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"Aus der Welt gefallen"

von Prof. Dr. Michael Braun

Nachruf auf Fritz J. Raddatz, einen Paradiesvogel der Literaturkritik

Einmal war er beim Bundespräsidenten zur Teestunde. Und notierte sein Unbehagen, dass Tee und Wasser gleichzeitig serviert wurden. Solche Beobachtungen seiner Zeitgenossen waren von einer scharfzüngigen Offenheit beseelt, mit der er sich auch selbst nicht schonte. Eleganz des Stils und Ärger über die Kollegen schlossen sich für ihn nicht aus. Am 26. Februar 2015 ist Fritz J. Raddatz, der neben Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) zu den bedeutendsten Literaturkritikern Deutschlands zählt, im Alter von 83 Jahren verstorben. In Zürich nahm er sich das Leben, wie die "Zeit" berichtet.

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Fritz J. Raddatz; Foto: Das blaue Sofa/Club Bertelsmann

Fritz J. Raddatz, 1931 als Sohn eines UFA-Direktors in Berlin geboren, begann seine literarische Karriere 1953 als Leiter der Auslandsabteilung bei dem DDR-Verlag Volk und Welt. 1958 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über. Als rechte Hand des Verlegers Heinrich Maria Ledig-Rowohlt entdeckte er Autoren wie Hubert Fichte, Rolf Hochhuth, Elfriede Jelinek, Walter Kempowski. Nach einem Intermezzo beim „Spiegel“-Institut für Projektstudien machte er sich als Leiter des Feuilletons der Wochenzeitung „Die Zeit“ (seit 1977) einen Namen als streitbarer Literaturkritiker. Das „Raddatz-Feuilleton“ galt als Ort einer mit allen Wassern der Redekunst gewaschenen Kritik, die Einfluss nehmen wollte und im Geiste Heines der Schönheit des Ausdrucks bisweilen auch die Wahrhaftigkeit der Sache zu opfern bereit war. 1985 stolperte er über ein banales Missgeschick, er hatte in das Frankfurt der Goethezeit einen Bahnhof hineingeschrieben, den es seinerzeit noch nicht gab. Im September 2014 hat er sich, mutig genug, in einer „Welt“-Kolumne mit dem Titel „Time To Say Goodbye“ aus dem aktiven Journalismus zurückgezogen: „Ich bin aus der Welt gefallen“.

Fritz J. Raddatz hat sich in den 1970er Jahren an der TU Hannover bei Hans Mayer habilitiert, mit einer ansehnlichen Studie über die DDR-Literatur, als es diese in der Forschung noch nicht gab. Er hat eloquente Bücher über Heine, Marx, Benn und Rilke geschrieben. Und für eine zeitbeständige Ausgabe der Werke von Kurt Tucholsky gesorgt, einem Autor, der ihm besonders am Herzen lag.

In seiner Autobiographie „Unruhestifter“ (2003) und den umfangreichen Tagebüchern der Jahre 1982 bis 2001 (2010) und 2002 bis 2012 (2014) hat Fritz J. Raddatz sein glamouröses Leben als Literaturkritiker, Publizist und Lebemann zwischen Hamburg, Sylt und Nizza ausgebreitet. Die Tagebücher sind reich an Anekdoten über Freund und Feind. Doch zugleich hat sich Raddatz mit den Dämonen der eigenen Eitelkeiten auseinandergesetzt und auch die Selbstzweifel am Leben, Schreiben und Reisen thematisiert. Er glaubte an die metaphysische Trostlosigkeit der Kunst. So sind die Tagebücher nicht zuletzt ein Alterswerk, geprägt von Melancholie und der „Liebesleere“ seines Herzens. Fritz J. Raddatz war ein Paradiesvogel im Kulturjournalismus. Er hat Farbe in die literarische Welt gebracht. Wie der Literaturbetrieb funktioniert, hat kaum einer scharfsinniger und schonungsloser beschrieben als er.

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Herausgeber

Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

erscheinungsort

Berlin Deutschland