EU-Einwanderungspolitik aus südamerikanischer Sicht - www.kas.de
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„Rassistisch“, „xenophobisch“, „peinlich“, „repressiv“, „ein Paradefall von historischem Gedächtnisverlust“ – selten in der letzten Zeit waren sich die Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas durch alle politischen Lager hinweg so einig wie in ihrer Ablehnung der Migrationspolitik der Europäischen Union in der letzten Woche. „Es schmerzt uns besonders“, sagte die Staatschefin von Argentinien, Cristina Fernández de Kirchner, Gastgeberin des Gipfeltreffens der Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur in der vergangen Woche, „dass heute die Lateinamerikaner diskriminiert werden, die in Europa neue Chancen suchen – so wie einst ihre Großeltern ihr Glück in Lateinamerika machten“. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) berief eine Sondersitzung ein, auf der Generalsekretär José Miguel Insulza die Verletzung fundamentaler Menschenrechte durch Europa anprangerte. Und aus Caracas drohte Hugo Chávez wieder einmal mit einem Öl-Embargo.
Was war geschehen? Auslöser der Proteste ist die neue Richtlinie zur Migrationspolitik, die das Europaparlament in Straßburg Mitte Juni verabschiedet hatte. Ihre Befürworter nennen sie „Richtlinie Rückführung“ - und das ist auch der offizielle Name, unter dem sie vom Europaparlament als die erste von drei Regelungen verabschiedet wurde. Ihre Kritiker verurteilen die „Abschieberichtlinie“. Sie sehen sich mit einer Verschärfung des Einwanderungsrechts konfrontiert, die die Europäische Union weiter zur Festung der Wohlhabenden aufrüstet - auf Kosten der Menschenrechte derer, die ohnehin nichts haben.
18 und fünf
Die Entrüstung in Lateinamerika entzündet sich vor allem an zwei Zahlen: 18 und fünf. 18 – für 18 Monate Abschiebehaft. 18 Monate in Abschiebehaft sind das Maximum, das die Mitgliedstaaten zukünftig unter keinen Umständen überschreiten dürfen. Und fünf – für die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, ein fünfjähriges Wiedereinreiseverbot zu verhängen.
Mit einigem Recht kann man die Frage stellen, ob 18 Monate Gefängnisse eine angemessene „Strafe“ sind für ein „Delikt“, das aus wenig mehr besteht als der physischen Präsenz eines Menschen in einem bestimmten Land. Der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, José Miguel Insulza stellt genau darauf ab. Und Danilo Arbilla, Kolumnist der Wochenzeitung „Busqueda“ aus Montevideo, Uruguay, befindet nüchtern: „Europa (...) sperrt Menschen für mehr als ein Jahr ein, deren einzige Verfehlung es ist, Arbeit finden zu wollen“.
Aus menschenrechtlicher Sicht sind dies Fragen, die sich das reiche Europa zunehmend stellen sollte. Nicht nur deshalb, weil das Mittelmeer tagtäglich zu einem schaurigen Friedhof all derer verkommt, die Europa als ihre letzte Hoffnung ansehen. Sondern auch, weil die Doppelmoral in Bezug auf illegale Einwanderer, die es in Europa gibt, nicht mehr länger hinnehmbar ist. Viele von ihnen werden in der Illegalität als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Illegalität bedeutet, dass sie keine Sozialvorsorge und Absicherung haben. Es bedeutet aber auch, dass die Sozialsysteme, die es in Europa gibt, nicht von ihnen mitfinanziert werden.
Was allerdings in der Lautstärke der Kritik aus Lateinamerika überhört zu werden droht, sind die Feinheiten, die das umstrittene neue Regelwerk gerade insofern aufweist, als es den Versuch einer einheitlichen und transparenten Regelung der Materie darstellt. Man kann den Aufenthalt von Menschen nicht legalisieren, indem man dafür keine Regeln aufstellt. Man braucht Sanktionsmöglichkeiten für die Fälle, die die Regeln umgehen. Und auf die humanitäre Katastrophe, die sich tagtäglich im Mittelmeer abspielt, hat die Direktive aus Brüssel unmittelbar gar keinen Enfluss. Sie bedarf einer etwas differenzierteren Betrachtung.
„Schande“ oder Rechtssicherheit?
So ist das fünfjährige Wiedereinreiseverbot keinesfalls der Regelfall, wie in Lateinamerika dieser Tage oft suggeriert wird. Es ist vielmehr an den Tatbestand geknüpft, dass jemand eine „schwerwiegende Gefahr“ für die öffentliche oder nationale Sicherheit darstellt. Zur Überprüfung dieser Frage steht der Weg vor die Gerichte offen.
Es ist auch nicht so, wie der Bolivianische Präsident Evo Morales in seinem Brief an Europäische Zeitungen der letzten Woche suggeriert, dass „die Richtlinie der Schande“ generell eine Abschiebehaft von bis zu 18 Monaten vorsieht. Die Dinge sind ein wenig komplizierter. So ist die Möglichkeit, 18 Monate Abschiebehaft zu verhängen, an Ausnahmetatbestände geknüpft. Die gesetzlich vorgesehene maximale Haftzeit sind sechs Monate. Die Richtlinie stiftet insofern Rechtssicherheit, als sie in neun Mitgliedstaaten der EU, die bisher überhaupt kein zeitliches Limit zur Abschiebehaft hatten, unter ihnen zum Beispiel Großbritannien, erstmalig gerichtlich einklagbare Standards setzt.
Das gilt insbesondere für die Rechtsstellung von besonders Schutzbedürftigen. So darf Abschiebehaft für Minderjährige, die ohne Begleitung von Erwachsenen nach Europa gekommen sind, künftig „nur im äussersten Falle und für die kürzestmögliche angemessene Dauer" verhängt werden und im Falle einer Abschiebung sind die zuständigen Behörden dazu verpflichtet, sich zu vergewissern, dass das Kind in seinem Heimatland von einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat in Empfang genommen wird.
Auch wenn die Sprache der Direktive bei diesen Garantien allzu oft im vagen Bereich des „sollen“ verbleibt – wer sie in die Kategorien „schwarz“ oder „weiß“ zu pressen versucht, wird ihr nicht gerecht.
Im Zentrum der Kritik – eine große Enttäuschung
Im Zentrum der Kritik aus Lateinamerika steht eine große Enttäuschung. Es ist die Enttäuschung darüber, dass die Richtlinie aus der lateinamerikanischen Perspektive für die historische Vergesslichkeit eines Europas spricht, dessen Geschichte eng mit der Lateinamerikas verwoben ist. Eine Geschichte, die für viele hier für eine besondere Nähe zwischen Europa und Lateinamerika steht, aus der für die Europäer eine Anhörung der lateinamerikanischen Position und ein Gefühl der Verantwortlichkeit ausgehen sollte. Niemand hätte den europäischen Einwanderern Steine in den Weg gelegt, als sie im 19. und 20. Jahrhundert wegen Hungersnöten, Verarmung und Massenvertreibung in Südamerika einen Neuanfang machen wollten, hieß es denn auch auf der Abschlusserklärung zum 35. Gipfeltreffen der Mercosur-Staaten in Tucumán am Dienstag vergangener Woche. Ob man das denn nun alles plötzlich vergessen habe? „Wir haben sie doch alle mit offenen Armen bei uns empfangen“, sagte der uruguayische Präsident Tabaré Vázquez.
Wie jedoch Leonardo Pereyra in der Tageszeitung „El Observador“ aus Uruguay in der Ausgabe vom zweiten Juli 2008 (Actualidad, Seite 4) zutreffend darlegt, ist die Migration damals mit der heute nur bedingt zu vergleichen. So ist zumindest für die Einwanderung im 19. Jahrhundert zu konstatieren, dass die Europäer nicht nur kamen, um „Bodenschätze auszubeuten (...) auf Kosten der Eingeborenen“, wie Evo Morales in seiner Anklage schreibt. Viele Europäer halfen auch dabei, hier leere Landstriche zu bevölkern und zu bewirtschaften. Pereyra zeigt zum Beispiel auf, dass sich Uruguay im Jahre 1853 gezielt um die Einwanderung von Schweizern und Deutschen zur Förderung der Landwirtschaft bemühte. Der Fall Uruguay, so Peyrera, sei „archetypisch“ für ein Land Lateinamerikas, das aus der Zuwanderung unmittelbaren Nutzen gezogen hätte. Auch bleibe bei der derzeitigen Debatte unerwähnt, dass einige Länder Europas sich „großzügig gezeigt“ hätten bei der Aufnahme von Menschen, die in den 70er und 80er Jahren vor den Militärdiktaturen in Lateinamerika hätten fliehen müssen.
Großes Misstrauen wird der neuen Direktive aus Brüssel gerade auch deshalb entgegengebracht, da sie in eine Zeit fällt, in der sich Europa um eine Freihandelszone mit der Andengemeinschaft – bestehend aus Bolivien, Kolumbien, Ecuador und Peru – bemüht. Ausgerechnet jene Freizügigkeit, die die EU den Migranten vorenthalte, fordere sie in Lateinamerika für ihre Waren und Finanzströme, lautet der Vorwurf. Nicht nur linksgerichtete Politiker wie Evo Morales und Hugo Chávez sehen darin eine Doppelmoral. Auch der Senator Sergio Abreu, der dem „Partido Nacional“ angehört, nannte die Richtlinie „eine Politik, die der Waren- und Personenverkehrsfreiheit zuwider läuft“.
Es fehlt: Der Blick für das Ganze
Ein differenziertes Verständnis der Direktive indes droht über die Emotionalität des Themas auf der Strecke zu bleiben. So findet beispielsweise nirgendwo Erwähnung, dass die neue Regelung nur eine von drei Richtlinien ist, die das Europaparlament in den kommenden Monaten zur Migrationspolitik verabschiedet. Sie ist nur ein Teil eines größeren Gesetzgebungsprojektes, dessen Ziel es ist, Menschen aus der Illegalität zu holen und eine gemeinsame Europäische Migrationspolitik zu entwickeln. Im Zuge dessen wird das sensible Thema der Abschiebung durch zwei weitere Richtlinien ergänzt: In der einen geht es um Sanktionen gegen Arbeitgeber, die illegale Einwanderer beschäftigen. Die andere wird die Schaffung einer einheitlichen Arbeitserlaubnis für das EU-Gebiet zum Inhalt haben. Dabei geht es um die so genannte „Blue-Card“, die die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland erleichtern soll, die europäische Version der US-Amerikanischen Green Card.
Noch Zeit für den Dialog
Ob diese Neuerungen dann ebenfalls als „Richtlinien der Schande“ bezeichnet werden, sollte doch erst einmal abgewartet werden. Lateinamerika jedenfalls täte gut daran, wenn es jetzt nicht der verletzten Eitelkeit oder einem diffusen Gefühl der Zurückweisung hingeben würde. Aufgrund der demographischen Misere, auf die Europa zusteuert, ist es auf Einwanderung angewiesen, wenn es seinen Wohlstand halten möchte. Europa und Lateinamerika sollten ihre engen historischen Bünde dazu nutzen, um gemeinsam eine Lösung des Einwanderungsproblems anzugehen. Wer kommen sollte, unter welchen Umständen und wie sich die Frage der Warenverkehrsfreiheit mit der Frage der Freizügigkeit der Personen verbinden lassen kann – all dies sind die Fragen, denen mit Allgemeinplätzen wenig gedient ist. Ihre Beantwortung verlangt einen differenzierten Diskurs sowie Verständnis für die Positionen der jeweils anderen Seite. Das Beispiel des Engagements Spaniens in den letzten Tagen zeigt, dass die Pläne zur Einwanderungspolitik unter der französischen EU-Ratspräsidentschaft durchaus noch verhandelbar sind. Lateinamerika sollte dies ein Ansporn sein. Die Zeit für den Dialog ist jetzt.
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