Hintergrund
Im Februar 2014 hatte das Schweizer Stimmvolk hauchdünn (50,3 zu 49,7) die von der SVP lancierte Masseneinwanderungsinitiative angenommen. Diese forderte eine Begrenzung der Zuwanderung in die Schweiz durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente. Abgezielt war vor allem eine Einschränkung der mit der EU vereinbarten Personenfreizügigkeit. Um sowohl dem Abstimmungsergebnis gerecht zu werden, aber gleichzeitig nicht die Freizügigkeit zu gefährden, einigten sich National- und Ständerat auf einen Kompromiss: So wurde ein "Inländervorrang light" beschlossen, der Schweizer Stellensuchenden in Berufsgruppen mit besonders hoher Arbeitslosigkeit während einer bestimmten Frist exklusiven Zugang zu Berufsausschreibungen gewährt. Allerdings verzichtete der Kompromiss auf Kontingente und generelle Höchstzahlen. Während die SVP mit dem Kompromiss unzufrieden war und einige ihrer Vertreter sogar von Verfassungsbruch sprachen, verwiesen die Befürworter des Kompromisses auf die notwendige Achtung des Völkerrechts, die die bilateralen Vereinbarungen mit der EU umfassen, zu denen auch das Freizügigkeitsabkommen gehört. Am 31. August 2018 reichte die Schweizerische Volkspartei (SVP) dann mit 116.391 Unterschriften die Volksinitiative "Für eine maßvolle Zuwanderung" -, in Kurzform auch „Begrenzungsinitiative“ -, ein.
Ziel der von der SVP eingebrachten Initiative: die Schweiz soll die Zuwanderung von Ausländern aus der EU komplett eigenständig regeln. Es dürfen keine neuen völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen und Verpflichtungen eingegangen werden, welche ausländischen Staatsangehörigen eine Personenfreizügigkeit gewähren. Bestehende völkerrechtliche Verträge und Verpflichtungen dürfen nicht im Widerspruch dazu angepasst werden, das heißt: auch die seit 2007 bestehende Personenfreizügigkeit für Bürger aus der EU und der EFTA (d.h. Liechtenstein, Norwegen, Island) würde aufgeboben. Innerhalb von zwölf Monaten müsste der Bundesrat mit der EU eine Abmachung zur einvernehmlichen Auflösung des Freizügigkeitsabkommen finden. Gelingt dies nicht, muss der Bundesrat das Abkommen innerhalb von 30 Tagen ersatzlos kündigen. Da das Freizügigkeitsabkommen Teil eines Pakets bilateraler Verträge mit der EU ist (Bilaterale I), würden aufgrund der so genannten "Guillotine-Klausel" bei einem Ende der Personenfreizügigkeit auch viele weitere bilaterale Verträge mit der EU wegfallen (u.a. zu Landwirtschaft, Luftverkehr, Forschung) und müssten neu verhandelt werden. Entsprechend wird der SVP-Vorstoß vor allem von seinen Gegnern auch „Kündigungsinitiative“ genannt.
Parallel gab es seit 2013 Bemühungen zwischen der EU und der Schweiz, ein sogenanntes ‚Rahmenabkommen‘ abzuschließen, das die künftige Zusammenarbeit von EU und Schweiz regeln soll. Dieses würde anstelle der derzeit 20 bilateralen Kernabkommen sowie über 100 sektoralen Abkommen treten. Die EU machte deutlich, dass künftige Abkommen nur noch auf der Basis eines Rahmenabkommens abgeschlossen werden könnten. Die 2014 begonnen Verhandlungen wurden 2018 abgeschlossen. Angenommen ist das Abkommen jedoch nicht: die Schweiz forderte zuletzt Klarstellungen; von einigen Seiten werden auch konkrete Nachbesserungen gefordert. Nicht zuletzt mit Blick auf die Abstimmung über die Begrenzungsinitiative stockten die Gespräche zuletzt. Das Votum vom 27. September hat mithin auch Konsequenzen für die Zukunft des geplanten Rahmenabkommens.
Argumente von Befürwortern und Gegnern
Kernargumente der Befürworter der Initiative sind die vorgebliche Verdrängung von Schweizer Arbeitnehmer durch EU-Ausländer, die überproportionale Inanspruchnahme der Sozialhilfe sowie die drohende „Überfüllung“ und „Zubetonierung“ der Schweiz.
Die Gegner verweisen darauf, dass die Schweiz in vielerlei Hinsicht von der Freizügigkeit und der damit verbundenen engen wirtschaftlichen Verzahnung mit der EU erheblich profitiere: Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung[1] ist die Schweiz das Land, welches insgesamt am stärksten vom Zugang zum EU-Binnenmarkt profitiert. Die weit überwiegende Mehrheit der Schweizer Ökonomen teilt diese Einschätzung. Ein Ende der Personenfreizügigkeit würde die bilateralen Beziehungen mit der EU und damit einen wesentlichen Faktor für den Schweizer Wohlstand aufs Spiel setzen. Die Schweiz würde – gerade im Kontext der Unwägbarkeiten der COVID-Krise – Zugang zu ihrem wichtigsten Absatzmarkt verlieren. Eine weitere Folge wäre ein potentieller Fachkräftemangel, welcher die Schweiz empfindlich treffen würde. Die Gegner der Initiative erinnern auch daran, dass die Zahl der EU-Einwanderer in den letzten fünf Jahren stark zurückgegangen ist.
Auch wenn die oben genannte Guillotine-Klausel rechtlich nur für einen Teil der Vereinbarungen mit der EU gilt, könnte auch das zweite Vertragspaket (Bilaterale II) außer Kraft gesetzt werden. So könnten u.a. das Schengen- und das Dublin-Assoziierungsabkommen wegfallen.
Positionierungen
Mit der Unterstützung ist die SVP fast allein auf weiter Flur. Alle maßgeblichen übrigen Parteien rufen zu einem Nein auf, von der politischen Linken bis tief ins bürgerliche Lager (FDP, BDP) hinein. Auch die Schweizer Christdemokraten (CVP) lehnen die Initiative ab.
Gewerkschaften, Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände führen aktive und lautstarke Kampagnen gegen den Vorstoß. 2014 hatten sich gerade die Gewerkschaften eher halbherzig gegen die Masseneinwanderungsinitiative engagiert. Der Bundesrat hat sich ebenfalls dagegen ausgesprochen, bemerkenswerterweise auch der für Wirtschaft zuständige SVP-Vertreter Guy Parmelin. Umgekehrt gibt es aber auch in den anderen Parteien (vor allem im Tessin) vereinzelt Mandatsträger, die von der offiziellen Parteihaltung abweichen.
Bemerkenswert: beide Seiten konzentrieren sich in der Kampagne auf die Begrenzungsinitiative, die noch nicht abgeschlossenen Gespräche zum EU-Rahmenabkommen spielten hingegen bislang keine Rolle. Verglichen mit 2014 ist die Kampagne bisher weniger hitzig[2], was unter anderem, aber nicht ausschließlich an den COVID-bedingten Einschränkungen liegt.
Stimmungsbild vor dem Votum
Bisher zeichnet sich eine recht deutliche Ablehnung der Initiative in den Umfragen ab. Nimmt man die Unentschiedenen heraus, pendelte die Zustimmung für die SVP-Initiative in den vergangenen Monaten bei 34-42% gegenüber einer Ablehnung von 58-66% Prozent. Bei der letzten am 16. September veröffentlichten Umfrage sprachen sich 63% gegen die Initiative aus (50% bestimmt dagegen, 13% eher dagegen), 35% dafür (25% bestimmt dafür, 10% eher dafür).
Experten warnen mit Verweis auf die Masseneinwanderungsinitiative jedoch vor vorschnellen Schlüssen. Diese war zunächst in den Umfragen ähnlich klar abgelehnt worden, erhielt beim Abstimmungstag selbst jedoch überraschend 50,3% der Stimmen. Insgesamt scheint die Situation für die Gegner der SVP-Initiative jedoch besser auszusehen als 2014: Ein erheblich höherer Anteil als noch 2014 ist sich seiner Präferenz bereits sicher, 75% bekunden, bereits eine feste Stimmabsicht zu haben. Bezeichnend sind die Unterschiede nach Parteipräferenzen: so wollen weniger als 10% der Anhänger von Sozialisten, Grünen und Grünliberalen für die Initiative stimmen, bei den Anhängern der Christdemokraten (19%) und der bürgerlichen FDP (17%) ist der Anteil etwas höher, hingegen würden 84% der SVP-Anhänger bestimmt oder eher für die Initiative stimmen[3]. Bemerkenswerter sind hingegen die Unterschiede nach Landesteilen: Während in der Deutschschweiz rund 61% bestimmt oder eher gegen die Initiative sind (36% eher oder bestimmt dafür), lehnen in der französischsprachigen Schweiz 71% die Initiative eher oder bestimmt ab (Pro: 25%). Ausgeglichen ist das Verhältnis hingegen in der italienischsprachigen Schweiz (49:49). Letzteres ist allerdings nicht verwunderlich: Bereits 2014 wies das Tessin mit 68,2% den höchsten Grad der Zustimmung zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP auf.
Interessanterweise sprechen sich in Umfragen viele Teilnehmer dafür aus, dass die Schweiz ihre Zuwanderung komplett selber regeln soll und dass die Zuwanderung eine Belastung für Umwelt, Arbeitnehmer und das Sozialsystem darstellt. Eine Mehrheit ist jedoch auch der Ansicht, dass eine Kündigung der bilateralen Verträge mit der EU den Fachkräftemangel verschärfen und den Wohlstand der Schweiz erheblich gefährden würde.
Folgen eines Ja
Eine Abschaffung der Personenfreizügigkeit hätte massive Konsequenzen für die Beziehungen zur EU und käme einem politischen – und wohl auch wirtschaftlichen – Erdbeben gleich: Aufgrund der oben genannten "Guillotine-Klausel" würden alle weiteren bilateralen Verträge mit der EU wegfallen und müssten neu verhandelt werden (u.a. zu Landwirtschaft, Luftverkehr, Forschung). Mithin geht es am 27. September nicht nur um die Personenfreizügigkeit, sondern grundsätzlich um das Verhältnis zur EU. Diskussionen über den bereits ausgearbeiteten Rahmenvertrag zwischen der Schweiz und der EU wären ohnehin hinfällig. Die Beziehungen zwischen beiden Seiten würden somit in komplett unsichere Gewässer steuern. Anders als noch 2014 wäre es angesichts der Formulierung der Initiative für den Bundesrat kaum möglich, erneut einen Spagat zwischen Abstimmungsauftrag und völkerrechtlichen Verpflichtungen zu vollziehen.
Unabhängig von den schweren Konsequenzen eines Bruchs mit der EU werden auch andere wirtschaftspolitische Einschränkungen befürchtet: So warnen Beobachter, dass die von der SVP favorisierte Kontingentlösung zu einem bürokratischen Alptraum und einem Verteilungskampf zwischen den Branchen führen würde. Zudem wird von einer abnehmenden Attraktivität der Schweiz als internationalem Standort ausgegangen.
Folgen eines Nein
Damit bliebe die Personenfreizügigkeit erhalten, ebenso die aktuellen bilateralen Verträge. Den EU-Schweiz-Beziehungen bliebe eine ernste Krise vorerst erspart. Ein "Nein" wäre ein klares Zeichen der Schweizer Bevölkerung für eine pragmatische Zusammenarbeit. Auch die Gespräche über das Rahmenabkommen könnten weniger gehemmt fortgesetzt werden – anders als im Laufe des letzten Jahres, als mit Blick auf die Abstimmung kaum jemand sich noch offensiv zum Rahmenabkommen bekennen wollte. Allerdings wäre es ein Fehler, das "Nein" für die SVP-Initiative mit einem automatischen „Ja“ zum Rahmenabkommen gleichzusetzen. Hier stehen wohl noch schwierige Diskussionen an. Als Unterstützer des Abkommens gelten derzeit noch am stärksten die FDP und die Grünliberalen (GLP).
Für die SVP wäre eine Abstimmungsniederlage ein empfindlicher Rückschlag. Eigentlich sollte nach der aus SVP-Sicht ernüchternden Parlamentswahl 2019 mit dem neuen Vorsitzenden Marco Chiesa eine Aufbruchsstimmung erzeugt werden. Diese erhielte mit einer Abstimmungsniederlage einen erheblichen Dämpfer.
Weitere Abstimmungen
Daneben stehen am 27. September weitere vier Abstimmungen an:
- Beschaffung neuer Kampfflugzeuge. Die aktuellen Modelle laufen 2030 aus. Ziel ist, durch Beschaffung über 2030 hinaus über eine einsatzfähige Luftwaffe zu verfügen; hier zeichnet sich mehr und mehr eine solide Zustimmung ab (letzte Umfrage: 56 zu 40, CVP-Anhänger 75 zu 22)
- Ein neues Jagdgesetz: Dieses lockert den Schutz der Wölfe und gewährt präventive Abschüsse und die Dezimierung der Rudel. Hier liefern sich Befürworter und Gegner in den Umfragen ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen (CVP Anhänger 55 zu 42).
- Die Einführung eines zweiwöchigen Vaterschaftsurlaubs. Es zeichnet sich eine breite Unterstützung ab (letzte Umfrage: 61 zu 35, bei den CVP-Anhängern 57 zu 42).
- Stärkere Möglichkeit von Steuerabzügen für allgemeine Ausgaben und Betreuungskosten für Kinder. Gegner der Vorlage argumentieren, dass die Regelung vor allem wohlhabenden Familien zugutekommen würde. Nachdem zunächst die Befürworter in Front lagen, zeichnet sich zuletzt eher ein Nein ab (43 zu 52, bei den CVP-Anhängern liegen hingegen die Befürworter mit 55 zu 41 vorne). Wie auch die Einführung des Vaterschaftsurlaubs beruht der Kinderbetreuungsabzug auf Initiativen der CVP.
Die Stimmbeteiligung wird in Umfragen bei knapp unter 50% prognostiziert.
[1] Die Studie ist auf bertelsmann-stiftung.de abrufbar.
[2] Was nicht heißt, dass es nicht auch kontroverse Plakate und Clips von beiden Seiten gäbe.
[3] Die detaillierten Ergebnisse der von gfs.bern durchgeführten Umfrage sind auf gfs.bern.ch zu finden.
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