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Länderberichte

Too Big To Fail?

von Kathrin Zeller, Gregory Ryan

Schwankende Wirtschaft in Brasilien

Erst hochgelobt, dann fast belächelt. Die Berichterstattung über die brasilianische Wirtschaft schwang innerhalb weniger Monate von einem Extrem ins andere. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wähnt das Land seither gar im Visier von Schwarzmalern, die die Hoffnungen des Landes auf Fortschritt schmälern wollten. Unterdessen sorgt die Deutsche Bank für zusätzliche Verwirrung, indem sie dem Land am Amazonas ein höheres Wachstum als dessen eigene Zentralbank prognostizierte. Wo steht das Land denn nun tatsächlich? Und welche Rolle wird es künftig spielen?

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In den vergangenen Jahren galt Brasilien als Aufsteiger. Zusammen mit anderen Schwellenländern wie Russland, Indien oder China, die kurz darauf unter dem Siegel BRICS-Staaten liefen, sollten die neuen Akteure die Weltbühne nicht nur beschreiten, sondern drastisch verändern. Mit Wachstumsraten von gut 5 Prozent bis 2008 hatte Brasilien bereits begonnen den Erwartungen als BRICS-Staat gerecht zu werden und gewann auch mit dem medienaffinen Präsidenten Lula da Silva zusehends an Präsenz auf der Weltbühne. Die Wirtschaftswelt nahm jedoch vor allem zur Kenntnis, dass das Land nicht nur als letztes in die internationale Krise geraten war, sondern auch als eines der ersten wieder heraus kam. Im Jahr 2009 als Überflieger auf dem Titel des Economist, war Brasiliens Wirtschaft der neue Darling internationaler Analysten. Endlich beginne das Land sein Potential zu nutzen, so die These des Magazins. 2010 legte Brasilien dann mit starken 7,5 Prozent Wachstum nochmal nach. Die internationale Presse lobte das Land in den höchsten Tönen, alle Zeichen standen auf Erfolg. Der kurzfristige Aufstieg zur fünftgrößten Wirtschaft der Welt Anfang diesen Jahres wurde in Brasilien mit großer Genugtuung wahrgenommen. Der Ruhm sollte jedoch von kurzer Dauer sein und nach einigen Wochen rutsche das Land zurück auf Platz sechs. Bereits im Jahr 2012 hatten sich erste Zweifel an der Nachhaltigkeit des brasilianischen Wachstums breit gemacht. Die Financial Times schrieb vom Hühnerflug der brasilianischen Wirtschaft, die kaum nach dem Abheben schon wieder abstürze. Während China weiter mit den Schwingen eines Kondors flöge, seien in Brasilien Stimuli zur Überwindung der Krise ausgereizt. Steigende Inflation und der immer teurere brasilianische Real führten laut der FT zum Sturzflug. Während sodann Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff mit ausgestrecktem Zeigefinger Reden vom internationalen Währungskrieg schwang, der das Wachstum Brasiliens knebele, begann die brasilianische Presse bereits die viel tiefer liegenden strukturellen Probleme des Landes zu analysieren.

Brasilien verschuldet sich

Der Aufruf zum Konsum des damaligen Präsidenten Lula und zahlreiche Programmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise 2009 vermochte die Binnenwirtschaft auf ein Allzeithoch zu treiben. Für die Ohren deutscher Sparer mag der Appell zum Geld ausgeben seltsam klingen. Traditionell hat Brasilien jedoch ein weitaus schwächer ausgeprägtes Sparverhalten als Deutschland und der Kauf auf Raten in bis zu 24 Monaten auch für kleinere Produkte wie Schuhe oder Bücher ist noch relativ normal. Gleichzeitig hatte sich jedoch auch der Markt für Kreditkarten enorm ausgeweitet und heute ist bereits jeder zweite Brasilianer Besitzer einer solchen. Millionen von Menschen, die vor kurzem noch unter der Armutslinie lagen, begannen Handys und Flachbildfernseher über jahrelange Kredite zu erstehen. Was kurzfristig funktioniert haben mag, baut sich jedoch inzwischen zu einer ernsthaften Bedrohung für die Solvenz der Privathaushalte auf. Nach dem Ende der Krise wurde die Stimulierungspolitik der privaten Nachfrage kaum revidiert und einige der Programme steuerreduzierter Produkte wie Kühlschränke und Autos laufen noch immer. Der Prozentsatz von verschuldeten Haushalten ist laut einer Umfrage der nationalen Konföderation für Handel von Gütern, Dienstleistungen und Tourismus CNC innerhalb eines Jahres von bereits 57,6 Prozent im Juli 2012 auf 65,2 Prozent diesen Juli gestiegen. Damit müssen 29,2 Prozent des Einkommens brasilianischer Familien für die Tilgung von Schulden aufgewendet werden. Die Annahme, dass durch diese Entwicklung auch der Binnenkonsum nicht auf gleichem Niveau gehalten werden kann, bestätigt sich durch eine weitere Umfrage der CNC, die einen Rückgang der Konsumintention um 4 Prozent feststellt.

Damoklesschwert Inflation

Auch Maßnahmen zur Verbilligung von Krediten wurden getroffen. Der brasilianische Leitzins sank von 12,25 Prozent im Jahr 2011 auf 7,25 Prozent in 2012 und befand sich damit auf einem Allzeittief. Brasilien hatte während der 1990er Jahre noch mit einer Hyperinflation und einem Leitzins weit über 30 Prozent gekämpft und ist daher ein gebranntes Kind. Während mit der Zinssenkung sodann ein euphorisches „Endlich“ in aller Munde war und der Tiefstand als eine Art erster Schritt zur Befreiung einer historischen Last gefeiert wurde, standen einige Skeptiker der Entwicklung recht verhalten gegenüber.

Mit der Tiefzinspolitik war nicht zuletzt auch die Priorisierung der Inflationsbekämpfung aufgegeben worden. Stattdessen hatten sowohl der brasilianische Finanzminister Guido Mantega, als auch die Präsidentin Dilma Rousseff, im Hinblick auf den überbewerteten Real für die Senkung des Leitzinses geworben. Allein die Tatsache, dass die beiden Regierungsvertreter die Senkung als explizite Aktion der Regierung darstellen, ist, beiläufig erwähnt, bezeichnend für den Zustand der Unabhängigkeit der brasilianischen Zentralbank.

Mit einer Inflationsrate von bis zu 5,84 Prozent hielt die Zentralbank ihr Ziel für das vergangene Jahr zwar ein, kam der Dachmarke von 6,5 Prozent jedoch schon gefährlich nahe. Und auch im laufenden Jahr befindet sich der Wert noch innerhalb des Inflationsziels. Dies ist ironischerweise unter anderem auf die Massenprotesten vom vergangenen Juli zurückzuführen, die zahlreiche der anstehenden Preiserhöhungen wie der Bustarife verhinderten. Auch die Preise für Strom wurden über ein Subventionsprogramm erst kürzlich reduziert. Der zunehmende Konsumverdruss tut sein Übriges. Trotzdem hat die Regierung wenig Beinfreiheit und die Inflation schwebt wie das Schwert des Damokles über den Köpfen der politischen Entscheidungsträger, die für andere Bereiche Anpassungen angekündigt hatten. So wird eine Erhöhung der Benzinpreise zu Gunsten des halbstaatlichen Konzerns Petrobras schon seit Monaten hinausgezögert. Zusätzlich wird befürchtet, dass die Politik der US-amerikanischen Zentralbank FED und der steigende Dollar über das so genannte passtrough die ausländische Teuerung über Importe an Brasilien weiterreichen wird und damit ebenfalls auf die Inflation drücken könnte. Damit kam nun letztlich auch der Kurswechsel und die Regierung orientierte sich weg vom Währungskrieg und hin zu einer aktiven Bekämpfung des Inflationsrisikos. Der Leitzins wurde inzwischen wieder angehoben und liegt aktuell bei 8,5 Prozent. Da die Präsidentin stets betont in ihrer Amtszeit den niedrigsten Zinssatz der jüngeren Geschichte ermöglicht zu haben, ist laut Experten davon auszugehen, dass vor der Wahl Ende 2014 alles Mögliche getan werden wird, um zumindest nicht mehr in den zweistelligen Bereich zu kommen.

Die Entwicklungsbank BNDES

Große Mengen von Geld fließen unterdessen über Umwege an der Zentralbank vorbei in den Markt. Die brasilianische Entwicklungsbank BNDES, deren Auftrag die Förderung von Projekten zur Weiterentwicklung des Landes ist, vergibt inzwischen Milliardenbeträge an Großkonzerne, im vergangenen Jahr laut der Wirtschaftszeitung Valor Economico rund zwei Drittel des Gesamtbudgets. Werden die Mittel der Bank knapp, kann diese sich dank einer Sonderklausel direkt bei der Zentralbank mit frischem Geld versorgen. Unter den Begünstigten befinden sich nicht nur halbstaatliche Konzerne wie Petrobras, sondern auch Unternehmen wie Fiat oder die Fluggesellschaft Azul, die sich auch am regulären Kreditmarkt versorgen könnten. Im vergangenen Jahr hatte die Bank eine Rekordsumme von 50 Milliarden Euro vergeben und könnte die Marke in diesem Jahr noch toppen. Der Präsident der Bank, Luciano Coutinho, schließt inzwischen nicht mehr aus, dass die BNDES ab September abermals von der Zentralbank rekapitalisiert werden muss. Mansueto Almeida, Wirtschaftswissenschaftler des staatlichen Instituts für angewandte Wirtschaftspolitik IPEA, kritisierte bei einer Debatte in der Abgeordnetenkammer im August die fehlende Transparenz bei der Vergabe von Krediten der Bank. Verbindlichkeiten der Bank würden zudem durch die aktuelle Politik von der derzeitigen auf kommende Regierungen verschoben. Nicht zuletzt durch Fehlinvestitionen in Unternehmungen ohne wirtschaftlichen Erfolg verzeichnet die Bank 2012 einen um 9,55 Prozent geringeren Gewinn als im Vorjahr 2011. Moody`s stufte die Bank vergangenen März von A3 auf Baa2 herab, da sich der Zustand der Bank bezüglich ihres Kernkapitals verschlechtert habe.

Insgesamt steht die Nutzung der Bank symbolisch für eine Art Staatskapitalismus, der sich verstärkt seit der Krise 2009 bemerkbar macht. Nach einer Phase der Wirtschaftspolitik in den 1990er Jahren, die relativ nahe an der Idee einer sozialen Marktwirtschaft angelegt war, und große Teile der Wirtschaft privatisierte, herrscht nun in breiten Teilen der Bevölkerung die Überzeugung, dass der Staat an die Stelle des ausufernden Kapitalismus treten müsse. So bestimmt letztlich die Regierung anhand der Vergabe von Kreditlinien an Unternehmen über deren wirtschaftlichen Erfolg. Oft fließt statt ökonomischen Kriterien so politisches Kalkül in die Entscheidungen, was eine volkswirtschaftlich sinnvolle Allokation der brasilianischen Ressourcen beinahe unmöglich macht.

Investitionen mit dem linken Fuß

Nachdem das konsumbasierte Modell der letzten Jahre begann an seine Grenzen zu stoßen, kündigte Finanzminister Mantega im April ein neues Regierungsprogramm an, das 150 Milliarden Euro privater Investitionen für Infrastrukturprojekte mobilisieren soll. Das Investitionsvolumen Brasiliens von 18,1 Prozent des BIP liegt im regionalen Vergleich deutlich hinter Staaten wie Mexiko mit 20,7 Prozent oder Kolumbien mit 23,9 Prozent. Verglichen mit den anderen BRICS-Staaten wie Indien mit 29,9 Prozent und China mit 46,1 Prozent zeigt sich der Abstand sogar noch ausgeprägter.

Auktionen für Projekte wie Häfen, Fernverkehrsstraßen, Projekte für die Förderung von Öl, Gas und elektrischer Energie sowie Flughäfen und Bahnlinien sollen noch in diesem Jahr stattfinden. Damit geht Mantega einen der Punkte an, die der Economist 2009 noch als kritisch beurteilt hatte. Während andere Länder der BRICS-Staaten wie China bereits riesige Infrastrukturprojekte umsetzen, befindet sich die brasilianische Infrastruktur noch in einem geradezu prekären Zustand. Jedes Jahr verrotten so beispielsweise tausende Tonnen an Getreide auf den Feldern und in Lagerhallen, weil nicht genügend Transportkapazitäten zu den Häfen vorhanden sind. Während die Politik mit dem Versuch durch Investitionen die Infrastruktur zu stimulieren in die richtige Richtung zielt, zeigt die Umsetzung bereits erste Schwierigkeiten. Eine Auktion für den Bau eines Hochgeschwindigkeitszuges zwischen Rio de Janeiro und São Paulo wurde gerade verschoben, da die Regierung fürchtete nur einen einzigen Bewerber für die Konzession zu gewinnen. Skandalös ist dabei jedoch nicht etwa die in Brasilien viel zitierte Tatsache, dass rund 350 Millionen Euro Kosten entstehen, obwohl das Projekt nicht umgesetzt wird. Vielmehr lässt die Tatsache tief blicken, dass in einer Marktwirtschaft eine Zugverbindung, deren Strecke laut der jährlichen Studie des Amadeus Air Traffic Travel Intelligence den dritthöchsten Flugverkehr weltweit aufweist, nicht attraktiv für Investoren zu sein scheint.

In der Weltbankstudie Doing Business, die jedes Jahr Rankings für 183 Länder und deren Rahmenbedingungen für private Firmen erstellt, rutschte Brasilien in diesem Jahr um zwei Plätze nach unten auf Platz 130, kurz vor Ländern wie Nigeria auf Platz 131 oder dem Westjordanland und Gaza auf Platz 135. Danach muss ein Firmengründer 13 verschiedene Verfahren durchlaufen um nach durchschnittlich 119 Tage sein Geschäft eröffnen zu können. Beim Betrieb eines mittelgroßen Unternehmens fallen allein für das Bezahlen von Steuern rund 2600 Arbeitsstunden an. In Deutschland, welches innerhalb dieser Kategorie des Rankings ebenfalls nur auf Platz 72 landet, fallen nicht mehr als 207 Stunden an.

Die Falle des mittleren Wachstums

„Und fürs neue Jahr wünsche ich mir ein Riesen-BIP“, sagte die brasilianische Präsidentin noch nach den Feierlichkeiten des neuen Jahres. Nach einem Wachstum von 0,9% für das vergangene Jahr war der Wunsch durchaus angebracht, allerdings scheinen ihre Hoffnungen abermals enttäuscht zu werden. Nachdem im Vorjahr noch Prognosen von über 4 Prozent für 2013 gestellt wurden, musste der Wert fast monatlich nach unten korrigiert werden. Bereits Ende Mai hatte Mantega erklärt, die Wirtschaft befinde sich momentan auf einem Pfad, der Richtung 2,2 Prozent führe. Die Deutsche Bank hatte Anfang Juni noch auf Zuwächse aus den Auktionen des Infrastrukturpaketes gesetzt und ging trotz der pessimistischeren Haltung Mantegas von mindestens 3 bis sogar 3,75 Prozent aus. Woche für Woche ziehen jedoch mehr Wolken am brasilianischen Wachstumshimmel auf und auch die Abwertung des Real nimmt inzwischen beinahe besorgniserregende Züge an.

Trotz des ungenutzten Potentials und vieler versäumter Chancen steht Brasilien jedoch wohl eher nicht kurz vor einem wirtschaftlichen Absturz. Die wahre Gefahr droht viel mehr durch ein ewig mittelmäßiges Wachstum. Barry Eichengreen von der Universität Berkley sagte im Valor Economico diesen August, Brasilien könne dieser Gefahr durch besser kanalisierte Investitionen in Bildung und Infrastruktur entgehen. Mit dem neuen Investitionsprogramm ist ein erster Schritt getan, allerdings ist dies vielleicht doch nicht genug. Markus Jäger von der deutschen Bank plädiert daher für einen Strategietausch: Brasilien sollte sich am chinesischen Ersparnis- und Investitionsverhalten orientieren, während das chinesische Modell sich über mehr Konsum „brasilianisieren“ solle. So sieht auch Eichengreen noch einen Joker auf der Hand Brasiliens, nämlich dass die Investitionskarte, die China zweistellige Wachstumszahlen verschafft hatte, bisher noch nicht ausgespielt wurde. Die brasilianische Wirtschaft hat damit theoretisch gute Voraussetzungen. Beispiele wie das des Hochgeschwindigkeitszuges zwischen Rio und São Paulo lehren jedoch Vorsicht vor zu viel Optimismus. Ein realistisches Bild des Zustandes der brasilianischen Wirtschaft wird sich frühestens im zweiten Halbjahr 2014 zeigen, wenn die Wirtschaftpolitik nicht mehr vom Wahlkampf der Präsidentin und ihrer Koalition geprägt wird.

Trübe Aussichten auch im Bereich des Außenhandels

Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Weltbank wirft zudem ein ungünstiges Licht auf Entwicklungen im Bereich des Außenhandels. Demnach seien brasilianische Exporte in der vergangenen Dekade nur um den Faktor von 262% gewachsen, während die anderen BRICS Staaten, Indien, Südafrika, Russland und China, ihre Exporte um den Faktor von 439% erhöhen konnten. Brasilien gehöre damit zu den aufsteigenden Wirtschaftsmächten, die

am wenigsten vom Potential des Außenhandels profitieren konnten. So verwundert es nicht, dass der Bericht im weiteren feststellt, dass Brasiliens Handelsintegration in die globale Wirtschaft, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, zu den tiefsten der Welt gehöre und es auch keine Aussicht auf Besserung gäbe. So hätte der Handel im Jahre 2005 noch rund 29 Prozent der Gesamtwirtschaftsaktivität ausgemacht, und fiel anschließend im Jahre 2010 auf 23 Prozent. Noch beunruhigender hingegen ist die Entwicklung im Bereich der Hightech-Exporte. Laut des Berichts fielen diese frappant relativ zu den Gesamtexporten, von einem Anteil von 10.4 Prozent im Jahre 2000 auf 5 Prozent im Jahr 2010. In absoluten Zahlen seien diese Exporte zwar gewachsen, jedoch nur um bescheidene 36 Prozent. Zum Vergleich: Hightech Exporte expandierten im gleichen Zeitraum in Indien um 389 Prozent und in China um 873 Prozent. Brasilien läuft so Gefahr wie in vergangenen Zeiten zu einem bloßen Exporteur von Rohstoffen und Agrarprodukten zu verkommen, abhängig von einer kaum berechenbaren Rohstoffnachfrage von Ländern wie China. Die Handelsbilanz Brasiliens steuert unterdessen auf ein neues Rekordtief zu. Trotz einer Rekordernte der Landwirtschaft kaufte das Land zwischen Januar und Juli 3,75 Milliarden Euro mehr ein als es exportierte, der schlechteste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1959. Die Regierung erklärt den Negativrekord bisher mit Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und bürokratischen Neuerungen, die die Registrierung einiger Daten verzögert habe. Auch wenn davon auszugehen ist, dass der schwächelnde Real die Nachfrage nach Importgütern drosseln wird, gehen Analysten nicht davon aus, dass sich die Tendenz über das Jahr beträchtlich verändern werde. Insgesamt setzt sich die Tendenz eines schrumpfenden Anteils Brasiliens am Welthandel fort. José Augusto de Castro, Präsident der brasilianischen Vereinigung für Außenhandel AEB sieht bereits eine weitere Senkung für dieses Jahr von auf nur 1,25% des Welthandels. Eine Sonderkommission soll nun untersuchen, wie Brasilien sein Potential besser nutzen könne. Castro verweist dabei auf China, das über die Weiterverarbeitung von Rohstoffen zusätzlichen Wert für die Volkswirtschaft generiere. Rund die Hälfte des brasilianischen Exports besteht bisher aus unverarbeiteten Rohstoffen. Selbst Deutschland setzt mit Kaffe beinahe genau soviel um wie das Kaffeeland Brasilien mit dem Export der rohen Bohnen. In 2012 lag Brasilien mit ca. 4,7 Milliarden Euro nur knapp vor Deutschland, das durch den Reexport von geröstetem Kaffe rund 4,3 Milliarden Euro umsetzen konnte.

Brasilien und das geplante EU-USA Freihandelsabkommen

Die geplante EU-US Freihandelszone, die von Barack Obama in seiner Rede zur Lage der Union 2013 angekündigt wurde, schlug in Brasilien ein wie eine Bombe. Der Außenminister Antonio Patriota lies verlauten, Brasilien würde die Entwicklungen mit äußerster Aufmerksamkeit verfolgen. Es würde alles getan, damit das Land sich nicht unvorteilhaft positioniere. Die düstere Stimmung wurde indes von den Wirtschaftskommentatoren beschrieben. Einige befürchteten die Erschaffung einer Wirtschafts-NATO, die durch ihre schiere Größe allen anderen Nationen technische Standards aufdrängen werde. Andere kritisierten die eigene Regierung, diese hätte sich viel zu lange hinter protektionistischen Maßnahmen versteckt. Zudem sei die eigene Freihandelszone, der Mercosul, festgefahren und würde nur noch wenig Innovatives hergeben, ja sogar Brasiliens Position in der Welt behindern. Die akutesten Sorgen haben jedoch die Wirtschaftsverbände, wie der nationalen Industrieverband CNI. Diese befürchten, Brasilien könne wichtige Marktanteile verlieren, und drängen die Regierung umgehend zu agieren.

Brasilien hatte sich in den letzten Jahren in der recht komfortablen Position des neuen Erfolgslandes mit einem unglaublichen Zuwachs an internationalem Interesse wiedergefunden. Das neue Prestige eines Landes, das bis dahin höchstens als eines unter vielen Schwelleländern wahrgenommen wurde, führt bis heute zu einer Ambivalenz in der Rhetorik der Brasilianer. Einerseits möchte man als gleichwertiger Partner behandelt werden und empfindet den Anspruch eines Sitzes im Weltsicherheitsrat als absolut legitim. Andererseits, jedoch, werden Forderungen der traditionellen Wirtschaftsmächte nach mehr Verantwortung Brasiliens für die internationale Sicherheit oder der Umweltpolitik oft als absurde Zumutung abgetan, da der Westen noch eine historische Schuld gegenüber der ehemaligen portugiesischen Kolonie abzuarbeiten habe, bis Brasilien auf dem gleichen Entwicklungsniveau angekommen sei. Erste Schritte zu einer Annäherung der beiden Positionen wurden jedoch bereits gegangen und so übernahm Brasilien beispielsweise die Leitung der momentan größten UN-Mission weltweit im Kongo (DRC). In diesem Sinne könnte auch der Schrecken durch das Freihandelsabkommen heilende Wirkung zeigen, sofern es das Land tatsächlich wachzurütteln und zu mehr Eigeninitiative und Teilnahme am Welthandel zu bewegen vermag.

Die Rolle Brasiliens in Zukunft

Trotz wenig positiver Aussichten sollte weder das Potential noch der Stellenwert Brasiliens unterschätzt werden. Brasilien hatte seit Beginn des 21ten Jahrhunderts große Fortschritte in der der Armuts- und Hungerbekämpfung gemacht, Armut und Arbeitslosigkeit sind auf nie dagewesenen niedrige Stände gesunken. Zudem stieg von 2003 bis 2011 das pro Kopf Einkommen um 27%, während im gleichen Zeitraum der Gini-Koeffizient, ein Index der die Ungleichheit misst, von 0,55 auf 0,50 gefallen ist. Diese Entwicklungen verleihen Brasilien zusätzliche Glaubwürdigkeit und damit so genannte Soft Power gegenüber anderen Ländern. Brasiliens politisches Gewicht als beliebtes Aushängeschild der BRICS Gruppe ist heute größer denn je, bedingt durch seine Funktion als informelles Sprachrohr sowohl des Lateinamerikanischen Kontinents als auch der Gruppe der 77, ein loser Zusammenschluss von überwiegend Entwicklungsländern, sowie durch seinen Erfolg in der sogenannten Süd-Süd-Entwicklungskooperation. Nachdem Befürchtungen, die BRICS-Staaten würden die alten Mächte des Westens ersetzen, kaum mehr haltbar sind, sollten vielmehr die Chancen zur Kooperation mit der 40 Prozent der Menschheit umfassenden Gruppe genutzt werden. Brasilien verfügt über immenses Gestaltungspotential innerhalb des internationalen Institutionengefüges, sowohl als direkter Partner, als auch als Brückenkopf zu den Ländern des Südens. Speziell für Europa ist das Land als die viertgrößte Demokratie der Welt und dem Westen nahe stehende Macht, unumgänglich.

Die wirtschaftlichen Aspirationen Brasiliens bleiben jedoch weiterhin hinter den politischen zurück. Brasiliens Wirtschaftsgeschichte bildet eine Aneinanderreihung von ungenutzten Chancen und ein Bild fast lethargischen Abwartens, ruhend auf einem natürlichen Reichtum, der die Notwendigkeit ernsthafter und langfristiger Entwicklungspolitik nie zu einer Überlebensnotwendigkeit gemacht hat. Und dennoch: Als wachsender Markt bietet das Land trotz aller Hürden viele Chancen. Im vergangenen Jahr stieg Brasilien auf den vierten Platz der Länder mit den meisten Direktinvestitionen auf. Das Handelsvolumen zwischen Europa und den BRICS-Staaten übersteigt mit 26,5 Prozent des Gesamthandels der EU bereits den Handel mit der NAFTA, dem Zusammenschluss der USA, Mexiko und Kanada, der für das Jahr 2012 bei 17,4 Prozent lag. Die EU bleibt zudem der wichtigste Handelspartner des Landes. Brasilien, die sechstgrößte Wirtschaft der Welt, ist am Ende doch systemrelevant, too big to fail – einfach zu groß um noch scheitern zu dürfen.

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