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Wer soll das bezahlen?

von Dr. Karl-Dieter Hoffmann

Die rasante Alterung der lateinamerikanischen Gesellschaften als sozialpolitisches Problem

Gegenwärtig erhalten nur rund 40 Prozent der lateinamerikanischen Bürger in der Altersklasse 65+ eine reguläre (beitragsfinanzierte) Rente, weitere 20 Prozent beziehen eine beitragsunabhängige (steuerfinanzierte) staatliche Altersversorgung. Der Rest der alten Menschen muss weiter einer Erwerbsarbeit nachgehen oder ist auf die Unterstützung von Familienmitgliedern angewiesen. Auch wenn die Region heute noch eine verhältnismäßig junge Bevölkerung aufweist, wird der Umfang der mindestens 65 Jahre alten Personen im Zeitraum 2010 bis 2050 von knapp 40 Millionen auf 140 Millionen anwachsen.

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Hervorstechendstes Merkmal der zeitgenössischen Entwicklung der Weltbevölkerung ist der rasche Rückgang der Fertilitätsrate in der großen Mehrheit der von der OECD offiziell als Entwicklungsland anerkannten Staaten. Wenn sich dieser Trend bislang nur schwach auf die globale demografische Zuwachsrate auswirkt, liegt das an der Menge der Frauen im gebärfähigen Alter, die sich noch eine Weile auf einem historischen Rekordniveau bewegen wird. Lateinamerika ist die erste Region der sogenannten Dritten Welt, in der die Mehrheit der Länder jenem demografischen Entwicklungsmuster folgt, das die heute hochentwickelten Staaten im Verlauf ihres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses seit der Mitte des 19. Jahrhunderts allesamt durchlaufen haben: Nach einer langen Phase, in der rückläufige Sterberaten und anhaltend hohe Geburtenraten ein starkes Bevölkerungswachstum verursachen, schaffen Verbesserungen bei den Arbeits-, Wohn- und Lebensverhältnissen (unter anderem Zugang zu sauberem Trinkwasser, höherwertige Ernährung, Verminderung von Infektionsrisiken) die Voraussetzungen für eine allmähliche Reduzierung der Fertilitäts- und mithin der Geburtenrate.

Im Unterschied zu den Erfahrungen in Europa und Nordamerika vollzieht sich dieser als „demografischer Übergang“ bezeichnete Prozess in Lateinamerika in einem deutlich schnelleren Tempo. Geradezu extreme Formen nimmt der rasche demografische Wandel bei der Veränderung der Altersstruktur an, die durch einen rapiden Anstieg des Anteils der Männer und Frauen im Ruhestandsalter (ab 65 Jahren) geprägt wird. Während es in Frankreich 115 Jahre und in Schweden 85 Jahre dauerte, bis sich der Anteil der alten Menschen von sieben auf 14 Prozent verdoppelt hat, wird dasselbe Resultat in Chile binnen 26 Jahren erreicht, noch kürzere Zeitspannen werden Brasilien mit 21 und Kolumbien mit lediglich 19 Jahren benötigen. Nur ein kleiner Teil dieser Personengruppe hat Anspruch auf (ausreichende) Leistungen aus einer regulären Renten- oder Pensionskasse. Daher wird das Spektrum der drängenden Sozialprobleme in Süd- und Mittelamerika binnen weniger Jahrzehnte um eine gravierende sozialpolitische Herausforderung erweitert. Ein beträchtlicher Teil der alten Menschen in dieser Weltregion hat unter den gegebenen Bedingungen nur eine geringe Chance, den letzten Lebensabschnitt unter halbwegs sorgenfreien sozialen Umständen zu verbringen. Öffentliche Maßnahmen und Programme, die diesen Missstand zu beheben oder zumindest abzumildern trachten, gehen zwangsläufig mit einer enormen Belastung der Staatshaushalte einher.

Warum die lateinamerikanischen Gesellschaften so rasch altern

Zur Mitte des 20. Jahrhunderts bildeten Kinder und Jugendliche das breite Fundament einer Alterspyramide, deren obere Schichten ungleich schmaler ausfielen und in einer dünnen Spitze endeten. Damals lag die durchschnittliche Lebenserwartung in der Region bei 52 Jahren und jede Frau brachte im Schnitt mehr als sechs Kinder zur Welt. Bis zum Jahr 2012 erhöhte sich die Lebenserwartung bei Geburt auf 74,5 Jahre, während die Fertilitätsrate im selben Zeitraum auf 2,5 Kinder pro Frau zurückging. War 1950 noch mehr als die Hälfte der regionalen Bevölkerung weniger als 20 Jahre alt, wuchs der Alters-Median bis 2010 auf 28 Jahre. Ursache dieser demografischen Verschiebungen ist ein starker Rückgang der Sterblichkeitsraten, der seinerseits vor allem auf Maßnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten und eine allmähliche Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen zurückgeht. Von zentraler Bedeutung in diesem Zusammenhang ist die Kennziffer der Säuglingssterblichkeit, die stärker als jeder andere Indikator die Charakteristika der demografischen Entwicklung bestimmt. Der entsprechende Wert fiel zwischen 1950 und 2010 im regionalen Durchschnitt von 128 Todesfällen je 1.000 Lebendgeburten auf 22. Mithin starben im letztgenannten Jahr nur zwei von 100 Neugeborenen vor Vollendung ihres ersten Lebensjahres, während es 60 Jahre zuvor noch eines von acht Kleinkindern war.

Der durch diese Durchschnittswerte vermittelte positive Eindruck darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in regionaler Hinsicht und vor allem beim vergleichenden Blick auf die demografische Realität in den einzelnen Staaten zum Teil krasse Unterschiede offenbaren. So betrug die für das Jahr 2014 ausgewiesene Lebenserwartung in Argentinien 76,2 Jahre, während diese vitale Kennziffer für Guatemala auf 71,7 und für Bolivien auf 68,3 Jahre lautete. Ähnliche Unterschiede zeigen sich bei der mit der durchschnittlichen Lebenserwartung ursächlich eng verkoppelten Säuglingssterblichkeit. In einer kleinen Gruppe von Ländern (Uruguay, Argentinien, Chile, Panama, Kuba) liegt diese Kennziffer bereits seit geraumer Zeit in der Nähe des Niveaus der OECD-Staaten. Obwohl in Bolivien seit der Jahrhundertwende (60,4 / 1.000) beachtliche Fortschritte erzielt werden konnten, wurden dort 2014 doppelt so viele Todesfälle im ersten Lebensjahr (38,6 / 1.000) registriert wie in Brasilien (19,2 / 1.000). Ähnliche Differenzen zeigen sich beim Blick auf die Fertilitätsrate in den einzelnen Ländern. Während Frauen in Bolivien im Zeitraum 1975 bis 1980 noch durchschnittlich 5,8 Kinder zur Welt brachten, waren es im Zeitraum 2005 bis 2010 nur noch 3,5 Kinder. In der gleichen Zeit ging die Fruchtbarkeitsrate in Kolumbien von 4,3 auf 2,5 und in Brasilien von 4,3 auf 1,9 zurück.

Ein demografisches Charakteristikum, das sich ohne Ausnahme in allen lateinamerikanischen Ländern beobachten lässt, ist die markant unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen. Die für Mexiko im Jahr 2014 ausgewiesene durchschnittliche Lebenserwartung von 76,7 Jahren beruht auf einem Wert von 79,2 Jahren für Frauen und 74,4 Jahren für Männer. Noch deutlicher ist die Abweichung in Argentinien, wo die entsprechenden Angaben (2014) auf 80,1 versus 72,4 Jahre lauteten. Zur gleichen Zeit lag die Lebenserwartung von Frauen in Paraguay gut vier Jahre (75,1 versus 70,9 Jahre) und in Bolivien fünf Jahre (70,9 versus 65,9 Jahre) über jener der Männer. Diese Kluft impliziert, dass wesentlich mehr Männer als Frauen versterben, ehe sie das jeweilige nationale Durchschnittsalter erreichen. Dies zeigt sich daran, dass 2010 auf jeweils 100 Männer in der Altersklasse 60 Jahre+ im regionalen Durchschnitt 119 Frauen kamen. Extreme Werte erreicht diese Relation in Argentinien (100 / 138) und Uruguay (100 / 145). In Guatemala beträgt das Geschlechterverhältnis in der Generation 65+ 100 zu 164.

Die Kombination aus sinkenden Fertilitätsraten und steigender Lebenserwartung führt auf lange Sicht zwangsläufig zu einer Erhöhung des Anteils der Bevölkerung in den Altersstufen 65 Jahre+. 1975 befanden sich erst rund vier Prozent der Bewohner der Region in dieser Altersklasse, und auch der für 2010 errechnete Anteil von annähernd sieben Prozent (zum Vergleich: Europa = 19 Prozent) mag auf den ersten Blick nicht dramatisch erscheinen. Wie zu erwarten, fließen in diesen regionalen Mittelwert höchst heterogene nationale Zahlenwerte ein. In einigen Ländern betrug besagter Anteil 2010 weniger als fünf Prozent (unter anderem Guatemala, Bolivien), während er insbesondere in den sozioökonomisch fortgeschrittenen Staaten der Region knapp unter oder über der Zehn-Prozent-Marke (Chile, Argentinien) liegt. Den regionalen Spitzenplatz nimmt Uruguay mit einem Anteil von 13,9 Prozent für 2013 ein. Demografische Projektionen stimmen darin überein, dass sich der Alterungsprozess der lateinamerikanischen Gesellschaften in absehbarer Zeit enorm beschleunigen wird. Gegenwärtig erreichen die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre das Ruhestandsalter. Im Zeitraum 2000 bis 2025 wächst der Anteil der Senioren (65+) dreimal schneller als die Gesamtbevölkerung, im folgenden Vierteljahrhundert soll sich dieser Faktor auf sechs erhöhen. Zur Mitte des 21. Jahrhunderts wird das demografische Gewicht der Altersgruppe 65+ rund 20 Prozent betragen. Bei bevölkerungsstarken Ländern stehen solche Prozentwerte für enorme quantitative Dimensionen. So wird sich die Menge der Menschen in der Altersklasse 65+ in Brasilien innerhalb von vier Jahrzehnten mehr als verdreifachen – von weniger als 20 Millionen im Jahre 2010 auf ca. 65 Millionen in 2050. Die als Altenquotient bezeichnete Relation zwischen dem Umfang dieser Altersgruppe und dem Anteil der Jahrgänge im arbeitsfähigen Alter wird sich in dieser Zeit von elf auf 49 Prozent erhöhen. Regierungsamtliche Angaben sehen für Mexiko parallel zu einem 18,3-prozentigen Wachstum der Gesamtbevölkerung im Zeitraum 2012 bis 2050 von 116 auf 137 Millionen einen Anstieg der Zahl der Senioren ab dem 70. Lebensjahr von 4,8 auf 16,6 Millionen voraus, dies entspricht einer Zunahme von ca. 240 Prozent. Berechnungen für die gesamte Region projektieren ein Mengenwachstum der über 65-Jährigen von 38 Millionen im Jahre 2010 auf rund 140 Millionen in 2050; in dieser Zeit soll sich die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter je Person im Rentenalter von 9,6 auf 3,2 verringern.

Der Alterungsprozess der lateinamerikanischen Gesellschaften wird sich in absehbarer Zeit enorm beschleunigen.

Während lange Zeit die fortschreitende Abnahme der Säuglingssterblichkeit den Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung maßgeblich beeinflusst hat, ist es mittlerweile hauptsächlich die langsam aber stetig zunehmende Lebensdauer der über 65-Jährigen selbst, die den Aufwärtstrend dieser Kennziffer bestimmt. Im Zeitraum 2010 bis 2015 hatte eine 65-jährige Frau in Lateinamerika eine durchschnittliche zusätzliche Lebenserwartung von 18,6 Jahren, eine Zeitspanne, die bis zu den Jahren 2050 bis 2055 um weitere 3,4 Jahre anwachsen soll. Die Vergleichswerte für gleichaltrige Männer lauten auf 16,1 Jahre und weitere 2,8 Jahre im Fünfjahreszeitraum ab 2050. Zur Mitte des Jahrhunderts kann die regionale Bevölkerung mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80,3 Jahren rechnen, während die Fertilitätsrate nur noch 1,8 und somit weniger als die demografische Reproduktionsrate (2,1) betragen wird. Die Zahl der über 80-Jährigen in Relation zur Altersgruppe der 50- bis 64-Jährigen steigt in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts um den Faktor drei. Bis zur nächsten Jahrhundertwende soll die mittlere Lebenserwartung um weitere fünf Jahre ansteigen; dann wird die Hälfte der Bevölkerung älter als 47 Jahre (Median) sein.

Konventionelle und beitragsunabhängige Alterssicherungssysteme

Das Tempo, in dem sich der Altenquotient im Verlauf der kommenden Jahrzehnte in weiten Teilen Lateinamerikas erhöhen wird, würde auch in Ländern, die über ein weitreichendes und einigermaßen effektives institutionalisiertes Alterssicherungssystem verfügen, ernsthafte Anpassungsprobleme hervorrufen. Die sozialpolitische Brisanz der Situation ergibt sich indes vor allem daraus, dass im regionalen Durchschnitt in Süd- und Mittelamerika nur 45 von jeweils 100 Arbeitnehmern Mitglieder einer Rentenversicherung oder mittels einer staatlicher Pensionskasse für den Ruhestand abgesichert sind. An dieser niedrigen Deckungsquote haben auch die seit den 1990er Jahren in mehreren Ländern realisierten Reformen der Rentensysteme (unter anderem generelle oder partielle Umstellung vom Umlageverfahren auf kapitalbildende Modelle) quasi nichts geändert. Eine differenzierte Betrachtung fördert die für die Region typische große Spannbreite zutage, dazu gesellen sich gravierende Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Im Jahre 2010 gab es in Lateinamerika insgesamt ca. 130 Millionen Arbeitskräfte, die keine Beiträge an die Rentenkasse zahlten.

Die riesige Lücke in der Alterssicherung geht im Wesentlichen auf die strukturellen Merkmale der regionalen Arbeitsmärkte zurück. Die große Mehrheit der Arbeitnehmer, die Abgaben für die Rentenversicherung zahlen, ist im formellen Wirtschaftssektor tätig. Auch wenn mittlerweile die staatliche Altersvorsorge für informell Beschäftigte überall geöffnet wurde, ist es nur eine kleine Minderheit dieser Gruppe (regionaler Mittelwert: 16 Prozent), die entsprechende Beiträge auf freiwilliger Basis entrichtet. Da die meisten „auf eigene Rechnung“ arbeitenden Personen nur geringe und zudem auf niedrigem Niveau häufig schwankende Einkommen erzielen, sehen sie sich außerstande, aktuell einen Konsumverzicht zugunsten zukünftiger Rentenansprüche zu leisten. Auch im formellen Wirtschaftssektor werden keineswegs flächendeckend Rentenbeiträge gezahlt. Dies trifft insbesondere auf kleinere Firmen zu, die dadurch Kosten sparen und somit ihren Wettbewerbsnachteil gegenüber informellen Betrieben ausgleichen oder zumindest vermindern können. Im formellen Wirtschaftssektor sind es fast ausnahmslos Geringverdiener, die keine geregelte Altersvorsorge betreiben. Dass nur eine kleine Minderheit der Teilnehmer an einer in Lima und Mexiko-Stadt durchgeführten Umfrage unter nicht rentenversicherten Arbeitskräften Grundkenntnisse über die Konditionen des staatlichen Rentensystems vorweisen konnte – mehr als die Hälfte der Befragten vermochte noch nicht einmal das reguläre Renteneintrittsalter zu benennen –, verweist darauf, dass sich der Großteil der Bezieher niedriger Einkommen niemals ernsthaft mit dieser Option der Altersvorsorge beschäftigt hat.

Eine möglichst präzise Erfassung des Problems wird dadurch erschwert, dass sich aus der Menge der aktuellen Beitragszahler nicht verlässlich auf den Umfang der zukünftigen Rentenbezieher schließen lässt. Viele Arbeitnehmer haben zwar Abgaben entrichtet, erreichen aber nicht die erforderliche Mindestzahl an Beitragsjahren und gehen damit leer aus. Andere erhalten nur sehr geringe Renten, die zur Existenzsicherung kaum genügen. Pflichtbeitragszeiten von 15 und mehr Jahren (z.B. Panama 18, Paraguay und Mexiko 25, Ecuador und Argentinien 30 Jahre) wirken sich angesichts höchst instabiler Arbeitsmärkte alles andere als positiv auf die Attraktivität staatlicher Rentensysteme aus. Die Unterscheidung zwischen formellem und informellem Sektor bzw. Arbeitsmarkt suggeriert eine Trennlinie, die durch die häufigen Wechsel vieler Erwerbstätigen zwischen beiden Jobtypen nicht gerechtfertigt erscheint. Eine Studie zu Mexiko kam zu dem Ergebnis, dass 41 Prozent aller Beschäftigten im Zeitraum 2006 bis 2010 zumindest je eine formelle und eine informelle Beschäftigung ausübten, während gleichzeitig 23 Prozent ausschließlich formelle und 31 Prozent nur informelle Jobs wahrnahmen. In Kolumbien, Ecuador und Venezuela verlor in jüngster Zeit eine von vier Arbeitskräften, die zu einem gegebenen Zeitpunkt im formellen Sektor tätig waren, diesen Job binnen Jahresfrist. Aufgrund der notorisch unsicheren Beschäftigungs- und Einkommensperspektiven verzichten zahlreiche Erwerbstätige auf eine Mitgliedschaft in der staatlichen Rentenversicherung.

In den meisten Staaten hat die Politik seit den 1990er Jahren auf die enorme Deckungslücke bei der all gemeinen Altersvorsorge reagiert und alternative Sicherungssysteme kreiert, die auch Personen ohne regulären Rentenanspruch eine Art finanzielle Grundsicherung gewähren. Die diversen Programme sind hinsichtlich Reichweite und Höhe der Leistungen höchst unterschiedlich konzipiert. In Bolivien hat die Regierung Morales mit der Renta Dignidad (etwa: Rente der Würde) ein Modell geschaffen, das sämtlichen Personen ab dem 60. Lebensjahr – also auch solchen, die Anspruch auf reguläre Altersbezüge haben – eine staatliche Rente zahlt. In Mexiko erhalten nur diejenigen Personen im Alter von 70 Jahren und mehr Zuwendungen aus dem Programm Pensión para Adultos Mayores, die keine anderen Sozialleistungen oder Gelder aus einer privaten Altersvorsorge beziehen. Gemeinsam ist beiden Programmen die bescheidene Höhe der monatlichen Zahlungen. Diese liegen unter der Armutsgrenze von umgerechnet 2,50 US-Dollar pro Tag; hingegen erhalten die Bedürftigen in der Altersklasse 70+ auf Tagesbasis gerechnet in Argentinien sieben, in Panama 5,50 und in Uruguay knapp zehn US-Dollar. In Uruguay beträgt der Anteil der Empfänger steuerfinanzierter Altersbezüge aufgrund des geringen Deckungsdefizits der regulären Rentenversicherung nur elf Prozent. In Brasilien, wo das Mindestalter für die Gewährung einer beitragsunabhängigen staatlichen Unterstützung bei 65 Jahren liegt, bezieht mehr als ein Drittel dieser Alterskohorte solche Leistungen (Tagessatz: elf US-Dollar), in Chile und Argentinien sind es bei identischer Altersschwelle 26 (Tagessatz: 6,50 US-Dollar) bzw. 25 Prozent. Während Programme dieser Art in Peru, Paraguay und El Salvador aufgrund der wenigen Begünstigten nur eine geringe Bedeutung besitzen, sind sie in Haiti, Honduras und Nicaragua völlig inexistent.

Mithilfe der beitragsunabhängigen Unterstützungsprogramme für alte Menschen ist es in mehreren Ländern gelungen, die Deckungslücke der konventionellen Alterssicherung deutlich zu verkleinern. Überdies konnten dort die allgemeinen Lebensbedingungen zahlreicher Personen im Rentenalter mehr oder weniger spürbar verbessert und mithin das Armutsrisiko reduziert werden. Gleichzeitig belasten solche Ausgaben die Staatshaushalte, die insbesondere in Zeiten schwächelnder Wirtschaftskonjunktur ohnehin unter Druck stehen. Dabei ist auch die im Vergleich zur OECD niedrige Steuerquote in Lateinamerika (Ausnahme Brasilien) zu bedenken: Regierungen können nur das ausgeben, was sie zuvor eingenommen haben. Mit dem absehbaren raschen Anstieg der Zahl der über 65-Jährigen werden die Aufwendungen für solche Hilfsprogramme zwangsläufig kontinuierlich weiter wachsen. Eine Regierung, die Einschnitte bei den einmal gewährten beitragsunabhängigen Renten plant, geht ein großes politisches Risiko ein, weil deren Begünstigte einen zunehmend größeren Anteil der Wahlbevölkerung stellen. Umgekehrt gilt, dass Parteien und Präsidentschaftskandidaten ihr Stimmenpotenzial mehren können, wenn sie eine Ausdehnung des Empfängerkreises der steuerfinanzierten Renten und/oder eine Erhöhung der monatlich gezahlten Beträge versprechen: Gegenüber dem möglichen Wahlsieg erhalten die späteren Budgetprobleme im Regelfall die geringere Priorität. Die rasch steigenden Ausgaben für die öffentlich finanzierte Altersversorgung binden knappe staatliche Mittel, die für andere Investitionen – etwa im Bildungssektor und der wirtschaftlichen Infrastruktur – dringend benötigt würden. Dadurch wird der ökonomische Fortschritt (vermittels Produktivitätssteigerungen und der Erhöhung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit) gehemmt. Dies begrenzt wiederum die Aufnahmekapazität des formellen Wirtschaftssektors und begünstigt mithin den Fortbestand eines großen informellen Sektors.

Ein drängendes Problem ohne problemadäquate Lösungsansätze

Europa und Nordamerika hatten im Vergleich zu Lateinamerika ungleich mehr Zeit, um sich den Herausforderungen einer stetig alternden Bevölkerung anzupassen. Darüberhinaus besaß die erste Generation der Industrieländer eine volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit, welche die Bewältigung dieser Aufgabe erleichterte. Daher sind nur ganz wenige Länder in Lateinamerika in der Lage, der Mehrheit der Personen in der Altersstufe 65+ soziale Leistungen zu bieten, die annähernd dem diesbezüglichen Standard in Europa entsprechen. Nur in sehr wenigen Ländern wurden bislang Initiativen zum Aufbau einer institutionalisierten Altenpflege und -betreuung ergriffen (unter anderem Costa Rica, Uruguay).

In vielen Ländern der Region erreichen beitragsgestützte und beitragsunabhängige Rentenmodelle zusammen längst nicht alle Männer und Frauen im Ruhestandsalter. Im regionalen Durchschnitt betrifft dies mehr als ein Drittel der über 65-Jährigen, wobei gerade die wirtschaftlich schwachen Staaten deutlich höhere Anteile verzeichnen. Die betroffenen Personen sind auf anderweitige Unterstützung angewiesen, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Während die Zuwendungen aus steuerbasierten Rentenprogrammen mehrheitlich eher gering bemessen sind, erhält auch ein beträchtlicher Teil der Bezieher einer regulären Altersrente monatliche Zahlungen in einer Höhe, die nicht ausreicht, um den Lebensabend in bescheidener Würde zu verbringen. In Ecuador summiert sich der Anteil der Empfänger von Renten beider Typen, deren Einkünfte auf Tagesbasis umgerechnet weniger als 2,50 US-Dollar betragen, auf 62 Prozent; in Mexiko liegt der entsprechende Anteil bei 40 Prozent. Zur prekären Lebenssituation armer Senioren tragen in vielen Ländern auch die gravierenden Mängel im Gesundheitswesen bei.

Viele alte Menschen ohne jegliche Renteneinkünfte und solche mit nicht bedarfsdeckenden staatlichen Leistungen sehen sich gezwungen, weiterhin einem Broterwerb nachzugehen. In Ländern mit breitenwirksamer Altersversorgung sind weniger als fünf Prozent der über 80-Jährigen noch immer beruflich tätig, hingegen sind es in Ländern wie Peru, Honduras und Nicaragua nahezu 20 Prozent. In Lateinamerika spielt der Familienverband traditionell eine wichtige Rolle bei der Unterstützung seiner (hoch-)betagten Mitglieder. Sieben von zehn alten Menschen leben in Großfamilien, verglichen mit ca. 30 Prozent in Europa. Insbesondere Frauen – Töchter und Enkelinnen – widmen sich der zeitaufwändigen Versorgung und Betreuung hilfs- und/oder pflegebedürftiger Eltern bzw. Großeltern im gemeinsamen Haushalt. Dadurch bleiben Hunderttausende Frauen dem (formalen) Arbeitsmarkt fern und sind mithin außerstande, eigene Rentenansprüche zu erwerben – ein klassischer Circulus vitiosus. Überdies stehen die für die Verpflegung und Betreuung der Senioren verausgabten Mittel nicht für sinnvolle Zukunftsinvestitionen in die junge Generation (Bildung, Gesundheit, Wohnverhältnisse) zur Verfügung. Allein schon wegen der weiter sinkenden Fertilitätsrate wird die Kompensation durch familiäre Solidarverbände in Zukunft immer weniger möglich sein. Eine andere bzw. in vielen Fällen zusätzliche monetäre Unterstützungsvariante besteht in Form der mehr oder weniger regelmäßigen Geldtransfers (remesas) von im Ausland – v.a. in den USA – (legal oder illegal) beschäftigten Familienmitgliedern. Vor allem in Mexiko und Zentralamerika würden ohne solche Einkünfte wesentlich mehr Familien unterhalb der Armutsgrenze leben.

Angesichts der relativ niedrigen Steuerquote erscheint es naheliegend, die finanzielle Bürde der beitragsunabhängigen staatlichen Rentensysteme mittels höherer Steuereinnahmen zu kompensieren. Zusätzliche fiskalische Einkünfte könnten durch eine Anhebung von Steuertarifen und/oder eine effektive Bekämpfung der notorischen Steuerhinterziehung realisiert werden. Unabhängig davon, dass etliche plausible Argumente für eine Erhöhung der Fiskaleinnahmen nicht nur, aber vor allem für jene Länder der Region vorliegen, deren Steuerquote nur ca. die Hälfte des OECD-Mittelwerts beträgt, würden solche Maßnahmen im hier diskutierten thematischen Zusammenhang das zugrunde liegende Strukturproblem nicht tangieren. Das Gleiche gilt für steigende Steuereinnahmen infolge hoher ökonomischer Wachstumsraten, welche erfahrungsgemäß nur zeitweilig zu erzielen sind, wie dies die Abkühlung der Konjunktur nach der jüngsten regionalen Boomphase (2003 bis 2010) eindeutig zeigt.

Initiativen und Programme, die eine signifikante Ausweitung der Mitgliedschaft in beitragsfinanzierten Rentensystemen bewirken und somit die Kosten der nicht beitragsgestützten Altersbezüge begrenzen könnten, genießen gegenwärtig zweifellos höchste Priorität. Dies ist unter den gegebenen Bedingungen freilich leichter gesagt als getan. Die Struktur der regionalen Arbeitsmärkte in Richtung einer zunehmenden Stärkung des formalen Wirtschaftssektors zu verändern, ist alles andere als ein leichtes und zweifellos ein extrem langfristiges Unterfangen. Zu diesem Zweck müssten unter anderem steuerrechtliche Regelungen korrigiert werden, die indirekt und unbeabsichtigt die Fortexistenz informeller ökonomischer Aktivitäten begünstigen. Steuer- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen haben im lateinamerikanischen Kontext daher häufig einen Einfluss auf individuelle Entscheidungen über Zweckmäßigkeit und Art der eigenen Altersvorsorge.

Fatalerweise generieren gerade auch die in jüngster Zeit geschaffenen bzw. massiv ausgeweiteten beitragsunabhängigen staatlichen Rentenmodelle höchst kontraproduktive sozialpolitische Effekte. Für die breite Schicht der Bezieher niedriger Einkommen – dies sind im Extremfall bis zu 60 Prozent der Erwerbsbevölkerung –, deren finanzieller Spielraum nach Deckung der Grundbedürfnisse sehr begrenzt ist, präsentiert sich die steuerfinanzierte Altersversorgung als Alternative zum herkömmlichen Beitragssystem. Die durch diese Programme offerierten Leistungen neutralisieren den Anreiz für bislang nicht versicherte informelle Arbeitskräfte, sich um eine Beschäftigung im formellen Sektor zu bemühen und sich dadurch in das staatliche Rentensystem einzugliedern. Gemäß derselben Logik werden Beschäftigte im informellen Sektor demotiviert, freiwillige Rentenbeiträge zu entrichten, wenn offensichtlich ist, dass die meisten anderen informell Erwerbstätigen sich solche Kosten sparen und dennoch mit einer mehr oder minder existenzsichernden staatlichen Altersversorgung rechnen können. In gewisser Weise stellt die beitragsunabhängige Alterssicherung (zumeist in Verbindung mit ähnlich konzipierten Programmen im Gesundheitsbereich) eine Subventionierung informeller Erwerbstätigkeiten dar. Es ist leicht einsichtig, dass die Chancen, unter solchen Bedingungen eine nennenswerte Reduzierung des relativen Gewichts der informell tätigen Arbeitskräfte zu erreichen, äußerst schlecht stehen.

Die beitragsunabhängigen Rentenmodelle erweisen sich sozialpolitisch als kontraproduktiv.

Folglich sind innovative Konzepte vonnöten, welche den Anreiz für eine Mitgliedschaft in der beitragspflichtigen staatlichen Rentenversicherung merklich erhöhen. Neben der unverzichtbaren kritischen Durchforstung und nachfolgenden Abschaffung aller staatlicherseits zu verantwortenden Rahmenbedingungen, welche die Attraktivität informeller Erwerbstätigkeit eher steigern als mindern, sind Programme denkbar, die Beitragszahlungen in die staatliche Rentenkasse für Geringverdiener bezuschussen und gleichzeitig eine Mindestrente garantieren, welche die Höhe der monatlichen Auszahlungsbeträge der beitragsunabhängigen staatlichen Altersversorgung deutlich übersteigt. Nur auf den ersten Blick erscheint es zweckdienlich, eine staatliche Offerte dieser Art mit einer (angekündigten) stufenweisen Reduzierung der monatlichen Zuwendungen aus dem beitragsunabhängigen Rentenschema zu verbinden – dies ist aus sozioökomischen (nach wie vor hohe Armutsraten; mehrheitlich geringe reelle Chancen, vom informellen in den formellen Wirtschaftssektor zu wechseln) und politischen Gründen (hoher Anteil von Senioren an der Wahlbevölkerung) bei Abwägung der voraussehbaren Vor- und Nachteile in der Bilanz eher schädlich bis kontraproduktiv. Es besteht indes die Hoffnung, dass der sich in Gestalt des schnell wachsenden Bevölkerungsanteils der über 65-Jährigen manifestierende fundamentale demografische Wandel und der dadurch bedingte politische Handlungsbedarf in nicht allzu ferner Zukunft die Konzeption neuartiger Sozialprogramme befördert, deren Konturen heute allenfalls vage erahnt werden können. Wenig tröstlich für lateinamerikanische Regierungen dürfte die Tatsache sein, dass durch die zunehmende Vergreisung der Gesellschaft auch in Westeuropa und anderswo in der Ersten Welt – wenn auch in anderer Form – der politische und finanzielle Druck zum Überdenken des Designs und mithin zur Reform der konventionellen Altersvorsorge von Jahr zu Jahr ansteigt.

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Dr. Karl-Dieter Hoffmann ist Politikwissenschaftler am Zentralinstitut für Lateinamerikastudien der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

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