jüngsten Debatte aber auch die Chance, das öffentliche Bewusstsein für den Kampf der Frau um Gleichberechtigung zu sensibilisieren.

Ynetnews berichtet am 8. Januar 2012 über eine Umfrage, die zeigt, dass 51 Prozent der Israelis den Einsatz „koscherer“ Busse in strengreligiösen Vierteln als legitim empfinden. Dahingegen sind 47 Prozent der jüdisch-israelischen Bevölkerung der Meinung, dass geschlechtergetrennte Buslinien eine unzulässige Diskriminierung gegen Frauen darstellen.

Aryeh Ehrlich vom 20. Dezember 2011 beleuchtet die Sicht der Haredim-Frauen. Ein Großteil jener Frauen befürworte die geschlechtergetrennten Busse. Sie garantierten ihnen Privatsphäre und ersparten ihnen unangenehme Berührungen mit Männern in den oft überfüllten Bussen. Dennoch sollte diese Praxis im öffentlichen Nahverkehr eine freiwillige Option innerhalb der religiös-orthodoxen Gemeinschaft bleiben. Keinesfalls sollten daraus gesetzliche Schritte resultieren. Im Gegenzug schlägt Ehrlich säkularen Israelis vor, sich aus dieser „Haredim-internen“ Angelegenheit herauszuhalten.

Ein Kommentar von Avi Rath, erschienen am 2. Dezember 2011 bei Ynetnews, bringt die Spannungen innerhalb der zersplitterten jüdisch-israelischen Gesellschaft zur Sprache. Bei all den Gegensätzen und Antagonismen – zwischen den verschiedenen Gruppierungen wie z.B. Ashkenasim und Sephardim, zwischen nationalreligiösen Siedlern und Linken, aber auch zwischen Vertretern von Großkonzernen und sozialen Aktivisten – sei diese Kontroverse über religiöse Angelegenheiten das Letzte, was die israelische Gesellschaft derzeit brauche. Er fordert deshalb von politischen und gesellschaftlichen Führungspersönlichkeiten Verantwortung und Kompromissbereitschaft im öffentlichen Umgang mit anderen und empfiehlt der Gesellschaft Toleranz und Respekt vor dem Leben ihrer Mitmenschen zu üben, nach dem Motto „leben und leben lassen“.

Maren Herter und Evelyn Gaiser

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