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„Auch unter den schlimmsten Umständen kann man jemand Anderem noch helfen“

Die Holocaust-Überlebende Hélène Gutkowski im Gespräch mit Schülern der Pestalozzi-Schule

Hélène Gutkowski ist gerade einmal zwei Jahre alt, als sie ihr „erstes Wunder“ erlebt. Das Datum hat sie bis heute nicht vergessen. Es ist der 16. Juli 1942, und Hélène, das Kind aus einer polnisch-jüdischen Familie, lebt in Paris, im von den Deutschen besetzten Frankreich. Und nun rennen die Nazis durchs Treppenhaus und klopfen an Türen. Große Razzia, heißt es, grande rafle. Aufmachen!

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Hélène Gutkowski ist gerade einmal zwei Jahre alt, als sie ihr „erstes Wunder“ erlebt. Das Datum hat sie bis heute nicht vergessen. Es ist der 16. Juli 1942, und Hélène, das Kind aus einer polnisch-jüdischen Familie, lebt in Paris, im von den Deutschen besetzten Frankreich. Und nun rennen die Nazis durchs Treppenhaus und klopfen an Türen. Große Razzia, heißt es, grande rafle. Aufmachen!

Im Klassenzimmer sind 40 Pestalozzi-Schüler, 16 und 17 Jahre alt, und hören zu. Lidia Assorati, Mitarbeiterin der Raoul Wallenberg Stiftung, hat Hélène Gutkowski vorhin hinein begleitet und vorgestellt. Assorati organisiert seit dem vergangenen Jahr gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung Treffen, bei denen Holocaust-Überlebende und Jugendliche ins Gespräch kommen.

Dabei hat Hélène Gutkowski lange gezögert. „Ich wollte eigentlich meine Geschichte nicht erzählen“, sagt sie. „Sie ist für meine Familie gut ausgegangen, deshalb war ich der Meinung, dass sie nicht erzählenswert sei.“ Viele andere Geschichten aus dieser Zeit des Mordens, sehr unglückliche und traurige, konnten allerdings auch nie erzählt werden.

Zurück nach Paris. Hélène Gutkowski erzählt, wie ihre Familie voller Angst still in der Wohnung wartet und nach draußen lauscht, wo die Nazis nacheinander an die Türen der Nachbarn klopfen, ja eher hämmern. Und es geschieht dieses Wunder: Hélène und ihre Familie, sie entgehen dieser Razzia. Es ist reiner Zufall, dass eben ihre Wohnungstür verschont bleibt.

Und doch beschließen die Eltern, nicht in Paris zu bleiben. Es erscheint ihnen am sichersten, ihre jüngste Tochter zu einer katholischen Familie zu geben. Sie glauben, Hélène habe so von allen die größte Überlebenschance. Einer Zweijährigen werden weniger Fragen gestellt.

Hélène Gutkowski fragt, ob die Schüler wüssten, was man unter einem „verlassenen Kind“ verstehe. Nun, sie sei ein solches Kind. Ihre Eltern fliehen zunächst mit dem neun Jahre älteren Bruder in den Süden Frankreichs. Hélène verbringt währenddessen drei Jahre bei der Familie Bruno in Villepinte, 20 Kilometer außerhalb von Paris. „Es gehört eine Menge Courage dazu, ein Kind zurückzulassen, um es zu retten. Ich bin meiner Familie dafür sehr dankbar.“ Hélène wird in Villepinte getauft und bleibt unentdeckt. Hélène spricht von ihrer Ersatzfamilie als ihren „Rettern“, deren Mut und Humanismus größer waren als alle Ängste, von den Nazis oder französischen Kollaborateuren entdeckt zu werden.

„Was hättet ihr gemacht? Hättet ihr eine jüdische Familie aufgenommen?“, fragt die Zeitzeugin, und als die Schüler nicht gleich antworten, fügt sie hinzu: „Macht euch keine Sorgen, ich weiß auch nicht, was ich getan hätte.“

Hélène und ihr Bruder erleben so zwei vollkommen unterschiedliche Geschichten: der Bruder bei seinen eigenen Eltern, jedoch immer in Angst lebend, und Hélène, von ihrer Familie getrennt, aber halbwegs sicher bei der katholischen Familie Bruno. Mit ihrem Bruder konnte sie später nie über diese Erlebnisse sprechen: „Es war für ihn zu schwer, er hat das Thema komplett vermieden.“

Hélènes Familie lebt ein Jahr im Süden Frankreichs, der nicht von den Deutschen besetzt ist, und beschließt dann, in den Norden zurückzukehren. Sie finden dort ebenfalls bei einer nicht-jüdischen Familie, den Degrémonts, ein Versteck. Als der Krieg zu Ende ist, holen die Eltern Hélène zurück.

Jedoch müssen sich die Eltern nach Ende des Krieges erst wieder in Paris etablieren, Wohnung und Arbeit finden, und sie bitten die Degrémonts, sich bis zur ihrer Einschulung um die Tochter zu kümmern. Interessant ist, dass Hélène diese Familie als ihre „ersten Eltern“ bezeichnet: „An die Brunos habe ich kaum Erinnerung, ich war noch so klein. Als ich bei den Degrémonts lebte, war ich bereits fünf Jahre alt.“ Noch bis sie 21 Jahre alt ist, bleibt sie in Frankreich. Dann verliebt sie sich in einen Argentinier und wandert mit ihm aus.

Am Ende wird sie von einem der Schüler gefragt, wie sie später die Militärdiktatur (1976 bis 1983) erlebt habe. Hat sie sich an die Kindheitsjahre erinnert gefühlt? „Ich hatte Angst“, sagt sie. „Einmal kam es sogar soweit, dass die Militärs meine Tochter beinahe mitgenommen hätten.“

Hélène Gutkowski setzt sich dafür ein, dass beide Retterfamilien, die Brunos und die Degrémonts, vom israelischen Staat als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet werden. Dies ist ein Ehrentitel für nicht-jüdische Personen, die während des Nationalsozialismus Juden geholfen haben. Bei den Degrémonts hat sie dies bereits erreicht. „Auch unter den schlimmsten Umständen kann man jemand Anderem noch helfen“, sagt sie.

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