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Länderberichte

Gespaltene Gesellschaft

von Kathrin Zeller

Eine Legende von guten und von schlechten Gangstern

Kurz vor dem Anpfiff der Fußballweltmeisterschaft häufen sich Berichte in der internationalen Presse über gewalttätige Ausschreitungen in den Städten Brasiliens, allen voran Rio de Janeiro. Einerseits bizarre Normalität, stellen die jüngsten Vorfälle auch ein Novum dar.

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Der Spiegel titelt “Tod und Spiele”, die FAZ schreibt “Zu Gast bei Chaoten”. Selbst Optimisten bezweifeln inzwischen, dass die beeindruckende Improvisationsfähigkeit der Brasilianer diesmal ausreichen wird, um deren mangelnde Planungskompetenz auszugleichen. Fast täglich erreichen neue Meldungen über Ausschreitungen und Schieβereien die Medien.

Schauplatz waren über lange Zeit die Peripherien der Stadt. Ende April änderte sich dieses Bild jedoch. Mitten in Copacabana, wo zu diesem Zeitpunkt wohl die größte Dichte an internationalen Journalisten im ganzen Land zu finden war, lieferte Brasilien einmal mehr die perfekte Kulisse für die internationale Berichterstattung im Vorfeld der WM2014. Gewehrsalven und Pistolenschüsse kamen vom Hügel Pavão-Pavãozinho, wenig später gefolgt von brennenden Barrikaden und komplettem Chaos. Ein junger Tänzer war kurz zuvor tot aufgefunden worden und löste Proteste wütender Bewohner aus.

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Eine Geschichte bizarren Alltags

In vielen Teilen der Stadt spielt sich seit Jahrzehnten ein urbaner Krieg ab. Der Großteil der Favelas ist seit den 1970er Jahren von einer der verschiedenen Drogenbanden der Stadt besetzt. Das älteste dieser Kartelle ist das so genannte Rote Kommando (Comando Vermelho) und hat seinen Ursprung noch in der Militärregierung Brasiliens. Politische Häftlinge waren damals zusammen mit simplen Kriminellen untergebracht worden. Viel Zeit und wenig Platz im Gefängnis hatte dazu geführt, dass sich Ideen der linksgerichteten Intellektuellen in politischer Haft, mit denen der gewöhnlichen Häftlinge mischten. So wurde die Militärjunta zum Geburtshelfer für eine Art Robin Hood-Kartell, welches, kaum auf freiem Fuß, das Kommando in zahlreichen Favelas der Stadt übernahm. Das Vakuum, das der Staat in der Sozialpolitik hinterlassen hatte, füllte das Rote Kommando über drogenfinanzierte Ersatzfürsorge. Legenden vom “Guten Gangster”, der die arme Bevölkerung seines ganz eigenen Hügels mit Medizin oder Gas zum Kochen versorgt, halten sich bis heute und werden gar als Literaturbestseller verkauft. Dort wo der Staat noch immer nicht präsent ist, besteht die Funktion des guten Gangsters weiter fort, wohl seltener aus dem Glauben an ein marxistisches Modell, doch aber, um die Bewohner der Miniaturdiktaturen in den Favelas bei Laune zu halten. So sorgt der Chef des Hügels für Ordnung, indem Überfälle oder Gewalttaten gegen Bewohner mit drakonischen Strafen bis zur Hinrichtung geahndet werden. Finanzielle Schäden durch Diebstahl, Krankheit oder Naturkatastrophen werden nicht selten aus den Millionen schweren Drogenbudgets erstattet; unabhängig davon, ob die Person in Drogengeschäfte verwickelt ist, oder nicht. Bezahlt wird durch Loyalität, Wegsehen und Respekt gegenüber den Regeln, die die lokale Gang diktiert.

Schwere Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Kartellen oder mit der Polizei waren bis vor wenigen Jahren an der Tagesordnung. In der Praxis hatte dies jährlich zu ca. 1000 Todesopfern allein durch Querschläger geführt. Leuchtend rote Punkte aus Maschinengewehrsalven waren am Nachthimmel immer dann zu sehen, wenn die Bosse der Hügel Feste feierten: Schüsse an Weihnachten, Geburtstagen oder an einem der unendlich vielen Todestage eines gefallenen “Kriegers” waren genauso normal wie Gruppen von Teenagern, die am helllichten Tag mit Gewehren bewaffnet durch die Straßen und Gassen der Favelas zogen, und die Regeln des Lebensalltags der Bewohner bestimmten. Zu Hochzeiten der Kartelle, die sich durch verschiedene Farben identifizieren, war ein falsches T-Shirt bereits tödlich. Bis heute riskieren unbeteiligte Bewohner der Favelas ihr Leben allein durch das Betreten von Gebieten, die sich in den Händen einer der gegnerischen Gruppen befinden.

Über Jahrzehnte hinweg verharrte die Gesellschaft in einer bizarren Normalität, an die sich die Geldelite durch kugelsichere Autos, die Bewohner der Armenviertel mit ohnmächtiger Duldung bis hin zur Kollaboration mit den Kartellen anpasste. Die Präsenz der Polizei beschränkte sich auf punktuelle Einsätze unter kriegsähnlichen Bedingungen, nur um den Schauplatz wenige Stunden später wieder sich selbst zu überlassen - bis zum Dezember 2008.

Erfolgsprojekt UPP

Die Wendung kam in Gestalt einer Hundertschaft von Polizisten, die eines Morgens schwer bewaffnet und unterstützt vom maskierten Sondereinsatzkommando BOPE sowie zahlreichen Helikoptern eine Favela stürmten, diesmal um zu bleiben. Die Befriedungseinheit UPP (Unidade da Polícia Pacificadora) “Santa Marta” in der Südstadt Rios brachte einen Paradigmenwechsel. Zuerst noch ungläubig bis misstrauisch beäugt, wuchs mit jeder weiteren besetzten Favela der Glaube daran, dass Normalität auch anders aussehen könnte. Mordraten sanken drastisch in den befriedeten Gebieten. Und auch die Bevölkerung, die sich im ersten Moment ohne die fragwürdige, aber wohl alternativlose Fürsorge der Drogenbosse wieder fand, erkannte die neue Lebensqualität. Kuriose Nebeneffekte, wie die Möglichkeit von Liebesbeziehungen über ehemals verfeindete Favelas hinweg, erschienen in den Medien. Auf den steilen Hügeln Copacabanas und anderorts eröffneten bald zahlreiche Restaurants und Hotels. Mit den Wachen der Drogenbosse an den Eingängen der Favelas war erstmals eine Barriere verschwunden, die so viele Jahre die Bevölkerung der Favelas von den unterhalb liegenden Wohnkomplexen getrennt hatte.

Vom Erfolg überzeugt, wurde das Projekt konstant weiter ausgebaut. Die Nachfrage nach Polizisten und anderer Infrastruktur stieg in diesem Zuge enorm und ist einer der Gründe dafür, warum das Projekt inflationäre Züge anzunehmen begann. Korruptionsskandale innerhalb der Einheiten und gewaltsame Übergriffe der Polizisten auf die Bewohner der Favelas ließen jedoch bald Zweifel am Erfolg des Projekts aufkommen. Zudem hatte die Massenmigration von Kriminellen zum Anstieg der Gewalt in anderen Teilen der Stadt und dem Bundesstaat geführt. Eine offizielle Forderung der Bürgermeister des Großraums Rios, bis auf weiteres keine neuen Gebiete zu besetzen, sondern zuerst die außer Kontrolle geratende Situation in den anderen Städten zu sichern, wurde vom damaligen Gouverneur des Bundesstaates, Sergio Cabral, jedoch abgelehnt.

Unruhen befallen inzwischen die UPPs selbst. Angriffe auf die Container der Polizei oder Patrouillen häufen sich zusehends. Zuerst noch als natürliche Resistenz und Akt der Verzweiflung der Kartelle interpretiert, hinterlassen die wachsenden Auseinandersetzungen inzwischen eher den Eindruck eines Kontrollverlusts der Polizei.

Sicherheitspolitik am Zenit

Inzwischen vergeht kaum ein Tag ohne Meldungen von verletzten Polizisten. Oft noch jung und unerfahren, ausgebildet im Schnelldurchlauf und mit einem Gehalt von weniger als 600 Euro, arbeiten die neuen Polizisten der UPPs teilweise unter miserablen Bedingungen: schlechte Mahlzeiten, Nachtschichten in engen Containern, immer im Fadenkreuz der Drogenbanden, die nun, mal mehr, mal weniger verdeckt, aber noch immer bewaffnet, die Hügel überwachen.

Der Alltag als Polizist in einem urbanen Krieg, der nicht selten das Leben von Kollegen fordert, und kaum von der Gesellschaft honoriert wird, ist mit verantwortlich für eine seltsame Mentalität der Polizei Rios. Brutal bis zur Illegalität, und doch in der Überzeugung, die eigene Integrität für den vermeintlichen Schutz des guten Bürgers zu opfern, feiert die Polizei die toten Gangster. Fotos von Polizisten, die mit ihren Opfern in allen erdenklichen Zuständen posieren, landen in Zeitungen und sozialen Medien. Hier sind die Reaktionen oft von Hohn begleitet. Kommentare wie “Einer Weniger” oder “Kugeln auf sie!” gehören noch zur harmloseren Art. Meldungen von verletzten oder toten Polizisten folgen Ankündigungen wie “Wir gehen erst zur Beerdigung unseres Freundes, wenn wir die des Feindes sicher gestellt haben”. Man sagt sich, die Rate sei eins zu vier: Ein toter Polizist wird mit vier toten Gangstern gesühnt. Der Krieg ist persönlich. Seit Januar dieses Jahres verloren 31 Polizisten im Bundesstaat Rio de Janeiro ihr Leben, rund sechs pro Woche wurden verletzt. 153 Personen wurden nach offiziellen Statistiken des Instituts für Innere Sicherheit ISP von der Polizei bei Einsätzen zwischen Januar und März getötet.

Verschlimmert wird die Situation durch ein Übel, das die gesamte brasilianische Gesellschaft durchzieht. Die Korruption bildet eine Brücke zwischen den beiden Lagern, die kurzfristige Friedensabkommen mit Geld und Waffen aushandeln. Zahlreiche Vorfälle von monatlichen Zahlungen der Drogenbosse an Einheiten der UPPs wurde im letzten Jahr bekannt. Vor der Besetzung von Hügeln im Zentrum Rios hatten Polizisten den Bossen selbst beim Abtransport von deren Waffen geholfen.

Gleichzeitig scheint eine kriminelle Parallelstruktur der Polizei, die so genannte Miliz, von demselben Vakuum zu profitieren. Bereits in den 1990ern hatten Polizisten und Feuerwehrmänner die fehlende öffentliche Struktur durch private Sicherheitsleistungen aufgefangen. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich jedoch eine brutale Mafia. Ganz im Zeichen der Mentalität des Rechts schaffenden Rächers, ist einer der bekanntesten Anführer unter dem Namen “Batman” bekannt. Nachdem zahlreiche Graffitis des Superhelden auf dem Hügel Pavão-Pavãozinho aufgetaucht waren, stellten lokale Medien Vermutungen an, die Gang sei hier ebenfalls aktiv. Die Miliz ist bis heute tief mit der Struktur der Polizei verwoben und kann möglicherweise durch die Ausbreitung der UPPs zusätzliche Territorien gewinnen.

Ebenfalls Teil des Problems ist die Justiz, wohl auch in Pavão-Pavãozinho in Copacabana. Vor einigen Monaten kehrte der ehemalige Chef des Hügels zurück, wo seitdem immer wieder kleinere Konflikte aufflammen. Am ersten Tag des halboffenen Vollzugs hatte der unter dem Spitznamen “Pitbull” bekannte Gangsterboss die Flucht ergriffen. Trotzdem bestätigte laut Medienberichten ein Gericht dessen Recht auf halboffenen Vollzug erneut. Inkompetenz als Grund zu vermuten, wäre hier das kleinere Übel. Die Polizei liefert sich unterdessen vereinzelte Gefechte, ohne den Flüchtigen bei einer der Gelegenheiten dingfest zu machen. Dabei sind einige Einheiten der Polizei Rios inzwischen sehr gut ausgestattet und ausgebildet. Das Sondereinsatzkommando BOPE trainierte in der Vergangenheit Squads in den USA, auch eine Drohne kommt zum Einsatz. Wo Prioritäten gesetzt werden sind die Mittel vorhanden, um punktuelle Einsatzziele zu erreichen.

Das Risiko größerer Auseinandersetzungen wurde in diesem Fall wohl unterschätzt oder, aufgrund von kaum einsehbaren Interessenkonflikten, hingenommen. Die mediale Steilvorlage, fußgängig erreichbar für Journalisten aus der ganzen Welt, markiert in jedem Fall eine Zäsur in der Sicherheitspolitik Rio de Janeiros. Bisher auf die Peripherien beschränkt, war die Regierung noch immer bemüht, von isolierten Brandherden in besonders schwierigen Gebieten zu sprechen. Derartige Auseinandersetzungen im Schaufenster der Stadt aufkommen zu lassen, ist jedoch ein Novum, das den Ernst der Lage offenbart.

Ein Volk hilft sich selbst

Im Alltag vermittelt die Polizei unterdessen der Bevölkerung den Eindruck, mehr an ihrem persönlichen Krieg, als am Schutz der Gesellschaft interessiert zu sein. Bei Diebstählen verschwindet nach dem Diebesgut auf der Straße, meist auch noch die Akte darüber unbearbeitet in den Schubladen der Bataillone. Polizisten im Einsatz auf den Plätzen der Stadt reagieren auf Hilferufe oft mit kaum mehr als einem müden Kommentar, man habe keine Erlaubnis, sich von der Stelle zu entfernen.

Allein gelassen zwischen den Fronten, beginnt die Bevölkerung unterdessen sich selbst zu helfen. Auf Überfälle, die mit den durch die UPPs arbeitslos gewordenen Drogenbossen seit Monaten dramatisch zunehmen, reagiert die Bevölkerung mit Selbstwehr. Fälle von Dieben, die von Passanten gefasst, und nackt an Straßenposten gefesselt oder nur durch Eingreifen der Polizei vom Tod durch Tritte gerettet werden können, werden zunehmend in den Medien bekannt. Lynchmorde sind in Brasilien jedoch auch keine Seltenheit bei Unfallfahrern oder Minderheiten wie Transsexuellen. Ein Mob aus wütenden Anwohnern erschlug diesen Mai eine Frau im Bundesstaat São Paulo, und dies lediglich aufgrund eines Gerüchts auf Facebook und anderen Medien, sie habe mit schwarzer Magie zu tun. Brasilianische Experten erklären die Reaktion mit der Annahme, die Bürger fühlten sich von der Justiz im Stich gelassen. Zusätzlich spielt jedoch wohl noch ein weiterer Faktor eine Rolle.

Applaus für die Gewaltbereitschaft der Polizei hallt durch die sozialen Medien, durch Grillfeste unter Freunden und Familien, oder politische Reden. Die Hemmschwelle der Gesellschaft zur Anwendung von Gewalt liegt extrem niedrig und ist Symptom eines Traumas des Jahrzehnte währenden urbanen Krieges und der Straflosigkeit. Während es in Europa keine Seltenheit ist, als 20-jähriger noch nie einen toten Menschen gesehen zu haben, sind die Bewohner der Favelas konstant mit einer Auseinandersetzung konfrontiert, die nicht nur vor ihrer Tür statt finden. In Form von Querschlägern, gewaltbereiten Dealern und Polizisten dringt der Krieg bis in deren Häuser ein, fordert Opfer in Familie und Freundeskreis. Die Bewohner der reicheren Viertel sehen sich zur gleichen Zeit konstant der Bedrohung von Überfällen oder Entführungen ausgesetzt, und verbarrikadieren sich hinter den Mauern der Wohnkomplexe. Wer nicht selbst von Gewalttaten betroffen ist, kennt jemanden im näheren Umfeld. Eine ständiges Gefühl von Unsicherheit, das die Menschen dazu bringt, auf Bewegungen anderer Passaten zu achten oder in Panik auszubrechen, wenn schwarze Kinder durch Straßen rennen, wird weiter genährt von einer sensationsorientierten Presse, die jeden Tag die absurdesten Fälle und ihre Opfer in noch bizarrerer Eindeutigkeit zu Schau stellt.

„Ein guter Gangster ist ein toter Gangster“- Gespaltene Gesellschaft

Bereits in der Schulzeit wachsen die sozialen Klassen getrennten voneinander in öffentlichen und den besseren privaten Schulen auf. Die soziale Mobilität ist gering, Klassenzugehörigkeit perpetuiert sich noch immer, auch wenn Millionen von Menschen als Gesamtklasse zu einer neuen Mittelschicht aufgestiegen sind. Trotzdem bestehen Vorurteile weiter und ein Mangel an gesellschaftlicher Solidarität legitimiert oft Forderungen nach kurzfristiger Linderung von Symptomen, anstatt gemeinsam für tiefgreifende Reformen einzutreten.

Auch im Fall des toten Tänzers waren die Urteile schnell gefällt. Jahrelange Erfahrung hat die Bewohner der Favelas gelehrt, wozu die Polizei im Stande i st. Statistiken von Verschwundenen, gerade auch in den UPPs, geben genug Grund zur Annahme, dass auch diesmal ein unschuldiger junger Mann, der zur falschen Zeit am falschen Ort war, zu einer Nummer in der enormen Statistik junger schwarzer Männer wird, die der Polizeigewalt zum Opfer fallen. Im ersten Quartal des Jahres 2014 verschwanden im Bundesstaat Rio 1.758 Menschen. Während hier diejenigen Fälle nicht berücksichtigt sind, die im Nachhinein wieder auftauchen, spricht eine weitere Zahl eine klare Sprache: im selben Zeitraum wurden 185 Leichen sowie 8 Überreste in Form von Knochen aufgefunden. Wo Opfer vergraben, verbrannt, in Mülltonnen oder der Bucht von Guanabara entsorgt, oder schlicht von einem Hügel zum nächsten gekarrt werden, verkommen Statistiken zu Annäherungswerten. Die Bewohner der Favelas finden sich unterdessen in einer neuen Struktur der UPPs wieder, die immer mehr zu bloßen Fassaden verkommen. Die Regeln der Favelas werden nun von zwei Seiten aufgestellt. Gesprächen mit Polizisten folgen Morddrohungen, Verdacht der Polizei auf Verbindungen zu den Drogendealern dasselbe. Die Strukturen von damals, die auf ihre Weise ein Stück Sicherheit boten, weichen einem chaotischen Zustand, dessen Opfer erneut die Bewohner der Favelas sind.

“Menschenrechte für rechtswürdige Menschen” hallt es von der anderen Seite des Abgrundes herüber, der die brasilianische Gesellschaft seit langem trennt. Wer falsch handelt verliert demnach jedes Recht auf Menschenrechte durch die Untergrabung der Rechte der Gesellschaft. Gnade finden selbst die vielen Kinder und Jugendlichen nicht, deren juristische Unbelangbarkeit von den Kartellen zur Ausführung von kriminellen Delikten genutzt wird. Die Erfahrung hat auch diese Seite gelehrt. Wer etwas besitzt, befindet sich konstant in einem Zustand der Bedrohung. Zur Rechenschaft gezogen wird fast keiner, die Aufklärungsrate für Morde liegt unter fünf Prozent. Die enorme Frustration infolge dieser Straflosigkeit mündet im Hass gegen eine ganze Bevölkerungsschicht, die zum großen Teil nicht in die kriminellen Machenschaften der Kartelle verwickelt ist. Der Unmut der Mittel- und Oberschicht entlädt sich in einem Generalverdacht gegenüber den Bewohnern der Hügel. Eine Schablone, die Gut und Böse trennt, lässt sich jedoch kaum anlegen, wo Freundschaften oder Familien zwischen Arbeitern und Drogenbanden die Grenzen verwischen. Der öffentliche Diskurs in Brasilien reproduziert noch immer antagonistische Stereotypen; wie auch am Hügel der Copacabana. Kaum war die Todesnachricht des jungen Tänzers in der Presse angekommen, überschlugen sich die Kommentare in den sozialen Medien. Einige versichern, der Tänzer sei ein weiteres Opfer der brutalen Polizei. Andere hingegen bekräftigen, dass der 26-jährige sicher selbst mit dem ansässigen Kartell verbunden sei. Wenige fordern, dass die Polizei den Fall erst einmal aufklären sollte. Kaum jemand fragt nach der eigentlichen Legitimität der Tötung eines Menschen. Das Gangsterkriterium allein entscheidet. “Ein guter Gangster ist ein toter Gangster”, so der nahezu einheitliche Tenor. Besser, die schlechten Elemente der Gesellschaft würden direkt eliminiert, als diese in Gefängnissen zu unterhalten, und dann beim ersten Freigang zurück auf den Straßen zu treffen. Besser einer von ihnen, als noch ein toter Polizist. Und generell: Eben einer weniger. Seit vielen Jahren zitiert, diente der Satz mehrfach als Wahlslogan. Der spätere Abgeordnete Sivuca, beispielsweise, bekam enormen Zuspruch. “Mutig”, so hört man, wer ausspreche, was so viele denken.

Die Sicherheit während der Weltmeisterschaft

Unabhängig vom Ausgang des Projekts UPP bleibt trotz allem schon jetzt ein Vermächtnis zurück: Die Gewissheit, dass das Friedensprojekt möglich ist. Die Proteste im Juni vergangenen Jahres waren ein klares Signal, dass es in der brasilianischen Gesellschaft rumort. Unerfüllte Versprechen über die Modernisierung des Landes im Zuge der Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft, Misswirtschaft, Korruption und mangelnde Daseinsvorsorge des Staates sind einige der Gründe, die den Missmut soweit auf die Spitze trieben, dass sogar die ansonsten fast harmoniesüchtigen Brasilianer ihre Wut auf die Straße trugen.

Der Wandel der Gesellschaft, deren Mittelschicht sich zunehmend vergrößert, bringt natürlicherweise Friktionen mit sich. Die Suche nach einem neuen Gesellschaftsmodell wirft Fragen über die Rolle der Eliten sowie der neuen Mittelklasse auf, die erst lernt, ihre Forderungen konstruktiv zu artikulieren. Vorzugsweise Studenten waren bisher die Träger der massiven Proteste, die Millionen auf die Straßen brachten. Aber auch andere Teile der Bevölkerung haben inzwischen gelernt, die Weltpresse, die im Zuge der Weltmeisterschaft nach Brasilien schaut, als Megaphon für ihre Zwecke zu nutzen. Es bleibt daher wahrscheinlich, dass auch während der Weltmeisterschaft Proteste stattfinden werden.

Eine zweite Art des Aufruhrs entsteht momentan durch die anstehenden Wahlen im Oktober. Einigen potentiellen Kandidaten für das Amt der Gouverneurs des Bundesstaates Rio de Janeiro wird nachgesagt, Proteste und Angriffe auf die UPPs zu forcieren, um die derzeitige Regierung zu destabilisieren. Von verschiedenen Seiten kündigte das anarchistisch geprägte Netzwerk Black Blocs zudem an, bei der WM für Chaos sorgen zu wollen.

Die Sicherheit der Fans wird damit wohl trotzdem weniger bedroht sein, als das Image des Landes. Ein riesiges Aufgebot des Militärs wird die Polizei verstärken und die Städte sowohl vor Anschlägen der Drogenkartelle, als auch vor Protesten der eigenen Bevölkerung schützen. Dass sich Szenen in Copacabana wiederholen, ist daher eher unwahrscheinlich. Auch Pitbull, oben auf dem Hügel von Pavão-Pavãozinho, wird wohl unter der Präsenz des Militärs kaum in der Lage sein Unfrieden zu stiften. Im Zweifelsfall stehen Sondereinsatzkommandos wie das BOPE bereit, welches darauf trainiert ist - teils unter Anwendung bedenklicher Methoden - zügig durchzugreifen. Auch Übereinkünfte zwischen der Polizei und den Kartellen sollen schon genutzt worden sein, um kurzfristig Frieden in der Stadt zu schaffen.

Aussicht

Ein Moment der Unruhe bietet letztlich immer auch die Möglichkeit zur Neuausrichtung. Eine Evaluierung des Projekts, sowohl aus sicherheitspolitischer Perspektive, als auch bezüglich der wenig intensiven Investitionspolitik in Bildung und soziale Sicherung, könnten das Fortbestehen der UPPs sichern. Der erste Schritt ist sicher mit der aktuell gesellschaftsweiten Diskussion getan. Welche Konsequenzen aus der Unzufriedenheit gezogen werden, entscheidet letztlich heute darüber, welchen Entwicklungspfad das Brasilien von morgen beschreiten wird.

Dialog und Solidarität zwischen den Klassen wären ein Anfang für einen gesellschaftlichen Konsens, anstatt in einer Debatte um gute oder schlechte Gangster zu verharren. Sowohl die Bewohner der Favelas, als auch die Mittel- und Oberklasse können ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Sicherlich sind die Möglichkeiten, sich gegen die Drogenbarone als Bewohner der Favelas zu wehren, sehr beschränkt. Und auch soziologische Entwicklungsbarrieren durch Traumata, fehlender Weitsicht aufgrund der schlechten Bildung untern anderen Faktoren, hemmen die Möglichkeiten der ärmeren Bevölkerung. Trotzdem perpetuieren Faktoren wie die Glorifizierung von Drogendealern oder Vernachlässigung von Schulbildung den Platz der Favelas in der Peripherie der Gesellschaft. Unterdessen floriert der Handel mit Drogen weiter, der zu einem großen Anteil auf den Konsum derjenigen gehobenen Mittel- und Oberklasse zurückgeht, die sich als Opfer der Drogenkartelle wähnen. Damit schließt sich der Kreis. Der “Koks-Service” von Pavão-Pavãozinho kommt frei Haus per Motorradtaxi. Ein solches soll auch der nun verstorbene Tänzer gehabt haben, so hört man in Gerüchten der Stadt.

Ob die Ausrichtung der Weltmeisterschaft letztlich als Erfolg im Bereich der öffentlichen Sicherheit gewertet wird, hängt davon ab, welchen Maßstab sich das Land anlegt. Sollte das Kriterium allein die öffentliche Ruhe während des Events sein, so besteht wohl noch einige Hoffnung auf Erfolg. Trotzdem hat das Image des Landes bereits jetzt Schaden an der Berichterstattung im Vorfeld erlitten. Anstatt endlich althergebrachte Stereotypen eines Landes zwischen Fußball, Samba und Gewalt auszuräumen, liefert Brasilien einmal mehr die Substanz für den Erhalt dieses Bildes. Die größte Chance des Projektes UPP, sowohl die Stadt als auch die verschiedenen Teile der Gesellschaft miteinander zu versöhnen, scheint inzwischen jedoch in weiter Ferne.

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