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Brasiliens Regierung ringt um Wirtschaftswachstum

von Marc Bürgi

Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff versucht seit Monaten, dem Wirtschaftswachstum Schub zu verleihen.

Bislang haben die vielen Maßnahmen wenig genützt. Brasilien wird dieses Jahr wohl sogar das schwache Wachstum des Vorjahres verfehlen.

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Die neusten Daten sprechen eine klare Sprache: Brasiliens Wirtschaft verliert an Fahrt. Im ersten Quartal wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahresvergleich nur um 0,8 Prozent. Gegenüber dem Schlussquartal 2011 betrug der Zuwachs gar nur 0,2 Prozent. Für das ganze Jahr 2012 stellt das brasilianische Finanzministerium offiziell zwar noch ein Wachstum von 4 Prozent in Aussicht. Daran glaubt in der Wirtschaft aber niemand mehr: Die letzte von der Zentralbank gesammelte Konsensprognose beträgt lediglich 2,53 Prozent – das wäre noch geringer als das Wachstum im vergangenen Jahr (2,7 Prozent).

Brasilien braucht Wachstum

Das sind schlechte Neuigkeiten für die brasilianische Regierung. Wirtschaftswachstum steht zuoberst auf Rousseffs politischer Agenda. Nur mit kräftigem Wachstum lässt sich die soziale Erfolgsgeschichte der letzten zehn Jahre fortsetzen: Gut 10 Millionen Brasilianer haben eine Situation absoluter Armut hinter sich gelassen. Eine Mehrheit der Brasilianer gehört heute zur unteren Mittelschicht (Klasse C ) mit einem Einkommen von durchschnittlich 570 Euro im Monat. „Nur“ ein Viertel ist ärmer. Vor sieben Jahren gehörte jedoch noch die Mehrheit zu den Klassen D und E.

Dilma will diese Klasse C bis zum Jahr 2018 auf 60 Prozent der Bevölkerung verbreitern. Um dies zu bewerkstelligen, muss die Wirtschaft weiterhin stark wachsen. Mit 2,7 Prozent oder noch weniger ist das Ziel nicht zu erreichen. Während der 8-jährigen Präsidentschaft von Dilmas Vorgänger Lula da Silva wuchs die Wirtschaft im Durchschnitt um 4 Prozent. Die schwache Konjunktur könnte zudem die Wahlchancen für Rousseffs Partei bei den Kommunalwahlen schmälern, die im Oktober im ganzen Land stattfinden.

Dilma gibt Gegensteuer

Die Regierung versucht alles Mögliche, um dem Wachstum Auftrieb zu verleihen. Eine erste große Initiative startete sie bereits im letzten August mit dem „Plano Brasil Maior“: Das Maßnahmenpaket für die Industrie umfasst unter anderem Steuererleichterung und mehr Kredite durch die staatliche Förderbank BNDES. Bei gewissen öffentlichen Investitionen erhalten brasilianische Anbieter den Vorzug, selbst wenn sie bis zu einem Viertel mehr verlangen als die ausländische Konkurrenz. Später weitete Dilma den Plan noch aus. Nun profitieren beispielsweise auch Sektoren wie die Pharmaindustrie von der staatlichen Hilfe.

Im Januar beschloss die Regierung, den nationalen Mindestlohn um 14 Prozent anzuheben. Im Frühling folgte dann ein Bündel von Maßnahmen, um die Brasilianer zum Konsum anzuregen, mit beispielsweise tieferen Steuern auf neue Autos brasilianischer Produktion und günstigeren Raten für Privatkredite. Hinzu kamen protektionistische Entscheide: So erhöhte die Regierung die Steuern auf importierte Autos und erschwerte die Einfuhr von Konsumgütern. Laut der Zeitung „O Estado de São Paulo“ hat Dilmas Regierung seit Beginn der Finanzkrise 2008 40 protektionistische Maßnahmen eingeführt oder in Auftrag gegeben.

Zinsniveau auf Rekordtief

Auch die brasilianische Zentralbank ist seit Monaten bemüht, die Wirtschaft zu stimulieren – obwohl dies de jure nicht zu ihren Aufgaben gehört. Sieben Mal in Folge senkte die Banco Central den Leitzins “SELIC“ auf ein jetzt historisch tiefes Niveau von 8,5 Prozent. Experten rechnen mit weiteren Senkungen im Juli und August.

Die Zentralbank hat Spielraum, denn die Inflation ist im Moment für brasilianische Verhältnisse tief. Im Mai betrug die Jahresrate knapp 5 Prozent. Die Banco Central strebt für das Gesamtjahr eine Teuerungsrate von 4,5 Prozent an, und toleriert als Obergrenze 6,5 Prozent.

Sauerstoff für Exporteure

Die Banco Central intervenierte auch mehrere Male auf dem Währungsmarkt. Sie verkaufte Dollar auf dem Futur-Markt, um die brasilianische Währung zum Dollar abzuwerten. Der tiefere Leitzins und die Devisengeschäfte der Zentralbank zeigen Wirkung: Der Real verliert seit Monaten an Wert, im Mai sank der Kurs gegenüber dem Dollar um 5,79 Prozent. Im Moment ist der Dollar für gut zwei Real erhältlich.

Brasilien war bislang für ausländische Anleger sehr attraktiv, die vom hohen Zinsniveau und der guten Konjunktur profitieren wollten. Der Geldstrom aus dem Ausland wertete allerdings die Währung auf. Der nun gesenkte Kurs sollte der brasilianischen Exportindustrie helfen. Exporteure klagen schon seit längerem über die Aufwertung des Real. Präsidentin Dilma schob die Schuld den hochentwickelten Ländern zu. Sie argumentierte, dass die expansive Geldpolitik dieser Länder den Kurs des Real in die Höhe getrieben habe. Die riesigen Summen, mit denen Länder wie die USA auf die Finanzkrise reagierten, schufen einen „finanziellen Tsunami“, kritisierte Dilma im Mai. Dies gefährde das Wachstum aufstrebender Länder wie Brasilien.

Grundlegende Probleme

Ob die brasilianische Industrie nun dank des günstigeren Real einen Schub erhält, wird sich noch zeigen müssen. In der Statistik zum ersten Quartal ist jedenfalls noch kein großer Effekt zu erkennen. Die verarbeitende Industrie schrumpfte im Jahresvergleich um 2,6 Prozent.

Ein zu teurer Real ist sicher nicht das einzige Problem der brasilianischen Produzenten. Die strukturellen Mängel sind bekannt: Kostentreiber wie hohe Steuern und teure Energie, die Bürokratie, der Mangel an qualifizierten Mitarbeitern und die unzureichende Infrastruktur. Seit einiger Zeit ist von der „Deindustrialisierung“ Brasiliens die Rede. Ob die Industrie wirklich in der Krise steckt, ist umstritten. Die strukturellen Mängel sind aber sicherlich ein Hemmschuh für die Produzenten.

Eine Kennzahl spiegelt einige der strukturellen Probleme Brasiliens wieder: Die Höhe der Investitionen. Im ersten Quartal 2012betrug der Anteil der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt 18,7 Prozent. Zum Vergleich: In China beträgt diese Quote rund 50 Prozent, in Indien rund 30 Prozent.

In der „Doing Business“-Rangliste der Weltbank belegt unter 183 Ländern Brasilien dieses Jahr Platz 126 – 6 Plätze weiter unten als noch letztes Jahr. Von den BRICS-Staaten schneidet nur Indien schlechter ab. Bei keinem der Kriterien ist Brasilien vorne dabei: Bei „Steuern“ liegt Brasilien auf Rang Nummer 150, bei den Vorgaben für Firmengründer auf Rang 120 und bei Baugenehmigungen auf 127.

Riskante Strategie

Die aktuelle Wirtschaftpolitik der Regierung schafft Risiken. Im Fokus von Dilma liegt der Privatkonsum. Dieser Entscheid ist naheliegend, denn die Ausgaben der Brasilianerinnen und Brasilianer machen fast zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. Der Anteil ist fast so hoch wie in den USA. Der Konsum stützt seit langer Zeit die Brasilianische Wirtschaft – seit achteinhalb Jahren steigt der Privatkonsum ununterbrochen. Auch im ersten Quartal 2012 bot er einen Lichtblick in der Statistik: Konsumentinnen und Konsumenten erhöhten ihre Ausgaben im Jahresvergleich um 2,6 Prozent.

Allerdings gibt es Anzeichen, dass viele Leute ihre Güter auf Kredit erwerben: 14,1 Millionen Familien stehen mit als 30 Prozent ihres Monatseinkommens im Soll, wie eine aktuelle Studie der Beratungsfirma MB Associados auf Basis von offiziellen Daten zeigt. Dies entspricht fast einem Viertel aller Familien in Brasilien. Die Personen gehören mehrheitlich zur unteren Mittelklasse (Klasse C) und den ärmeren Schichten (D und E). Gemäß der Studie nimmt die Klasse C vor allem Kredite auf, um ein Auto zu finanzieren.

Im Durchschnitt betragen die Schulden brasilianischer Familien demnach 26,2 Prozent des Monatseinkommens. Das nun tiefere Zinsniveau könnte helfen, die Schuldenlast vieler Familien zu lindern. Die Frage ist allerdings, in welchem Maße die Banken die günstigeren Konditionen an die Kunden weitergeben.

Stockende Staatsaufträge

Den Konsum zu stimulieren, ist zwar naheliegend. Ein noch direkteres Instrument, die Wirtschaft zu stützen, wäre der Staatskonsum. Es existieren auch zahlreiche Großprojekte, beispielsweise im Straßenbau oder im Luftverkehr. Dilma Rousseff hat das „Programa de Aceleração do Crescimento“ (PAC) der Regierung Lula verlängert. Das Programm hat vor allem zum Ziel, die Infrastruktur Brasiliens zu verbessern und ist für die Periode 2011 bis 2014 mit 955 Milliarden Reais dotiert. Die Regierung verfolge eine anti-zyklische Investitionspolitik, betonte Präsidentin Rousseff Mitte Juni.

Viele Vorhaben kommen wegen langer Verfahren allerdings nur schleppend voran. Wird das Programm „Minha Casa Minha Vida” (MCMV) nicht mitgezählt, investierte der Staat in den ersten vier Monaten 2012 nominal 3,4 Prozent weniger als in der Vorjahrsperiode. Im Gegensatz zur Regierung zählen viele Ökonomen das MCMV – ein Programm für den sozialen Wohnungsbau – nicht zu den staatlichen Investitionen.

Problematisch sind schließlich auch die protektionistischen Entscheide der Regierung. Gemäß einer Erhebung der UNO, der WTO und der OECD hat kein anderes Land seit Anfang des Jahres so viele Handelsbarrieren errichtet wie Brasilien. Dies könnte das Land langfristig weniger attraktiv für ausländische Investitionen machen und auch Gegenmaßnahmen anderer Länder provozieren.

Harte Strafen gegen ausländische Firmen

Für einen Sektor ist die Situation besonders heikel – die Ölförderung. Die riesigen Vorkommen vor der brasilianischen Küste, das so genannte Pré-Sal , bieten enorme wirtschaftliche Chancen für Brasilien. Um das Erdöl rund fünf Kilometer unter dem Meeresgrund zu erschließen, sind riesige Investitionen und ausländisches Know-how erforderlich. Brasilien macht ausländischen Firmen allerdings hohe Vorgaben: Bis zu 65 Prozent der Ausrüstung muss aus Brasilien stammen. Für Sorgenfalten bei potentiellen Investoren sorgt zudem der Prozess gegen die US-amerikanischen Firmen Chevron und Transocean. Wegen eines glimpflich verlaufenen Öllecks vor der brasilianischen Küste sind die Firmen mit einer Schadenersatzklage von 20 Milliarden Real konfrontiert. Gegen 17 Mitarbeiter läuft zudem ein Strafverfahren.

Dennoch ist Brasilien für ausländische Investoren weiterhin durchaus attraktiv. Im letzten Jahr floss die Rekordsumme von 65,5 Milliarden US-Dollar nach Brasilien. Nur drei Länder erhielten laut der UNCTAD mehr ausländische Direktinvestitionen. Werden internationale Firmenübernahmen ausgeklammert und nur neue Projekte betrachtet, belegte Brasilien Platz zwei hinter China. Für dieses Jahr rechnet die Banco Central mit Direktinvestitionen in Höhe von rund 50 Milliarden US-Dollar – ähnlich viel wie im Jahr 2010 (48,4 Milliarden US-Dollar).

Teurer Import für deutsche Automobile

Zu den wichtigsten Investoren gehören deutsche Gesellschaften: Im Jahr 2010 war Deutschland gemäß der Banco Central siebtwichtigster Investor mit Direktinvestitionen von kumuliert gut 30 Milliarden US-Dollar.

Noch bedeutender ist die Handelsbeziehung: Deutschland ist für Brasilien das viertwichtigste Herkunftsland für Güter und Dienstleistungen. Die Importe beliefen sich im letzten Jahr auf rund 15,2 Milliarden US-Dollar. In den letzten beiden Jahren stiegen die Importe aus Deutschland um über 27 beziehungsweise gut 21 Prozent. Im laufenden Jahr erhöhten sich die Einfuhren von Januar bis April um 3,3 Prozent. Zudem ist Deutschland Brasiliens fünftgrößter Exportmarkt (2011: rund 9 Milliarden US-Dollar).

Namentlich für die deutsche Auto- und Lastwagenindustrie ist Brasilien interessant. Volkswagen gehört zu den führenden Automarken. MAN und Mercedes haben eine starke Stellung im Markt für Nutzfahrzeuge. Sie spüren allerdings, wie andere Hersteller auch, den Effekt der schwachen Konjunktur. Die sinkende Nachfrage veranlasste Mercedes im April, 1.500 brasilianische Mitarbeiter vorübergehend freizustellen.

Für internationale PKW- und LKW-Hersteller mit eigener Produktion in Brasilien sind die Aussichten aber nicht schlecht, denn die vielen Konjunkturspritzen der Regierung dürften ihre Geschäfte beleben. Anders sieht es für Autohersteller ohne lokale Produktion aus, denn die Regierung hat die Importsteuern für PKW kräftig erhöht. Sowohl Mercedes als auch BMW fertigen keine PKW in Brasilien. Laut der Agentur Bloomberg sind die Verkäufe von BMW im ersten Quartal 2012 im Jahresvergleich um 30 Prozent geschrumpft. Das Unternehmen hat wegen der Steuererhöhung das Projekt, in Brasilien Autos zu fertigen, auf Eis gelegt.

Die Ausbildung ist oft ungenügend

Nach den wirtschaftlich erfolgreichen letzten Jahren hat die Charakterisierung „Brasilien, ein Land der Zukunft“ ihre Aussagekraft leicht verloren. In einigen Teilen ist Brasilien nicht mehr das Land der ungenutzten Potenziale. In anderen Bereichen jedoch sehr wohl. Was die Rohstoffe angeht, hat Brasilien große Fortschritte gemacht. Das Land hat begonnen, seine riesigen Möglichkeiten für den Export zu nutzen. Anders sieht es bei einem der anderen großen Potenziale aus: Die Brasilianerinnen und Brasilianer. Das öffentliche Bildungswesen ist nicht so gut, wie es sein sollte. Viele junge Brasilianerinnen und Brasilianer erhalten eine ungenügende Ausbildung und verpassen dadurch die Chance auf eine gutbezahlte Arbeit und einen sozialen Aufstieg. Unternehmen wiederum haben Probleme, qualifizierte Mitarbeiter zu finden.

In der PISA-Bildungsstudie der OECD von 2009 klassierte sich Brasilien auf Platz 53 von insgesamt 65 Ländern. Die Platzierung Brasiliens basiert auf Durchschnittswerten. Die Qualitätsunterschiede innerhalb des brasilianischen Bildungswesens sind jedoch groß, weshalb in vielen Regionen das Niveau der Bildung weit unter diesem Schnitt liegt. Brasilien investiert 5,1 Prozent des BIP in das Bildungswesen (im Jahr 2010, inklusive Bundesstaaten und Kommunen). 0,8 Prozentpunkte davon gingen an die höhere Bildung. Längerfristig soll der Wert insgesamt 7 Prozent erreichen.

Es braucht eine neue Wachstumsformel

Die wirtschaftlichen Erfolge Brasiliens der letzten Jahre sind beachtlich – die Politik hat die Inflation gebändigt und eine stabile Wirtschaftspolitik verfolgt. Brasilien hat Großbritannien überholt und ist zur weltweit sechstgrößten Volkswirtschaft geworden. Die hohen Wachstumsraten sind aber auch Folge des Rohstoffhungers Asiens. China ist zum wichtigsten Abnehmer brasilianischer Produkte und Rohstoffe geworden.

Langfristig kann sich Brasilien nicht nur auf seine Rohstoffe und den großen Inlandsmarkt verlassen. Das Land braucht eine moderne, diversifizierte und konkurrenzfähige Wirtschaft. Dafür muss Brasilien bessere Anreize für Auslandsinvestitionen schaffen und seine strukturellen Probleme lindern, angefangen mit der Bildung.

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