Raila Amolo Odinga, ehemaliger Premierminister und langjähriger Oppositionsführer in Kenia, ist gestorben. Im Alter von 80 Jahren erlag er in einem Krankenhaus in Indien, wo er sich zur Behandlung befand, den Folgen eines Herzstillstands. Mit seinem Tod verliert Kenia eine der prägendsten und einflussreichsten politischen Figuren und den wohl prominentesten Bürger der letzten drei Jahrzehnte.
Odinga, der am 7. Januar 1945 im Bezirk Kisumu in Westkenia zur Welt kam, stammte aus einer der bedeutendsten Politikerfamilien im Land. Er war der Sohn von Jaramogi Oginga Odinga, einem der führenden Aktivisten im Unabhängigkeitskampf und späteren Vizepräsidenten Kenias. Von seinen vielen Anhängern liebevoll „Baba“ („Vater“ auf Kiswahili) genannt, entwickelte sich Odinga nicht nur zum Inbegriff des kenianischen Oppositionellen, sondern auch zu einem zentralen Einflussfaktor für die – nicht selten holprige – demokratische Entwicklung des Landes. Die Nachricht seines Todes versetzte das gesamte Land in Trauer und in einigen Teilen in regelrechten Ausnahmezustand.
Odinga kämpfte zunächst jahrzehntelang gegen das Einparteiensystem und für politische Reformen. In den 1980er Jahren, unter dem Regime von Daniel Arap Moi, führte ihn dieser Einsatz für sechs Jahre ins Gefängnis – in Einzelhaft und ohne Gerichtsverfahren. In den 1990er Jahren schließlich bewarb er sich erfolgreich auf einen Sitz im Parlament und ging 1997 zum ersten Mal erfolglos für das Präsidentenamt ins Rennen. Vier weitere erfolglose Kandidaturen folgten (2007, 2013, 2017, 2022). Seine Niederlage bei den Wahlen 2007, die von Manipulationsvorwürfen überschattet waren, führte zu blutigen ethnischen Unruhen in deren Folge durch internationale Vermittlung eine Übergansregierung der nationalen Einheit gebildet wurde, der Odinga sich anschloss.
Während seine Anhänger ihn als Symbol des Widerstands gegen Machtmissbrauch sahen, warfen ihm Kritiker vor, durch die ständige Nichtanerkennung von Wahlergebnissen das Vertrauen in Institutionen wie Wahlkommission und Justiz nachhaltig beschädigt zu haben. Diese Legitimationsdefizite wirken über seinen Tod hinaus nach und stellen eine zentrale Herausforderung für die politische Stabilität Kenias dar.
Trotz all der Niederlagen vermochte es Odinga immer wieder aufs Neue, seinen politischen Einfluss auszubauen und zu bewahren – als Minister, als Premierminister oder als „Königsmacher“ in Koalitionsregierungen. Seine Fähigkeit, regelmäßig nach erbitterten politischen Auseinandersetzungen einen Kompromiss zu finden bzw. einen „Deal“ zu machen – zuletzt auch mit dem amtierenden Präsidenten William Ruto – brachte ihm nicht nur Bewunderung, sondern auch vermehrt Kritik ein. Sein Image als Kämpfer für die Demokratie litt. Vielmehr wurde Odinga immer deutlicher als ein weiterer Vertreter einer politischen Klasse gesehen, die den gesamten Staat vereinnahmt und sich selbst bereichert. Auch an der autoritären Führung seiner eigenen Partei, dem Orange Democratic Movement (ODM), in der er den alles dominierende Übervater darstellte, entzündete sich Kritik. Im ethnisch geprägten politischen Wettbewerb in Kenia hielten dennoch vor allem die Vertreter seiner eigenen ethnischen Gruppe, der Luo, nahezu unanfechtbar zu ihm. Diese Loyalität, die ihm praktisch unerschütterlich galt, unterstreicht, wie stark ethnische Zugehörigkeiten den politischen Wettbewerb und das Wahlverhalten in Kenia nach wie vor prägen.
Seine von Niederlagen durchzogene Biografie bekam in der jüngeren Vergangenheit noch einen weiteren Eintrag. Anfang 2025 ging Odinga mit Unterstützung der kenianischen Regierung für das Amt des Kommissionspräsidenten der Afrikanischen Union ins Rennen – und verlor.
In der Trauer um seinen Tod gerät die Kritik an seiner Person eher in den Hintergrund. Der Präsident hat Staatstrauer veranlasst und einen Feiertag ausgerufen. In der Hauptstadt Nairobi sowie in Kisumu kam das öffentliche Leben zeitweise weitgehend zum Erliegen. Auch wenn die Auswirkungen auf die politischen Entwicklungen in Kenia noch abzuwarten sind, so ist doch allen Kenianern klar: Raila Odingas Tod stellt eine Zäsur dar, die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen ist.
Für die Zukunft der kenianischen Politik stellen sich nun einige zentrale Fragen:
Wer füllt das Vakuum, das Odinga hinterlässt?
Allen Niederlagen zum Trotz: Odinga war wohl der mit Abstand profilierteste Politiker Kenias. Der ewige Herausforderer im Kampf um das Präsidentenamt hinterlässt eine Lücke, die wohl kein anderer (Oppositions-)Politiker gänzlich füllen kann. Im Zuge der Annährung (und aktiven Kooperation) Odingas mit Präsident Ruto war die kenianische Opposition ohnehin zuletzt gespalten. Im Kreise der verschiedenen Oppositionsparteien, die aktuell um ein starkes gemeinsames Bündnis ringen, befinden sich zahlreiche erfahrene politische Führungspersonen – aber niemand mit einem Profil, das annähernd an das eines Raila Odingas herankommt.
Das betrifft insbesondere die Situation in seinen Hochburgen in Nyanza im Westen und an der Küste, wo er die politische Mobilisierung geprägt hat. Ohne seine Autorität drohen eventuelle Fragmentierung, interne Konflikte und ethnische Spannungen.
Wie geht es mit Odingas Partei weiter?
Odingas Partei befand sich bereits vor seinem Tod in einem schwierigen Zustand, zuletzt gar in einer geradezu paradoxen Rolle als größter „Oppositionspartei“ und gleichzeitig kompromissbereiten Kooperationspartner der Regierungskoalition, inkl. ODM-Ministern im Kabinett Ruto. Interne Konflikte traten mehr und mehr zu Tage. Kritiker bemängelten den politischen „Ausverkauf“ und Odingas anhaltende Dominanz. Gleichzeitig war es vor allem eben jene Dominanz der Überfigur Odinga, die die Partei zusammenhielt. Ohne diese Leitfigur zeichnen sich für die Partei unruhige Zeiten ab. Das betrifft natürlich auch die Frage der Nachfolge. In der von politischen „Dynastien“ einflussreicher Familien geprägten kenianischen Politik stellt sich schnell die Frage, ob auch im Falle Odingas die parteiinterne Macht in den Händen seiner Familie bleibt.
Was bedeutet die Abwesenheit des „Raila-Faktors“ für die Wahlen 2027
Die nächsten Präsidentschaftswahlen im August 2027 werfen bereits ihre Schatten voraus. In Kenia beginnt nach der Hälfte der Legislaturperiode im Grunde schon der nächste Wahlkampf. Es werden die ersten Wahlen seit Langem sein, bei denen Odinga kein entscheidender Faktor ist. Das bietet Chancen und Herausforderungen für Opposition und Regierung. Präsident Ruto hatte seinerseits auf den „Deal“ mit Odinga gesetzt, um mit einem starken Bündnis seine Wiederwahl zu sichern. Dieses Bündnis könnte nun wackeln. Umso stärker könnte Ruto versuchen, andere Teile der Opposition zu kooptieren. Zudem stellt sich die Frage, hinter welche politische Führungsfigur sich die Wähler in Odingas Heimatregion stellen. Sicher werden die anderen Parteien hier eine Chance wittern, über eigene Kandidaten oder über eine Wiederannäherung mit der ODM Boden zu gewinnen.
Mit Blick auf die Regionen Kenias wird deutlich, dass die politischen Herausforderungen und Chancen sehr unterschiedlich verteilt sind. Besonders in Mt. Kenya wachsen die Unzufriedenheit über die hohen Lebenshaltungskosten und die Enttäuschung über die ursprünglichen Erwartungen an Ruto – Faktoren, die oppositionellen Bündnissen neue Chancen eröffnen könnten. Gleichzeitig verstärkt sich im Rift Valley die Loyalität zu Ruto, was seine regionale Machtbasis dort weitgehend stabilisiert. In der Küstenregion hingegen könnten lokale Fragen wie Landrechte, wirtschaftliche Marginalisierung und die anhaltende Jugendarbeitslosigkeit den Ausschlag geben, ob die Bevölkerung sich eher oppositionellen oder regierungsnahen Kräften zuwendet. Auch im Westen Kenias wird nach Odingas Tod ein politisches Vakuum spürbar werden, das sowohl nationale Parteien als auch neue regionale Eliten versuchen werden auszufüllen. Im Nordosten wiederum bleibt die Sicherheitssituation ein zentrales Wahlkampfthema: Grenzkonflikte, Angriffe durch die islamistische Terrorgruppe al-Shabaab und Fragen der Ressourcenverteilung dürften dort die politische Mobilisierung bestimmen. Nairobi schließlich bleibt als urbanes Machtzentrum mit seiner jungen, kritischen Bevölkerung ein Schlüsselgebiet, in dem sich soziale Protestbewegungen und etablierte Parteien gleichermaßen um Einfluss bemühen.
Bietet die kollektive Trauer eine Chance für die Entschärfung politischer Spannungen?
In der lagerübergreifenden Trauer um Odingas Tod, die auch viele aktuelle und ehemalige Widersacher zusammenbringt, könnte ein vereinendes, versöhnliches Momentum liegen. Dies könnte dem tief gespaltenen Land, in dem die politische Polarisierung und die Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung mit der politischen Elite zunimmt, guttun. Auf der anderen Seite wird dieses Zusammenrücken in der Trauer wohl kaum dabei helfen, die besonders frustrierte junge Generation zu erreichen, die zuletzt wiederholt Proteste gegen die Regierung mobilisierte und der politischen Elite insgesamt misstraut. Hinzu kommen erste Schlagzeilen, die die politischen Spannungen weiter anheizen könnten: Die kollektive Trauer führte die Menschen in Massen auf die Straßen der Hauptstadt Nairobi. Am Rande kam es zu Plünderungen und Ausschreitungen. Die Sicherheitskräfte reagierten zum Teil gewaltsam und es kam zu mehreren Todesfällen.
Welche Auswirkungen ergeben sich über Kenia hinaus?
Der Tod Raila Odingas betrifft nicht nur die Innenpolitik Kenias, sondern auch die Stabilität der Region. Kenia ist ein Ankerstaat in Ostafrika – Unsicherheit dort wirkt unmittelbar auf Nachbarn wie Äthiopien, Südsudan oder die DR Kongo. Odinga war zudem eine bekannte Stimme in regionalen Vermittlungsprozessen. Sein Fehlen könnte das Machtgefüge in Ostafrika empfindlich verändern. Auch die internationalen Beziehungen sind berührt: Deutschland pflegt seit den 1960er-Jahren enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Kenia – nicht zuletzt durch Odingas Studienjahre in Magdeburg. Berlin und die EU sehen Nairobi als Schlüsselpartner am Horn von Afrika. Der Tod Odingas wirft die Frage auf, wie Deutschland künftig Opposition, Zivilgesellschaft und junge Führungspersönlichkeiten stärker unterstützen kann, ohne autoritäre Tendenzen zu befördern.
Fazit
Die langfristigen Auswirkungen von Odingas Ableben bleiben also abzuwarten. In Kenia beginnt gewissermaßen ein neues Kapitel: seit der Einführung der Mehrparteiendemokratie gab es keine Wahl in Kenia, in der „Baba Raila“ nicht ein zentraler Faktor war. Die Karten im politischen Wettbewerb werden zumindest teilweise neu gemischt, soviel steht fest. Der Wahlkampf mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 2027 wird dadurch zusätzlich an Spannung gewinnen. In einem ohnehin fragilen, hoch polarisierten politischen Klima, kommt nun ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzu. Aber es ergeben sich möglicherweise auch neue Chancen für ein Ausbrechen aus der bisher vorherrschenden politischen Logik, geprägt von einflussreichen Familiendynastien.
Damit eröffnet sich gegebenenfalls auch die Möglichkeit, aus der Logik ethnisch dominierter Politik und politischer Dynastien auszubrechen und eine breitere gesellschaftliche Debatte über Korruption, Machtverteilung und institutionelle Reformen zu führen.
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