In dieser äußerst interessanten Publikation erschienen Interviews mit der Zeitzeugen, Beiträge von Historikern, Schriftstellern und Publizisten.
Unter den namhaften Autorem befindet sich auch Dr. Stephan Stach, Historiker aus dem Historischen Institut der Martin-Luter-Universität in Leipzig. Seinen Beitrag präsentieren wir unten.
Deutsche Perspektiven auf den Aufstand im Warschauer Ghetto
Welchen Platz hat der Warschauer Ghettoaufstand im Gedächtnis der Deutschen? Der zentrale Erinnerungsort ist für Deutschland Auschwitz. Aber auch das Warschauer Ghetto war und ist ein wichtiger Bezugspunkt. Das Ghetto und mehr noch der Aufstand der darin Gefangenen, steht allerdings im Schatten einer Bildikone: Willy Brandts Kniefalls in Warschau 1970. Der vor dem Denkmal der Gettohelden kniende Kanzler dürfte für die meisten Deutschen das erste Bild sein, was sie beim Stichwort Warschauer Ghetto vor Augen haben. Dies ist wenig verwunderlich, bestätigt das Bild doch in mehrerlei Hinsicht die heutige deutsche Selbstwahrnehmung, aus der Geschichte gelernt zu haben. Brandts Geste am Denkmal verkörpert die Demut vor den millionenfach von Deutschen ermordeten Jüdinnen und Juden. Zugleich wandte sich der im Zentrum der polnischen Hauptstadt kniende Kanzler fraglos auch an die nichtjüdische polnische Bevölkerung, die im Zweiten Weltkrieg unter einem der grausamsten Regime im deutsch besetzten Europa zu leiden gehabt hatte. So fügt sich der Kniefall als angemessene, wenn auch etwas verspätete, Antwort auf den Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder in die Erzählung der deutsch-polnischen Aussöhnung ein. Dreißig Jahre später erhielt Kniefall am Ghettoheldendenkmal gar ein eigenes Denkmal vis-á-vis. Noch einmal zwanzig Jahre darauf wurde das Bild auf eine Zwei-Euro-Gedenkmünze geprägt und tausende Deutsche tragen es täglich im Portemonnaie bei sich. Der deutsche Schriftstelle Navid Kermani erklärte Brandts Geste 2014 zum Augenblick, in dem das durch seine Verbrechen entehrte Deutschland seine Würde zurückgefunden habe. Brandts Geste am Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos, das zeigen diese Beispiele, wird in Deutschland zur Selbstvergewisserung für eine erfolgreiche Vergangenheitsbewältigung herangezogen.
Dies ist in doppelter Hinsicht problematisch. Zum einen gerät dabei in Vergessenheit wie kontrovers die alte, westdeutsche Bundesrepublik Brandts Geste 1970 diskutierte: Das damals als linksliberal geltende Magazin DER SPIEGEL hob das Bild des knienden Kanzlers im Großformat auf den Titel, um zugleich zweifelnd zu fragen: „Durfte Brandt knien?“ In der vom Magazin beauftragten Umfrage hatten 48% der Befragten die Geste als übertrieben bezeichnet. Nicht wenige nahmen dem während der Naziherrschaft als Sozialdemokrat emigrierten Brandt damals übel, dass er stellvertretend für Deutschland Reue zeigte. Seine positive Bedeutung erhielt das Bild erst in der Rückschau.
Zum anderen verstellt das ikonische Bild von Brandts Kniefall am Denkmal den Blick auf jenes Ereignis, an das das Monument erinnert: Den Aufstand der jüdischen Kämpfer im Ghetto, die sich ihren deutschen Mördern nicht widerstandslos ausliefern wollten. Obwohl sie kaum Waffen zur Verfügung hatten, benötigten die übermächtigen deutschen SS-, Polizei- und Wehrmachtseinheiten vier Wochen, um den Aufstand niederzuschlagen. Aus dem Report des befehlshabenden SS-Generals Jürgen Stroop stammt ein anderes ikonisches Bild – das des Jungen aus dem Warschauer Ghetto. Mit erhobenen Händen und ängstlichem Blick steht er in der Mitte des Bildes. Hinter ihm sind bewaffnete deutsche Soldaten zu erkennen, Auch wenn es heute schwer vorstellbar scheint, sollte dieses Bild das erfolgreiche Vorgehen der deutschen Aufstandsbekämpfer dokumentieren. In Stroops Vollzugsbericht heißt es darunter so nüchtern wie zynisch: „Mit Gewalt aus den Bunkern hervorgeholt.“ Häuserblock für Häuserblock hatte er das Ghetto mit Flammenwerfern in Brand stecken lassen, um die übriggebliebene jüdische Bevölkerung, die jüdischen Kämpferinnen und Kämpfer aus ihren Verstecken zu treiben.
Die Wirkmächtigkeit von Brandts Kniefall erklärt jedoch nicht allein, warum der Aufstand im Warschauer Ghetto in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Deutschland eine weniger prominente Rolle spielt. Von Bedeutung ist auch seine Vereinnahmung im Kalten Krieg. Die Sicht auf den Aufstand unterschied sich in DDR und BRD sehr deutlich. Erstere sah ihn als Teil des internationalen, antifaschistischen Widerstandskampfes, in dessen Tradition das sozialistische Deutschland sich selbst verortete. Schon 1957 erschien im SED-Parteiverlag das Buch „Der Aufstand im Warschauer Ghetto“, geschrieben von Bernard Mark, dem Direktors des Warschauer Jüdischen Historischen Instituts. Auch andere dort entstandene Bücher erschienen in DDR-Verlagen als „antifaschistische Literatur“, darunter die Erinnerungen einer Ghettokämpferin, Tagebücher, literarische und poetische Werke aus dem Ringelblum-Archiv. Mit teils hohen Auflagen vermittelten sie ihrer Leserschaft in der DDR und darüber hinaus einen Eindruck vom Grauen im Ghetto. Die Bücher dienten der DDR-Presse aber auch als Ansatzpunkt, für Polemiken gegen die verbreitete Straflosigkeit von Naziverbrechern in der Bundesrepublik sowie für das Fabulieren vom vermeintlichen Neonazismus in Bonn.
Auch in der Bundesrepublik nutzte man das Warschauer Ghetto als Projektionsfläche für die Blockkonfrontation, wenngleich unter entgegengesetzten Vorzeichen: Zum ersten Jahrestag des Mauerbaus in Berlin widmete DIE ZEIT der Gleichsetzung Berliner Mauer und der Mauer um das Warschauer Ghetto eine ganze Seite: Sie zeigte Fotos vom Bau der jeweiligen Mauer, von Soldaten, die eingeschüchterte Zivilisten abführten. Berichte über die Erschießung von aus dem Ghetto fliehenden Juden standen neben dem eines aus der DDR nach Westberlin Geflohenen. Der kurze redaktionelle Kommentar dazu war mit „Rote Nazis“ überschrieben.
Auch die zum 20. Jahrestag des Aufstands in Westberlin gezeigte Ausstellung „Leben, Kampf und Tod im Ghetto Warschau“ geriet in den Strudel des deutsch-deutschen Konflikts. Der Historiker Joseph Wulf hatte sie gemeinsam mit dem Warschauer Jüdischen Historischen Institut erstellt, das polnische Außenministerium hatte sie mitfinanziert. Bei der Eröffnung in den Räumen der Westberliner Jüdischen Gemeinde hob Bürgermeister Heinrich Albertz die Teilung der Stadt durch eine Mauer als Verbindung zwischen Berlin und dem Warschauer Ghetto hervor. Das Bonner Auswärtige Amt warnte hingegen vertraulich, auf inoffiziellen Kanälen westdeutsche Institutionen vor der Übernahme dieser Ausstellung, könne sie doch im Vorfeld des Frankfurter Auschwitz-Prozesses politisch instrumentalisiert werden. Die erfolglose Suche der Austellungsmacher nach Interessenten in westdeutschen Städten ließ die Süddeutsche Zeitung spekulieren, warum diese nach großem Zuspruch in Westberlin vor der Wahl stünden, die Ausstellung „nach Polen zurückzuschicken oder zu verschrotten.“ Auf der Titelseite hieß es in sarkastischem Ton: „Selbstverständlich haben alle amtlichen Stellen einen Grund für ihr Verhalten, und auch ein Böswilliger wird nicht unterstellen, hier komme so etwas wie eine antisemitische Unterströmung zum Vorschein. […] Ein Argument haben wir ohnehin ausgeklammert: Die Ausstellung wurde von der polnischen Regierung finanziert. Zeitgeschichtlicher Lehrstoff aber verliert bei uns sofort an Wert, wenn er ‚vom Osten bezahlt’ ist.“
Nach 1989 entfiel die Grundlage für solche Politisierungen. Dafür setzten internationale literarische und filmische Verarbeitungen des Holocausts das Warschauer Ghetto auf Agenda der deutschen Öffentlichkeit: Die deutsche Übersetzung von Andrzej Szczypiorskis Początek, Roman Polańskis Film Pianista oder Marcel Reich-Ranickis Autobiographie. Während Leid und Schrecken, das sie Menschen im Ghetto erlebten, große Aufmerksamkeit erfuhr, tat man sich mit Ghettoaufstand in Deutschland schwer. Vielleicht, weil der bewaffnete Kampf der Aufständische nur schwer in das vorherrschende Bild vom Holocaust passt. Vielleicht, weil die Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld an Krieg und Massenmord viele Deutsche zum Schluss geführt hat, Gewalt grundsätzlich abzulehnen. So grundsätzlich, dass selbst das Verständnis für gewaltsamen Widerstand gegen schwerstes Unrecht Schwierigkeiten bereitet. Der 80. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes könnte einen Anlass sein, das zu hinterfragen – auch mit Blick auf den Krieg Russlands in der Ukraine.